Den Anstoß, mich intensiver mit der Bild-Zeitung auseinanderzusetzen, gab mir Heinrich Bölls Erzählung Die verlorene Ehre der Katharina Blum. In der Vorbemerkung seines 1974 erschienenen Buches schreibt Böll, mit dem mich eine enge Freundschaft verband: »Personen und Handlung dieser Erzählung sind frei erfunden. Sollten sich bei der Schilderung gewisser journalistischer Praktiken Ähnlichkeiten mit den Praktiken der Bild- Zeitung ergeben haben, so sind diese Ähnlichkeiten weder beabsichtigt noch zufällig, sondern unvermeidlich.«
Ich arbeitete Anfang 1977 an einem Dokumentarfilm über die Bild-Zeitung, über ihre Methoden, ihre politischen und gesellschaftlichen Intentionen und ihre Opfer. Ehemalige Beschäftigte gaben mir dabei wichtige Informationen. Einer von ihnen brachte mich auf die Idee, ich solle doch versuchen, undercover bei Bild anzuheuern, er höre in der hannoverschen Redaktion auf und könne mich dort als Nachfolger vorschlagen.
Ich besorgte mir eine Krawatte in den Farben Schwarz-Rot-Gold, mein Kameramann borgte mir seinen Siegelring mit Adelswappen, und ich log mir eine passende Vita zurecht. Der Hannoveraner Redaktionsleiter fragte nicht viel nach Zeugnissen und Vorkenntnissen. Als ich ihm sagte, ich sei Leutnant der Reserve in psychologischer Kriegsführung, bekam er leuchtende Augen und meinte beeindruckt: »Sie sind unser Mann.«
Er brauchte einen, der beißen wollte. So wurde ich im Frühjahr 1977 Der Mann, der bei ›Bild‹ Hans Esser war.
Die viermonatige Recherche wurde die größte Schmutzrolle meines Lebens
Von psychologischer Kriegsführung verstand ich nichts, ich war Kriegsdienstverweigerer. Allerdings hatte ich die vertrauliche Springer-Studie zur Bild-Zeitung gelesen, die sogenannte Psychoanalyse der Bild-Zeitung. Da ging es auch um Psychologie, um die psychologische Systematisierung medialer Demagogie, um einen Psychokrieg gegen die eigenen Leser, die »Primitivos«, so Chefredakteur Peter Boenisch, gegen das »dumme Volk«:
»Es ist wichtig, dass die Instanz Bild zwei Wesenszüge vereint: männliche Autorität und Durchsetzungskraft einerseits, mütterliche Fürsorge und mütterliches Verständnis andererseits. Die Zeitung übernimmt damit in gewissen Bereichen eine ›Elternrolle‹: man beugt sich nicht nur einer festen Autorität, sondern findet eine verständnisvolle Instanz, der man sich unbesorgt anvertrauen kann. Bild ist Berichterstatter und Richter zugleich.«
Die viermonatige Recherche im Frühjahr und Sommer 1977 war für mich die größte Schmutzrolle meines Lebens. Schon nach wenigen Wochen konnte ich nachvollziehen, warum sich mein Kollege und späterer Freund, der mich in Hannover »eingeschleust« hatte, zum Krankenpfleger umschulen ließ und in der Psychiatrie abarbeitete, was er als Hypothek eines Bild-Schreibers gegenüber der Gesellschaft empfand.
Meine damalige Begleiterin und spätere Frau stöhnte immer häufiger, wenn ich jede Begegnung, jedes Ereignis danach befragte, ob es für eine Bild-Geschichte taugte: »Typisch Esser. Wenn das der Wallraff wüsste.«
Wenn ich mich an den Terror erinnere, der im Hannoveraner Bild-Großraumbüro zum Alltag gehörte, wo sich jeder von uns vor dem Redaktionsleiter duckte, dann kommt mir das heute fast unwirklich vor. Es war ein Zustand permanenter Überhitztheit, die nicht nur Folge des Termindrucks und der besonderen argumentativen Verbiegungen war, mit denen wir die eigenen Lügen in diesen Artikeln als notwendige »Zuspitzungen« oder »Pointierungen« vor uns selbst rechtfertigten. Es war eine Hitze, die von der Angst vor der Peitsche des Cholerikers und von der Peitsche selbst herrührte, die über jedem von uns plötzlich knallen konnte. Zu ihrer Verteidigung sagten die Springer-Leute damals, Henri Nannen sei auch nicht besser. Macht es das akzeptabler?
Es war bei Bild Prinzip, was beim stern womöglich ein Charakterdefizit war: »Ein Mittel, um provozierte Ängste und daraus sich ergebende Aggressionen zu verarbeiten, ist die aggressive Haltung, die Bild an den Tag legt. Einfluss und Macht der Zeitung, Mut und Entschlossenheit, die teilweise als rücksichtslos und brutal erlebte Härte und Durchschlagskraft, geben dem Leser die Möglichkeit, sich mit diesem überlegenen Angreifer zu identifizieren, in Bild die Realisierung dessen zu erleben, was ihm selbst immer unmöglich sein wird zu verwirklichen« (aus der Springer-internen Analyse der Bild-Zeitung).
Kommentare
Lüge mit System
Dagegen hilft nur eins: Es darf sich für sich eine "Zeitung" nicht mehr lohnen, Lügen zu erzählen. D.h. nach diversen Falschdarstellungen wird einfach geschätzt, um wie viel sich der Umsatz durch solche Sensationsstorys erhöht hat und das zieht man als Strafe ein. 70-80% des Umsatzes sollten dann als Geldbuße bei Falschdarstellungen genügen, nehme ich an.
Solange sich solcher Journalismus aber auszahlt, wird sich nichts ändern.
Zustimmung...
... unverständlich warum das bisher nicht passiert ist. Wahrscheinlich haben die Politiker zuviel Angst vor'm Springerkonzern, zu dem ja leider nicht nur die BI*D zählt.
Nach wie vor fühlen sie sich genötigt auf Vorwürfe diverser Boulevardblätter zu reagieren, ungeachtet ihrer gar nicht so hohen Verbreitung und der Durchschaubarkeit mancher Angriffe. Auch auf den Springer-Feiern und Bällen treibt sich die Politprominenz gern herum.
Ewiges Gedenken an die SCHILL-Kampagne
Dies ist die Geschichte, wie "Bild" den umstrittenen Hamburger Amtsrichter Ronald Schill zum Hoffnungsträger hochschrieb, der mit seiner Partei bei der Bürgerschaftswahl 2001 schließlich fast 20 Prozent der Stimmen bekam.
http://www.bildblog.de/ri...
Man darf gespannt sein, welchen irren Kokser die Springerpresse als nächsten zum "Hoffnungsträger" erklärt.
Die Arbeit von Wallraff war relativ erfolgreich, aber leider nicht so erfolgreich, dass sich seither allzu viel verändert hätte. Und die gesamte Presselandschaft macht den Bückling, indem sie BLÖD fortwährend zitiert, als ob es sich hierbei um ein seriöses Medium handeln würde.
Wallraff Pionier des Enthüllungs-Journalismus
Herr Wallraff hat mit viel Courage Licht ins Dunkel der Macher gebracht. Wie bei der klassischen Spionage sind dabei aber wohl so manche Mittel und Motive unweigerlich auch anzweifelbar.
Traurig, dass es nicht allein schon durch bloßes Lesen der BILD für jedermann, auch ohne Hintergrundrecherche, sofort durch den Ton allein klar wird, welche trivialen Ziele diese Presse verfolgt.
Traurig, dass heute wieder junge Journalisten-Schüler die BILD mit dem Argument, da werde noch richtig recherchiert und nicht abgeschrieben, wie bei den anderen, verteidigen und dahingehend richtig liegen, dass Bild stets zuerst berichtet.
Traurig, dass Headline-Journalismus wieder/immer noch total en vogue ist und das allgegenwärtige Wort "Krise" auch von den seriöseren Blättern gerne als Ersatz für den "Alarm"-Buzzer der BILD dient.
Traurig, dass die Angst um weiteren Auflagenverlust die Übernahme von journalistischen BILD-Methoden fördert.
Traurig, dass Herausgeber und Chefredakteure etablierter Blätter persistent und unverhehlt Meinungsmache für ihre verkrusteten politischen Organisationen betreiben.
Traurig, dass die Leser ihre eigene Meinung oft um Quanten intelligenter argumentieren als die Verfasser der publizierten Beiträge, auf die sie bezogen sind.
Schön, dass trotz teils heftiger und teilweise unsachlicher Kritik gegen veröffentlichte journalistische Beiträge wenigstens der ZEIT-Leser ein breites Forum bekommt!
Das gibt es nur bei BILD?
Hämische Berichterstattung, tendenziöse Artikel, die bewusst Argumente unterschlagen, um eine Zuspitzung zu erzielen - das gibt es natürlich nur bei BILD :)
Sehr glaubwürdig, wenn so ein Artikel bei der Konkurrenz kommt ...
Ich bin sicher, würde sich heute jemand in die Redaktion der Zeit, der Süddeutschen etc. einschleusen, würde man Verdrehungen und eine politische Tendenz ebenfalls aufzeigen können - nur eben in eine andere Richtung als bei der Bild damals ...
Ein weiser Kommentar
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