Dieses Werk ist kein Justizschmöker – obwohl es darin um die Auslegung von Gesetzen geht, wie in den Romanen des Bestsellerautors John Grisham. Ebenso wenig verheißt es schlaflose Nächte, wie die Bücher des Briten Ken Follett. Im Gegenteil, dieses Opus geht als Einschlafhilfe durch, und das, obwohl es eine der spannendsten aktuellen Fragen der Biowissenschaften zum Gegenstand hat: Wie wollen wir es als Individuen und als Gesellschaft in Zukunft mit dem heiklen Wissen um unsere genetischen Schwächen halten?
"Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention" heißt die Stellungnahme, welche die Nationale Akademie der Wissenschaften am 10. November in Berlin vorgestellt hat. Die Kompetenz von gleich drei wissenschaftlichen Spitzenvereinigungen war eingeflossen. Also sollte der Bürger auf den 92 Seiten zu Recht Argumente etwa zur aktuellen Debatte um frühe Gentests bei künstlichen Befruchtungen, die sogenannte Präimplantationsdiagnostik (PID), erwarten. Doch weit gefehlt. Es geht zwar um alle möglichen Formen von Gendiagnostik, aber nicht um die PID…
Das Werk ist ein Abriss der genetischen Grundlagen der Gesundheit, der Reihenuntersuchungen, der Risikobewertungen von Gendefekten am Beispiel des erblichen Darmkrebses, ebenso der gesundheitsökonomischen Betrachtungen und von Teilen des Gendiagnostikgesetzes. Wenn aber die Präimplantationsdiagnostik ein früher Gentest ist und die Stellungnahme das Gendiagnostikgesetz zum Gegenstand hat, fragt sich der Leser, warum fehlt sie dann hier? Die verblüffende Antwort: Weil die PID nicht im Gendiagnostikgesetz behandelt wird. Das Gesetz bezieht sich nur auf die Diagnostik in der Schwangerschaft oder nach der Geburt. Im Labor erschaffene und untersuchte Zellhaufen sind nicht Gegenstand des Regelwerkes. Warum dann nicht zum Beispiel fordern, dass die PID ins Gendiagnostikgesetz kommt?
Hätte man sich mit der PID beschäftigt, erklärt Peter Propping, Vorsitzender der Expertengruppe, wäre es um Fragen gegangen wie: Ab wann ist ein Embryo ein Mensch? "In dem Moment, wo Sie an solche Wertefragen kommen, dauert die Sache sehr viel länger." Nein, die Experten hielten sich strikt an ihren im Frühjahr letzten Jahres formulierten Auftrag, sich der "prädiktiven genetischen Diagnostik" zu widmen. Zumindest reagierten die Gutachter auf das nach zehn Jahren parlamentarischer Diskussion in diesem Februar in Kraft getretene Gendiagnostikgesetz.
Die Wissenschaftler fordern in manchen Punkten einen weniger restriktiven Kurs. Bisher durfte ein Arzt zum Beispiel nicht ohne ausdrückliche Zustimmung eines Patienten die Angehörigen über erhöhte Erkrankungsrisiken warnen. Die Schweigepflicht stand vor der Fürsorgepflicht. Die Akademiegruppe befürwortet jetzt "in konkreten Fällen" eine Umkehr dieses Grundsatzes.
Es ist eine der wenigen handfesten Forderungen. Ansonsten geht es um komplizierte Abwägungen verschiedener Rechtsgüter. Wie lange sollen zum Beispiel die Ergebnisse eines Gentests aufbewahrt werden? Lieber länger!
Das alles ist schwerer Stoff, der sich nur bereits Eingeweihten erschließt. Schon das Gesetz, sagt Propping, sei so kompliziert, dass selbst Insider immer wieder nachgucken müssten. Aber findet Propping deshalb, man müsse das wichtige Thema einfacher darstellen? Die Sache sei eben komplex, sagt er. Bürger, Lehrer, auch die Ärzte brauchten jetzt Fortbildungen. Der Genetiker ist zuversichtlich, dass die Botschaft durchdringt. "Die Enquete-Kommission zum demografischen Wandel ist zunächst auch nicht ernst genommen worden." Das stimmt. Und es dauerte 20 Jahre, bis das Problem endlich als solches erkannt war.
Kommentare
~ 1204
So komplex ist es auch nicht. Ich habe entsprechende Zusammenhänge schon vor Jahren interessierten Zuhörern erläutert. Kompliziert wird es aber, wenn eine Bewertung einfließt oder sogar erst einfließen soll. Denn an allen Ecken stößt man hierbei auf ethische Grundsatzfragen, die jeder mehr oder weniger anders für sich entscheidet. Schwierig dürfte es daher für die Kommission gewesen sein, einen Text zu formulieren, der die unterschiedlichen Auffassungen reflektiert oder ihnen zumindest nicht grob widerspricht.
Im Punkt Mitteilung mit einer möglichen Umkehr von Schweige- vor Fürsorgepflicht spüre ich wieder meine Besorgnis. Es gibt extrem gute Gründe dafür, weswegen es bislang nicht erlaubt war. Was sich geändert hat, das sind nicht die Gründe oder der Vorgang, wohl aber ein Zeitdenken, das - nicht nur hier - gedankenlos hysterische Ängste beruhigen will, auch auf Kosten immenser Nachteile. Schließlich würde in so einem Fall nicht nur einem Dritten eine (nur womöglich) wertvolle Information gegeben werden, sondern, aufgrund des erkennbaren Weges zur Erlangung dieses Wissens, auch eine gültige Information über den ersten Patienten. Bestenfalls wäre ein Umdenken möglich, wenn der Dritte akut bedroht wäre und das Wissen eine mögliche Hilfe eröffnet (mit der Deutung als unterlassene Hilfeleistung, falls das Wissen nicht frei offeriert wird).
Bürger brauchten Fortbildung? Zunächst sollte man damit beginnen, solche Informationen online erreichbar zu machen. Ein link als Angebot.