Der letzte Vorhang war aus schwerem, schwarzem Stoff, das Publikum musste ihn selber beiseiteziehen. Es sah in ein karg möbliertes Zimmer. Ein Bett, ein Tisch. Auf dem Tisch Tablettenflakons, auf dem Bett der Körper einer Frau. Ihr Kopf war auf der rechten Wange abgelegt, ihre rechte Hand hielt einen Telefonhörer umklammert. Der Körper war nackt und still.
Das Publikum, das sich an diesem 5. August 1962 um drei Uhr früh vor einem Bungalow in Brentwood, California, eingefunden hatte, sah die Todesszene von Marilyn Monroe. Das Publikum bestand aus einer Haushälterin und einem Psychologen. Das Stück, das geboten wurde, war die Tragödie vom Aufstieg und Fall der Norma Jeane Mortenson, vom Aschenputtel zum herrlichsten Glamour-Star aller Zeiten, der Schrecken war furchtbar, von Katharsis keine Spur. Das Drama versprach keine Erlösung, sondern endlose Wiederholung. Die Szene am Fifth Helena Drive in Brentwood war das letzte und zugleich das erste Bild einer Inszenierung, deren Skript seither immer wieder umgeschrieben wird, neu beginnt mit jeder Biografie, jedem Film über die Monroe, den Magazinstrecken wiederentdeckter Fotos, den Spekulationen über ihren Tod, ob es nicht doch Mord war. Nie werden wir es satt, der Story zu lauschen, so wie Kinder nach Märchen verlangen: Noch mal! Und jetzt erst, wo in New York Tagebücher, Briefe, Gedichte von Marilyn Monroe vorgelegt werden, schon wieder Unveröffentlichtes, nie Gesehenes, und erneut diese Woge der Begierde aufbrandet, endlich in das Innerste, Heilige, der Göttin zu blicken!
Man sieht: ein schwarzes Notizbuch, eine Kladde. Briefbögen aus dem Hotel Waldorf Astoria, Gekritzeltes, engzeilig Getipptes, große Buchstaben fließen über kleine Seiten, Tabellen, Unterstrichenes, Ausgestrichenes.
Der englische Titel Fragments trifft es besser als der deutsche Tapfer lieben, der sich in einer sentimentalen Interpretation des Gefundenen versucht. Gefunden wurden Fetzen von Sätzen, Fragmente von Gedanken, Kochrezepte, Einkaufslisten, Memos aus ihren Analysen, Notizen aus dem Schauspielunterricht. Als hätte bei einer nächtlichen Marilyn-Séance der Tisch tüchtig geruckelt – und dann: ihre raue, raspelnde, hauchende Stimme! Ein Flehen. Aufschreie.
"Allein!!!!!!
Ich bin allein – ich bin immer allein
egal was…"
Ist es überhaupt denkbar, dass neues Material über Marilyn Monroe auftaucht? Ausgerechnet im Haus von Lee Strasberg, dem legendären Schauspiellehrer, in dessen Actor Studio in New York Marilyn Monroe Unterricht nahm, dass bei Strasberg, der ihr Mentor war und mit Frau Paula und den Kindern als Familienersatz diente, dass 30 Jahre nach seinem Tod Kisten mit privatesten Aufzeichnungen entdeckt werden? Hätte Strasberg die Papiere sichergestellt, um Monroe zu schützen, hätte er sie dann nicht vernichten müssen? Nun, seine Frau, die dritte, die Monroe gar nicht kannte, aber von ihm den Nachlass erbte, die kluge Anna, hat schon 1999 das hautfarbene Abendkleid, in dem Monroe das Happy Birthday Mr. President hauchte, bei Christie’s für Millionen Dollar versteigern lassen. Big Business, das Monroe-Business. Egal. Was entdeckt man in diesen Fundstücken?
Eine Frau am Rande des Abgrunds. Eine sich selbst infrage stellende, sich hassende, immer vergeblich Liebende. Eine, die sich um Perfektion bemüht. Die für eine Nation, die zum Puritanismus verdammt war, die Sexbombe gibt und dafür verachtet wird. Nichts davon ist neu, alles bekannt, vielfach bezeugt, genau wie die unstillbare Sehnsucht ihrer Fans nach diesem glitzernden Star-Körper, der weißpudrigen Haut, den butterweichen, milde nachgebenden Rundungen, schon immer, schrieb die Kulturhistorikerin Elisabeth Bronfen über die Diva, genießen wir in dem glamourösen Körper vorausschauend die schöne Leiche.
Kommentare
"ganz normal" schwer traumatisiert
Dass Marilyn Monroe ein ungewolltes, abgeschobeens Kind war, wurde ja im beitrag erwähnt. Ich möchte ergänzend darauf hinweisen, dass sie auch als Kind von einem Pflegevater sexuell missbraucht wurde. Sie erlitt insofern wohl mehrfache, verschiedene Formen von Gewalt und Vernachlässigung bzw. machte verschiedene traumatische Erfahrungen. Eine Todessehnsucht ist in der Folge solcher Erlebnisse im Grunde "ganz normal" und bei unzähligen Menschen zu finden, die ähnliches als Kind durchmachten (was nicht wenige sind). Ein Teil ihre Erfolges mag darin liegen, dass diese unzähligen Menschen spürten, dass sie es mit einer Leidensgenossin zu tun hatten.
Lieber Autor
in der deutschen Satzlehre wird wirklich immer noch die Ellipse (das Auslassungszeichen) erst dann direkt an das Wort gesetzt, wenn von diesem ein Wortteil ausgelassen wird. Steht die Ellipse als Auslassungszeichen für ein Satzteil oder als Gedankenfortführung, dann bitte mit einem geschützten Leerzeichen setzen.
Also:
Ich bin allein – ich bin immer allein
egal was …«
[…] Der Mund macht mich noch trauriger, zu meinen toten Augen ...«
Echt, das sind sonst eben Rechtschreibfehler im Text. ;-)
großartiger Artikel!
Liebe Frau Mayer,
ich möchte Ihnen vielmals für diesen unfassbar gut geschriebenen Artikel danken! Lange habe ich nicht mehr eine solche Dichte, Qualität und Stimmigkeit in einem so kurzen Text gefunden. Was sie über die Fragments geschrieben haben, hat mich sehr berührt. Die ZEIT sticht wieder einmal heraus.
Grüße,
Pascal
Marilyn Monroe wurde zu Lebzeiten immer als Dummchen
hingestellt. Es gab niemanden, der sie öffentlich verteidigte.
Als ihr Ehemann Arthur Miller, von dem man damals erwartete dass er ihr "was beibringen sollte oder würde" sich nach kurzer Ehe trennte, wurde es noch schlimmer.
Auch andere Frauen wurden als dumm hingestellt, aber am schlimmsten traf es sie.
Noch heute heißt es von schönen Frauen, die müssen ja dumm sein.
Wenn eine Frau schön ist, kann sie ja keine inneren Werte haben. Schöne Frauen sind nie intelligent.
Das ist es, unter dem sie sehr litt.
Nicht nur sie.