Familienleben in Deutschland – ein großes Desaster? Der Eindruck drängt sich auf, denn mittlerweile ist das Katastrophenszenario die beliebteste Stilform, wenn hierzulande über Familien berichtet wird. Angst bestimmt die Sicht auf unsere Kinder. Sie sind zu dick oder zu dumm, vernachlässigt oder verhätschelt. Ein Teil dämmert willenlos vor dem Fernseher dahin, ein anderer trainiert am Computer seine Gewaltgelüste. Wer sich in der Hauptschule nicht aufgegeben hat, kämpft im Gymnasium mit Dauerstress und G8-bedingter Überforderung. Fast täglich verbreiten die Medien die Botschaft: Um den deutschen Nachwuchs steht es schlimm und um sein Verhältnis zu den Eltern auch nicht viel besser.
Die Bestseller zum Thema Kinder und Familie haben schon seit einigen Jahren denselben Tenor. Mit starken Worten und scheinbar zwingenden Beispielen beschwören sie »Erziehungskatastrophen« und warnen vor »Despoten« in Kinderzimmern und Klassenräumen. Als dröhnendster Notstandsreporter profiliert sich zurzeit Michael Winterhoff. Sein Buch Warum unsere Kinder Tyrannen werden steht seit Monaten auf den Bestsellerlisten. Kaum eine Zeitung, in dem der Bonner Psychiater nicht seine Thesen verbreiten durfte, in der Regel unwidersprochen.
Laut Winterhoff sind die meisten Kinder in Deutschland gestört, in ihren körperlichen Fähigkeiten, ihrer sprachlichen Entwicklung, ihrem Sozialverhalten. Sie bewegten sich kaum noch, ihr schulisches Leistungsniveau sinke. Als Verursacher der Defekte macht Winterhoff Lehrer, Erzieher, aber vor allem die Eltern aus. Weil sie Konflikte scheuten und keine Grenzen mehr setzten, verhinderten sie, dass die Kinder altersgerecht heranreiften. Bei 70 Prozent entdeckt der Autor gar pathologische Züge. Wenn diese Kinder – Winterhoff nennt sie »Monster« – erwachsen würden, bedrohten sie »die Existenz unserer friedlich zusammenlebenden Gesellschaft«.
Stichhaltige Belege für seine starken Thesen sucht man in dem Buch vergeblich. Stattdessen erzählt der Kinderpsychiater »tiefenpsychologisch orientiert« Geschichten: von Niklas, der nicht still sitzen kann, oder von Philipp, der seine Hausaufgaben nicht vorzeigen will. Außerdem verweist er auf Gespräche mit dem einen oder anderen Lehrer, »Szenen aus einem Weblog« sowie die »aufmerksame Lektüre großer Zeitungen und Magazine«. Daraus destilliert er die Erkenntnis, dass selbst in einem normalen deutschen Gymnasium »ein geregeltes Unterrichtsgespräch nicht mehr möglich« sei. Noch schlimmer sieht es laut Winterhoff in den Familien aus. Selbst Fünfjährige weigerten sich heute, »jeden Auftrag der Mutter gern und gleich zu erfüllen«, zum Beispiel ohne Murren den Mittagstisch zu decken.
Michael Winterhoff ist nur der Lauteste, aber keineswegs der Einzige, der solche Einsichten verbreitet. Mittlerweile nimmt der pädagogische Pessimismus die Form einer neuen Kinderfeindlichkeit an; und der öffentliche Diskurs über Familien hat geradezu eine verhütende Wirkung. Wenn die Elternschaft zu einem Experiment wird, das nur misslingen kann, sollte sich niemand wundern, dass junge Erwachsene sich schwer damit tun, Kinder zu bekommen.
Doch ist die Familie tatsächlich eine vom Zerfall geplagte Krisenregion, eine Art failed state im Kleinen? Leben Kinder und Jugendliche heutzutage in einem permanenten Bedrohungszustand – oder bedrohen sie selbst gar die Gesellschaft? Befragt man Wissenschaftler – Gesundheitsexperten, Soziologen, Pädagogen –, dann zeigt sich ein anderes Bild. Zwar gibt es Kinder in Not, doch leben sie nur selten in unseren Reihenhaussiedlungen und Gymnasien. Viele Eltern haben gute Gründe, sich große Sorgen zu machen – nur sind das in der Regel nicht jene Mütter und Väter, die Erziehungsratgeber verschlingen und Elternschulungen besuchen. Die Verlierer finden sich am unteren Rand der Gesellschaft. Für den großen Rest gilt das Gegenteil. Zu keiner anderen Zeit ging es der Mehrzahl der Kinder in diesem Land so gut wie heute, widmeten sich Eltern so intensiv ihrem Nachwuchs, lebten die Generationen so harmonisch zusammen wie im Jahr 2008. Vergleicht man die Lebensumstände von Familien mit denen von vor zwanzig oder fünfzig Jahren, so hat sich enorm viel verbessert.
Kinder von heute sind gesünder. Auch wenn neue »Kinderkrankheiten« wie Allergien oder Neurodermitis zunehmen – 90 Prozent der Kinder haben einen guten oder sehr guten Gesundheitszustand. Das ergab die KIGGS-Untersuchung des Robert-Koch-Instituts, die größte Erhebung zur Gesundheit des deutschen Nachwuchses. Dank Impfungen, regelmäßiger Voruntersuchungen und des allgemeinen medizinischen Fortschritts lassen sich typische Kinderkrankheiten vermeiden oder besser behandeln. Die Kindersterblichkeit ist stetig gesunken. Ob psychische Krankheiten tatsächlich zugenommen haben, ist ungewiss. Zwar sind die Praxen von Ergotherapeuten oder Logopäden voll; das könnte jedoch vor allem daran liegen, dass Sprachdefizite oder Wahrnehmungsstörungen heute besser diagnostiziert und früher behandelt werden. »Der öffentliche Diskurs macht unsere Kinder kränker, als sie sind«, sagt Studienleiterin Bärbel-Maria Kurth.
Kommentare
Ein großes Danke für diesen Artikel!
Das war mal nötig.
Nach diesem Artikel möchte ich Vater werden!
Kommentarfunktionen werden zwar nur seltenst für ein Lob an den Autor benutzt, aber ich finde auch, dass dieser Artikel gut und zur richtigen Zeit gekommen ist.
Ich würde sogar behaupten, dass sich das Phänomen der Schwarzmalerei nicht nur auf Kinder bezieht, sondern fast alle Gesellschaftsbereiche betrifft. Ich bin zwar zu jung, um andere Zeiten miterlebt zu haben, aber ich bezweifel stark, dass "früher alles besser war" und wir in einer nicht-lebenswerten Gesellschaft leben (was die meisten negativen Artikel im Prinzip implizieren)! Unser Gesellschaft und den Menschen geht es in echt ziemlich gut! Nur das Gefühl, dass es irgendwie besser sein sollte, scheint manche Zeitgenossen glauben zu lassen, morgen ginge die Welt unter. Ich lasse mich zwar gerne belehren, aber zu welchem Zeitpunkt der Geschichte ging es unserer Gesellschaft (und damit den Kindern) besser als heute?
Ein sehr vereinfachende Sichtweise auf das Thema:
hier die funktionierende heile Welt, in der es den Kindern an kaum etwas mangelt. Dort die böse Unterschicht, die alles falsch macht. So ist es nicht! Die Grenzen sind fließend, das Vorkommen und die Verteilung von Problemen in Familien vielfältig. Fakt ist: vielen Familien fällt es immer schwerer, ihren Kindern noch gerecht zu werden. Obwohl viele Eltern es besser wissen und auch wollen, ihre Möglichkeiten werden nicht selten immer mehr eingeschränkt.
Dies liegt eindeutig daran, dass Familien über keine wirksame Lobby verfügen und nicht selten Fehler der Politk ausbaden dürfen (z.B. Experimente in der Schulpolitik, im Steuersystem und im Gesundheitssystem).
Die Belastung von Familien sollte verringert und überforderte Eltern sollten angemessen systematisch unterstützt werden.
Relativ
Eine 5-köpfige Familie erhält ca. 2000 Euro an SGB II Leistung, ohne das die Eltern auch nur einen Tag gearbeitet haben. Zudem verursachen diese enorme Kosten in der Helferindustrie, weil sie ganze Heere an Soziologen auf Trab halten. Ein Alleinstehender muß hierfür ein Bruttoentgelt in Höhe von 3.500 Euro erwirtschaften, um diese Summe netto zu haben. Jeder, der die Privatwirtschaft etwas kennt, weiß welche Leistung hierfür erbracht werden muss.
Sie haben vollkommen Recht
werden sich aber mit diesem Artikel keinen Beifall erheischen denn solche Meinung ist heute P I Life is complicated, think small.
irreführend richtig
Der Autor hat recht - und verkennt doch die Probleme.
Richtig: die Probleme kumulieren am "unteren Rand", während die Mittelschicht sich für ihre Kinder mehr oder weniger zerreißt. Doch gerade deshalb sind die Probleme gewachsen und wachsen weiterhin. Weil der "untere" Rand selbst wächst.
Wie heißt es im Artikel? "Dort gibt es tatsächlich Neuntklässler, die laut Pisa-Test gerade einmal auf Grundschulniveau lesen und rechnen können". Tatsächlich, die gibt es fast ausschließlich "dort". Aber nicht etwa vereinzelt - laut PISA gehört jeder vierte männliche Jugendliche dazu. Ein weiteres kleines Schlaglicht: heute haben 20% der Kinder 80% der Karies. Schlechte Angewohnheiten wie etwa das Rauchen mutieren zum fast reinen Hauptschulphänomen. Und so weiter.
Irreführend ist es auch, wenn es heißt, daß heute "nicht mehr" Kinder in solchen Verhältnissen leben als vor 20 oder 30 Jahren. Jede Jugendhilfestelle weiß, daß nicht die Zahl der Klienten zugenommen hat, desto mehr aber die Intensität ihrer Probleme. Es ist heute weitaus anstrengender, 100 Familien zu betreuen, als noch vor 30 Jahren.
Und was die Zahl anbelangt: eine gleichbleibende Zahl an Kindern aus schlechten sozialen Verhältnissen ist in Wahrheit ein Alarmzeichen. Denn die Kinderzahlen insgesamt sind um ca. 40% gesunken. Wenn die Zahl der Problemkandidaten dennoch gleichbleibt, dann heißt das nichts anderes, als daß ein immer größerer Teil eines Jahrganges aus Familien des "unteren Randes" stammt. Die Geburtenrate ist dort deutlich höher als in der oberen Mittelschicht, und die Mütter sind viel jünger - dh. die Reproduktion geht deutlich schneller.
Mit anderen Worten: wir haben dramatisch zu wenig Nachwuchs in den Mittelschichten. Dieser Nachwuchs wird fehlen, wenn es gilt, den wachsenden Berg an Transferbedürftigen - neben der wachsenden Unterschicht auch die wachsende Zahl von Alten - zu versorgen.
Der Kindermangel in den Mittelschichten ist nicht naturgegeben, sondern die logische Folge eines extrem elternfeindlichen Abgabensystems. Denn dieses bestraft Elternschaft gerade dort, wo die Gesellschaft Kinder bräuchte, im brutaler Art und Weise, während sie Kinderarmut nach Kräften von den Folgen ihrer Kinderarmut abschirmt. Daß gerade am "unteren Rand" umgekehrt starke Anreize gesetzt werden, Kinder in die Welt zu setzen - etwa beim Elterngeld-Sockelbetrag oder bei der gesamten HartzIV-KOnstruktion, von Alleinerziehendenzuschlag bis Bargeldleistungen - sei nur am Rande vermerkt.