Läge unsere Stadt am Meer, sagen die Stuttgarter, sie könnte sich mit Lissabon und San Francisco messen. Die Stadt ist ein hügeliges Zusammenspiel von Wald und Weinbergen, und wenn man auf der Höhe steht und hinabblickt, hält man Ausschau nach einem Gewässer, das die Hügel umspült. Stuttgart ist eine Stadt, die vom Meer träumt. Jedoch, was in ihren Tiefen rauscht, ist bloß ein infernalischer Verkehr.
Derzeit allerdings kommt die Stadt ihrem Traum näher: Es rauscht und brodelt in ihr. Menschenströme ziehen unablässig durch die Straßen, Stuttgart war vielleicht noch nie so lebendig, so offen wie jetzt.
Stuttgart ist zu einer Stadt mit Gezeiten geworden: Es gibt Ebbe (Alltag), und es gibt Flut (Demonstrationen). Die Fluten mehren sich. Und immer um 19 Uhr öffnen sich in den Häusern auf Halbhöhenlage die Fenster, und die Bewohner machen Krawall, eine Minute lang, mit Vuvuzelas, Trillerpfeifen, Kochtöpfen: Sie demonstrieren gegen das Bauprojekt Stuttgart 21 und gegen ihre Regierung. Dass Stuttgart wie eine Arena geformt ist, nutzen seine Bürger für einen gespenstischen Effekt: Sie bringen die Stadt zum Dröhnen, als wäre sie ein Fußballstadion, dessen Besucher gerade begriffen haben, dass das Spiel manipuliert und ihre Mannschaft verkauft worden ist.
Was ist bloß geschehen? Wieso revoltiert das Bürgertum? Wir fahren nach Obertürkheim. Dort, am Fuße der Weinberge, lebt ein bedeutendes Stuttgarter Professorenpaar, Hannelore und Heinz Schlaffer, Literaturwissenschaftler von Rang und einig in ihrer Ablehnung des Projekts S21.
Heinz Schlaffer sagt: "Die Stuttgarter Bevölkerung ist unentwegt beschäftigt mit der Abwehr von Begehrlichkeiten derer, die sie gewählt haben. Es ist paradox: Sie wählen Leute, denen allein die Ökonomie am Herzen liegt. Und mit denen sind sie jetzt nicht mehr einverstanden." Und Hannelore Schlaffer: "Stuttgart hat den schlechtesten Ruf von allen Großstädten; es gilt als spießig, zwanghaft ordentlich, langweilig. Aber Stuttgart hat das beste Theaterpublikum in Deutschland. Diese bildungsbürgerliche Regsamkeit setzt sich jetzt um in stadtpolitisches Interesse; die Bürger sind nicht zu beschwindeln mit Blendwerk. Und der Bahnhof 21 ist Blendwerk – wie ein absolutistisches Schloss."
Dass Stuttgart eine Stadt der Ingenieure sei, denen das Sprechen nicht gegeben ist, da sie ja die Zahlen haben, wird oft gesagt. Und die Regierenden, sagt Heinz Schlaffer, gehörten dem Typus der Ingenieure an: "Sie kennen das schwere Gewicht der Dinge – das scheint ihnen die Sprache zu ersetzen." Nun prallt das Ingenieurwesen auf das, so Hannelore Schlaffer, "aktive, todernste Bildungsbürgertum dieser Stadt". Wer wird diesen Zusammenprall überstehen?
Es könnte sein, sagt Heinz Schlaffer, dass wie bei der Rechtschreibreform das Falsche durchgezogen werde, denn wer nachgebe, gelte als schwacher Charakter. Dann würde sich Stuttgart als die deutsche Zukunftsstadt erweisen, als jene, welche ausschließlich von Wirtschaftsinteressen regiert werde. Stuttgart sei dabei, der Gegenpol zu Berlin zu werden; in Berlin sei keine Wirtschaft, aber das gute Leben; in Stuttgart könne es genau umgekehrt werden.
Aber Moment! Die Planer von Stuttgart21 sagen ausdrücklich, es gehe ihnen ums gute Leben, denn hinter dem tiefergelegten Bahnhof werde ein neues Stadtzentrum, ein neues Stuttgart entstehen.
Kommentare
Der Zustand dieser ...
Republik manifestiert sich in diesem Beispiel.
Lebenswerte
Wenn, wie im Kommentar 7, Stuttgart mit Megastädten konkurrieren soll, wird sie so menschenverachtend und abstoßend wie genau diese Stahlbetonschluchten, in denen ein Menschenleben nichts wert ist und nur der schnelle Profit zählt. Gut, dass es kluge Menschen gibt, die sich mit Herzblut dafür einsetzen, dass unsere Stadt für die Menschen und für ein tolerantes Miteinander aller Kulturen erhalten wird. Dieser Zeit-Artikel will genau das vor Augen führen - der unbedingte Wille der Protestbewegung, Stuttgart nicht der Profitgier preiszugeben.
Emotionen
es berührt mich Emotional und es hat mich dazu bewegt sich auf der Zeit-Kommentar Seite
anzumelden. Ist es naiv, gibt es noch eine Demokratie in diesen Zeiten von -vorlaufenden Wandel
und Dynamik in der wir etwas Stoppen und verändern können? Ich liebe dieses Land, der Vielfältigkeit
von Landschaften und Menschen. Zuhause ist dort, wo sich Mündigkeit und Geborgenheit vereinen.
Gerne mehr davon.
Zurueck in die Zukunft??
Ich bin vom Bodensee kommender Schwabe, lebe aber seit mehreren Jahren in China. Ich kann ueber den Widerstand gegen Stuttgart 21 nur den Kopf schuetteln. Da waere endlich einmal eine Gelegenheit den Rueckstand gegenueber Asien im Infrastrukturbereich zumindest ansatzweise aufzuholen. Schauen Sie sich doch nur mal die Entwicklung in China an! Shanghai und Hong Kong sind ja heute schon moderner als die meisten deutschen Staedte! Wenn sich die Deutschen nicht mal zusammenreissen und ihr Land modernisieren und effizienter gestalten, dann ist irgendwann der Zug abgefahren... egal ob vom Kopf- oder Durchgangsbahnhof.
Ich moechte gerne in Zukunft wieder in Deutschland leben und Stuttgart waere dabei meine erste Wahl. Wenn ich aber ins Nachbarstaedtchen Ulm eine ganze Stunde mit dem ICE brauche und zum Flughafen zwei Mal umsteigen muss, dann wird die Stadt doch schon deutlich unattraktiver fuer mich.
Ich bin fuer Stuttgart 21 und hoffe, dass der Protest, den ich als irrationales Resultat der mit der Wirtschaftskrise einhergehenden Existenzaengste (Zeitarbeit in Stuttgart!) sehe, sich nicht durchsetzt.
Wenn Sie den Rückstand ...
gegenüber China durch den Umbau des Stuttgarter Bahnhofs
kompensieren wollen ...??
Ach sind das alles herzige Demonstranten
Dummerweise ist der Zeit entgangen, mit welchen Halbwahrheiten und Falschaussagen die S21-Gegner hausieren gehen. Die Befürworter werden ja im Gegenzug pauschal als Lügenpack bezeichnet, das ist doch super! Es wird mit quasi-religiösem Fanatismus gekämpft, anders Denkende gnadenlos verunglimpft. Das hat alles mit dem realen Projekt herzlich wenig zu tun.
Ist ja auch nicht ganz einfach für die Stuttgarter...
Wie würden sie es denn nennen, wenn die entscheidenden Informationen erst langsam zusammenrecherchiert werden müssen.
Vergessser statt Lügenpack? Weil sie es ja nur versehentlich vor der Entscheidung vergessen haben zu erwähnen? Kann ja mal passieren, geht ja schließlich nur um Peanuts.
Die Kleinen kommen nie an alle entscheidenden Informationen. Sie sind nicht im Club. Deshalb muss irgendwann gefühlsmäßig und pauschal der Daumen gesenkt werden. Sie kennen doch den uralten Spruch: "Wer einmal lügt..."