Die Anekdote, wie ihr Eckzahn abbrach, hat Carmen Ledesma oft erzählt. Eine Lücke kam für sie nicht infrage, ein Zahnarztbesuch auch nicht. Die Unternehmerin mit dem perfekt geföhnten aschblonden Pagenkopf betreibt seit 15 Jahren den Schönheitssalon Parisien im New Yorker Stadtteil Queens, beschäftigt zwölf Mitarbeiter und hat kürzlich eine Kosmetikschule eröffnet. Doch eine Krankenversicherung kann sie nicht bezahlen, weder für sich noch für ihre Beschäftigten. "So bin ich in mein Nagelstudio gegangen und habe das herausgebrochene Stück selbst wieder angeklebt", erzählt sie.
Weniger glimpflich ging ein Kollaps ab, der Ledesma für kurze Zeit in die Klinik brachte. Diese verzichtete zwar auf einen Großteil der Rechnung, trotzdem brauchte Ledesma drei Jahre, um sie abzustottern. Sie hat Angst: "Wenn ich wirklich krank werde, muss ich den Betrieb dichtmachen."
Wie Ledesma leiden Millionen Amerikaner seit Jahren unter dem außer Kontrolle geratenen US-Gesundheitssystem. Das Versprechen, es zu reformieren, hat entscheidend zum Wahlerfolg von Barack Obama beigetragen. Doch nun ist sein Plan heftig umstritten. In jüngsten Umfragen sprachen sich rund 40 Prozent der Befragten gegen die Reform aus, bei Bürgertreffen kam es zu Schlägereien. Dabei gibt es noch nicht einmal einen unterschriftsreifen Gesetzesentwurf. Der Präsident hat selbst nur Eckpunkte vorgegeben, an den Details arbeitet der Kongress.
Zu Obamas Ideen, an denen sich der heftigste Streit entzündet hat, gehört vor allem die public option . Das ist eine Art staatlicher Mindestkrankenversicherung, die all jene auffangen soll, die sich eine reguläre Krankenversicherung nicht leisten können. Die Mehrheit der über 46 Millionen US-Bürger ohne Absicherung soll damit in das Gesundheitssystem integriert werden. Zugleich will der Präsident einen Versicherungszwang einführen. Wer keine Police hat oder als Unternehmen keine Police für die Mitarbeiter anbietet, soll künftig eine Strafe zahlen.
Um die Prämien für die Versicherung bezahlbar zu machen, ist eine Unterstützung aus der Staatskasse vorgesehen. Zudem will Obama die Versicherer verpflichten, auch Ältere und Kranke aufzunehmen sowie einen festgelegten Mindestschutz zu gewähren. Nach Schätzungen der Regierung würde die Neuerung über die nächsten zehn Jahre fast eine Billion Dollar kosten.
Vielen Amerikanern kommen da heftige Zweifel. "Die Ausbrüche bei den Bürgertreffen wurden nicht allein von politischen Gegnern angestiftet", sagt Gail Wilensky, ehemals Leiterin der staatlichen Gesundheitsversorgung Medicare. "Die Leute haben so viele Krisen zu verkraften, sie haben Häuser, Jobs und Ersparnisse verloren, während sie gleichzeitig sehen, wie Abermilliarden vom Staat für Banken, Konjunkturpakete, Autohersteller und Abwrackprämien ausgegeben werden." Keine westliche Industrienation hat zudem in jüngster Zeit eine so umfassende Überholung ihres Gesundheitssystems versucht. "Das macht den Menschen Angst", sagt Wilensky.
Kommentare
ernste Frage
"Was glauben Sie, wie die reagiert, wenn ich ihr vorschlage, künftig statt 60 Dollar pro Stunde nur noch 20 Dollar zu verdienen?"
Soll das ein Scherz sein??? Die verdienen doch sicher nicht mal 30 Dollar im Monat oder??
dazu muss man wissen...
... dass die amerikanischen Krankenschwestern für ihren Beruf ein ziemlich teures Studium absolvieren und von der Qualifikation deutlich näher an Ärzten als an deutschen Schwestern anzusiedeln sind.
Die meisten Arbeiten die eine deutsche Schwester erledigt werden dort von unqualifizierten Hilfspflegern vorgenommen.
Eine Oberschester rangiert also durchaus auf Augenhöhe mit den Ärzten.
$850/Monat? Kostenbremse!
Ich glaube, der wichtigste Punkt in der Reform der US-Krankenversicherung ist, die völlig ausufernden Kosten in den Griff zu kriegen. Da geht es sicher nicht nur um den Stundenlohn einer Chefschwester. Da geht es vor allem um eine Branche, die meint, man könne dauerhaft zweistellige Wachstumsraten erzielen, während der Rest der Wirtschaft heftig in die Rezession rauscht.
Im Ansatz könnten die USA von unserem System lernen.
Die Amerikaner sind nicht kränker als unsere Bürger, müssen aber doppelt soviel für die Behandlung bezahlen.
Die Gesundheitsdienstleister in den USA verdienen also wohl sehr, sehr gut. Dieser Zustand müßte sich dort ändern.
Arbeitgeber und Arbeitnehmer sollten künftig jeweils 8% für die Gesundheit aufwenden, womit ein Grundversorgung finanziert werden könnte. Zusatzdienstleistungen wären dann Privatsache. Auch die Unternehmer können Zusatzprämien bezahlen - keine Frage.
Bei so gearteten Rahmenbedingungen werden natürlich viele Krankenhäuser und Ärzte zumachen müssen. Keine Frage. Ohne Opfer ist dort kein Neuanfang möglich. Aber schludern lassen kann man den Zustand auch nicht.
Mangelnde Solidarität
Die Bevölkerung der USA bildet keine Solidargemeinschaft. Niemand möchte für andere bezahlen. Alle Bevölkerungsgruppen leben nebeneinander her. Solange es voraussichtlich andere betrifft, hat die Mehrheit auch nichts gegen ein Justizsystem, das versehentlich Unschuldige tötet (wie erst dieser Tage wieder demoskopisch ermittelt) -- oder eben gegen ein medizinisches System, das "Mitbürger" unversorgt läßt und in seiner Gnadenlosigkeit eher in die Dritte Welt paßt. Wie ja überhaupt weite Teile der USA Dritte Welt sind, inklusive permanenten Bürgerkriegs in den "Ghettos". Muß man ja nicht hingehen.
Schade nur, daß die Darwinisten von der FDP, vom rechten Flügel der CDU und offenbar auch der SPD dieses System so Klasse finden, daß sie auch bei uns willentlich ganze Bevölkerungsgruppen in die Tonne treten, nur damit die ganz oben noch ein paar Milliarden mehr haben, die sie nicht brauchen.
Das ist klar.
Wer die Freiheit für das Höchste hält, muss sich aufs Sterben einrichten. Keine Frage.