Manchmal wissen Menschen etwas, ohne sich dessen bewusst zu sein: mit einer Art Einsicht, die sich im Grunde des Herzens breitmacht, aber noch nicht an die Oberfläche des Verstandes gelangt. Dann klammern sie sich an das, was ist, und geben der aus der Tiefe heraufdrängenden Erkenntnis auf der Handlungsebene keinen Raum – vielleicht aus Furcht vor Veränderung.
Als die Gräfin Marion Dönhoff 1941 mit ihrer Cousine Sissi von Lehndorff fünf Tage lang durch Masuren galoppierte, hat sie – obwohl sie erst dreieinhalb Jahre später ihre Flucht gen Westen würde antreten müssen – bereits tief drinnen gewusst, dass die Heimat für sie verloren war. Der fünftägige Wanderritt führte die beiden jungen Frauen zwischen dem 27. September und dem 1. Oktober an die 200 Kilometer durch die Stille Ostpreußens – von der Stadt Allenstein (nahe dem Dönhoffschen Gut Quittainen) nach Steinort, zum herrlich gelegenen Schloss der Familie Lehndorff.
Und die Frau auf dem massiven Braunen, Marion Dönhoff, hat diese Reise in einem Tagebuch dokumentiert, hat alle Eindrücke, alle Gedanken notiert, beschrieben die Pracht der unberührten Natur, die Farben der Pflanzen, die Spiegelungen des Lichts, das Schnauben der Pferde, das Trommeln der Hufe auf dem Sandboden Südmasurens. Es muss eine schweigende Landfahrt gewesen sein, jedenfalls hat die Chronik kein einziges Gespräch zwischen den Reiterinnen festgehalten. Dafür jede Begegnung am Wege, jeden atemberaubenden Anblick – in die Seele aufgesogen voll Wehmut und Andacht, so wie man den letzten Worten eines Sterbenden mit besonderer Hingabe lauscht, weil man weiß: Es wird bald nichts mehr kommen, nur noch Stille.
Im Osten und Westen fielen die Soldaten, in der Hauptstadt herrschte ein grausamer Diktator mit seinen Höflingen, im besetzten Polen wurden die ersten Vernichtungslager gebaut. Und in diesem von Schande, Tod und Schmerz bedeckten Deutschland lag Masuren, ein sonniges Stück Natur mit seinen bis an den Horizont reichenden Wiesen, den nicht enden wollenden Wäldern, den Seen und Mooren. Ostpreußen im Herbst 1941, durchdrungen noch nicht vom Donner der Geschütze, sondern vom Brunftgeschrei der Hirsche, überflogen nicht von Kampffliegerstaffeln, sondern bloß von Kranichen in Formation. Es muss ein Ritt in die Entrückung gewesen sein, ein ahnungsvolles Abschreiten des Paradieses vor der Vertreibung. Und die Tagebuchnotizen der Gräfin wurden zur masurischen Elegie.
Ja, dies ist die Zeit des Reifens und der Vollendung und zugleich die Zeit des Abschiednehmens. Wie oft hat man in diesem Sommer Abschied genommen. Wie jung waren sie alle, Vettern, Brüder, Freunde – so vieles bleibt nun unerfüllt, ungetan. Die Natur ist barmherziger: Sie gibt einen langen Sommer zum Reifen und schenkt die Fülle, ehe sie Stück um Stück und Blatt für Blatt wieder zurücknimmt.
Ich muß an die letzte Konfirmation in Quittainen denken. Da standen acht Mädchen in weißen Kleidern und sechs Jungen im ersten blauen Anzug. Ich sah sie nur durch einen Schleier, denn mir wurde plötzlich ganz klar, daß keiner dieser Jungen noch einmal vor diesem Altar stehen würde und daß es das Los der meisten dieser kleinen Mädchen sein werde, allein zu bleiben. Seither nimmt man eigentlich immerfort Abschied, nicht nur von Menschen – von allem, was man liebt: den Wegen, die wir oft geritten sind, den Bäumen, unter denen wir als Kinder spielten, der Landschaft mit ihren Farben, Gerüchen, Erinnerungen.
Auf den Tag genau 68 Jahre später, vom 27. September bis zum 1. Oktober 2009, reiten auch wir durch Masuren, um uns zu erinnern. Noch einmal machen wir uns auf den Weg der Marion Dönhoff – von Allenstein nach Steinort. Kein Abschiedsritt durch ein untergehendes Reich ist das diesmal, sondern ein 200 Kilometer langer Geburtstagsritt durch das alte Ostpreußen der Gräfin – und gleichzeitig durch das moderne Polen.
Kommentare
Unvergessenes Preussen
Hierzu wäre für manchen Leser ein von Michael Stuermer im letzten Jahr veröffentlichter Artikel interessant. Nicht nur Chronisten kommen beim Lesen die Tränen. Der Autor konzentriert sich auf historische Fakten der frühen Anfänge bis zum tragischen Untergang der preußischen Provinzen, und das Erstaunliche, ohne die übliche Schuldzuweisung: "Ihr habt die Hand zum Hitlergruß gehoben, das habt ihr verdient, den Verlust Eurer Heimat, Kultur und Geschichte, den grausamen Tod in den vereisten Gewässern des baltischen Meeres." Es ist ein kleiner Schritt in der aufklärenden Richtung des seit Jahrzehnten andauernden Heilungsprozesses eines trauernden Volkes.
In ihrem Band NAMEN, DIE KEINER MEHR NENNT (Ostpreussen - Menschen und Geschichte) erinnert Gräfin Dönhoff an das Land, das seit dem Deutschen Orden im hohen Mittelalter eine eigene Kultur und Sprache hatte. An einer anderen Stelle schreibt sie: "Wenn ich die Augen aufmache, sehe ich den blauen Himmel und davor die weissen Stämme der jungen Birken. Von Zeit zu Zeit löst sich ein Blatt und fällt leise zur Erde. Mir kommen die Hofmannsthalschen Verse in den Sinn: 'Wenn in der lauen Sommerabendfeier durch goldene Luft ein Blatt herabgeschwebt, hat dich mein Wehen angeschauert, das traumhaft um die reifen Dinge webt'. Ja, dies ist die Zeit des Reifens und der Vollendung und zugleich die Zeit des Abschiednehmens.
http://www.welt.de/wams_p...
Heimat Preußen
hiermit möchte ich Frau Gudula Behm, heute Bürgerin der USA,
für ihr großes Engagement herzlich danken.
Besser, als ich es kann, sollen deshalb ihre Worte stehen:
" Es ist traurig, daß in Deutschland seit Ende des 2. Weltkrieges jahrzehntelang die irrige Meinung einer deutschen Kollektivschuld an den Vergehen während der Hitlerzeit vorherrschte, schlimmer als in Übersee. "Die Deutschen sind Täter und keine Opfer!", so ähnlich die Parole. Der Mensch wirft doch seine fundamentalen moralischen Werte, die ihm in die Wiege gelegt werden, die ihm seine Vorfahren vorgelebt haben und auf deren Grundlage er selber lebt, nicht mir-nichts-dir-nichts für 12 Jahre in den Müll, um sie danach wieder herauszufischen. Wir können und müssen in dieser neuen, offenen, hoffnungsvollen Welt alle friedlich miteinander leben; dabei ist aber auf allen Seiten die Grundlage der Wahrhaftigkeit unerläßlich."
Ich habe diesen Worten nur noch hinzuzufügen. Ich finde es mehr als bemerkenswert, dass eine Autorin, welche seit jahrzehnten in den USA lebt, die deutsche Sprache so beherrscht, dass jeder deutsche Journalist eigentlich den Hut ziehen müßte. Ich hoffe sehr, dass die Autorin mir die Veröffentlichung ihrer eigentlich privaten E-Mail, nachsieht.
Was die Frage Preußen betrifft. Dazu habe ich in mehreren
Beiträgen und Kommentaren Stellung bezogen.
Es bleibt die Heimat. Daran kann niemand und nirgends etwas
ändern.
Lieps
Werter Herr Liebs,
was spricht gegen die These, "Die Deutschen sind Täter und keine Opfer!" Weil -unter uns- hätte es deutsche Opfer ohne vorherige Täterschaft der Deutschen gegeben. Nun mögen Sie den Begriff "der Deutschen" anzweifeln, weil er alle einschließt... Für diesen Fall, Gegenfrage: wo war sie denn, die Massenerhebung gegen Hitler, ein 17. Juni oder ein 1989?
Werter Herr Pausenfüller
ich bin gegen eine Schuldaufrechnung, weiß genau was die Nazis
im Namen Deutschlands angerichtet haben.
Bedenken Sie aber bitte, dass es polnische Repressalien gegen die deutsche Zivilbevölkerung bereits vor dem 01.September 1939 gegeben hat. Warum sind denn wohl so viele Deutsche vor Kriegsausbruch aus Polen geflüchtet? Es hat Fälle gegeben, dass Bauern deutscher Nationalität erschossen worden sind, nur weil sie sich gegen den Raub ihres Viehs gewährt haben.
Es ist absolut falsch alle Deutschen als Täter zu bezeichnen.
Was konnten die vielen umgekommenen Kinder dafür. Waren sie auch Täter?
Haben sie jemals in einer Diktatur gelebt? Die des Proletariats oder der Nazis? Dann dürften Sie wohl wissen, wie schwer eine Massenerhebung ist.
Lieps
Herr Liebs,
können wir es dabei bewenden lassen?
http://www.bundestag.de/k...
?
Ähnlich auch:
http://www.auswaertiges-a...
Frdl. Gruß
Pf.
Manifest der Bischöfe
Feierliche Beteuerungen sind nur dann glaubhaft und ernst zu nehmen, wenn ihnen entsprechende Taten folgen. Leider ist das auf polnischer Seite noch nicht so. Ein Beispiel, vielleicht von vielen, ist der Fall Sarnowa (Rawicz-Sarnowa). Nach verläßlichen Zeugenaussagen soll dort eine ungenaue Zahl deutscher Bürger nach Kriegsende unberechtigt und geheim hingerichtet worden sein. Warum, glauben Sie, sperrt man sich in Polen überall, angefangen bei den entsprechenden Stadtoffiziellen über die katholische Kirche, Versöhnungsorganisationen, das IPN bis hin zu Herrn Kardinal Glemp mit fadenscheinigen Ausflüchten gegen jedwede Untersuchung und Klärung der mutmaßlichen Erschießungen? In dem hier verlinkten Manifest wiederholen die Bischöfe Worte, die sie bereits 1965 zum Ausdruck gebracht haben: "Wir vergeben und bitten um Vergebung." In Fällen wie Sarnowa (Sarne) müssen aber zunächst Untersuchung, Klärung und eine mögliche Bekennung zur Schuld stattfinden ehe man von Vergebung sprechen kann. Warum ist man in Polen im Gegensatz zu Deutschland noch immer nicht gewillt nachweisbare an Deutschen verübte Verbrechen aufzuarbeiten?
Wiedergefunden
Ein Gedicht meines Freundes Dr. Wolfgang Köpp.
Wiedergefunden
Nur von fern ein Gedanke,
nur verdämmernd ein Bild,
nur Erinnnerung, zaghaft,
verschwommen.
Ein Dorf nur, ein Eichbaum,
die Zeit so wild –
was macht mir mein Herz
so beklommen?
Ein Brief aus dem Osten
auf polnisch verfaßt,
zerknittert und kaum zu lesen.
Ein Junge schrieb mir
In fremder Schrift
auf einem einzigen
dünnen Blatt:
ich sei doch im Dorf
jüngst gewesen.
Der Junge aus Pommern,
so alt wie einst ich,
er hat mich
vor Wochen begleitet -
und hat, anfangs schüchtern,
dann munterer - mich
durch mein Heimatdorf
geleitet.
Das war erst so fremd,
lag so abweisend da.
Wir schienen uns
nicht mehr zu kennen.
Denn was Harmelsdorf
immer gewesen,
das hieß nun plötzlich
„Rutwica“.
Ich hab es mit Schmerzen
gelesen.
Da kam dieser Junge,
bot mir leise den Tag.
Ich verstand –
und ging mit ihm die Straßen.
Auch wenn ich’s schwer
zu deuten vermag,
so konnt‘ ich die Heimat
erfassen.
Kaum scheele Blicke,
manch freundlicher Gruß,
der Duft der Kartoffelfelder.
Der See –so bekannt,
mir stockte der Fuß –
und rings
die schweigenden Wälder.
Das Herz plötzlich weit,
tief atmend die Brust,
die vorher
noch so beklommen.
Und ich suchte -
und fand -
und entdeckte die Lust,
in die Heimat
zurückzukommen.
Wie schmerzlich vermißt,
erst wenn es verlor’n,
ein Gut so kostbar uns dünkt,
daß die Wehmut
und Trauer,
aufs Neue gebor’n,
ins stumme Bewußtsein
dringt.
Doch nicht drohend
geklagt!
Nicht greinend
verzagt!
Nicht laut!
Nicht still
ergeben!
Den Blick
Hoch erhoben -
und deutlich gesagt:
Die Heimat bleibt
In uns leben!
Wolfgang Köpp