Können Hartz-IV-Empfänger vom 1. Januar an deutlich mehr Geld bekommen als bisher? 400 statt 359 Euro im Monat, oder sogar 450 Euro? So könnte es kommen, wenn die Bundesregierung sich nicht rechtzeitig mit der Opposition über neue Hartz-IV-Sätze einig wird , sagt der Berliner Rechtsprofessor Johannes Münder. "Dann hätten wir einen verfassungswidrigen Zustand. Dann gilt Richterrecht." Entscheidend sei dann, was die Richter an den Sozialgerichten im Einzelfall urteilten.
Das Bundesverfassungsgericht hatte im vergangenen Februar erklärt, die Pauschalen, die für knapp sieben Millionen Menschen gelten, seien fehlerhaft und grundgesetzwidrig . In dem Urteil wurde der Gesetzgeber dazu verpflichtet, bis zum Anfang des Jahres 2011 neue, korrekt ermittelte Hartz-IV-Beträge festzulegen, woraufhin die schwarz-gelbe Bundesregierung neue Berechnungen anstellte. Im Ergebnis soll der Pauschalsatz für alleinstehende Hilfsempfänger um fünf Euro steigen, die Kinderregelsätze bleiben unverändert. Das entsprechende Gesetz dafür könnte allerdings am Freitag dieser Woche im Bundesrat scheitern. Dann müsste im Vermittlungsausschuss ein Kompromiss gefunden werden – was Monate dauern kann.
"Die alten Regelsätze sind vom 1. Januar an nicht mehr gültig", sagt Münder. "Wenn dann jemand gegen seinen Bescheid vom Jobcenter klagt, ist das Gericht verpflichtet, sich ein eigenes Bild zu machen." Dazu würde es üblicherweise einen Sachverständigen heranziehen. Je nachdem, zu welchem Ergebnis dieser komme, lege der Richter den für den Kläger angemessenen Betrag fest. "Das entscheidet jeder Richter für jede einzelne Klage. Wir könnten unterschiedlichste Ergebnisse bekommen." Schließlich gebe es verschiedene Berechnungen zum Existenzminimum. Dem Karlsruher Urteil ist dieses extreme Szenario so nicht zu entnehmen. Es sieht vor, dass die bestehenden Sätze bis zu ihrer Neuregelung, die bis zum 31.12.2010 zu erfolgen habe, weiter gelten. Verpasse der Gesetzgeber die geforderte Frist, müssten die dann neu bestimmten Pauschalen rückwirkend zum 1. Januar in Kraft treten. Wie dabei die Sachleistungen behandelt werden könnten, die künftig den Bildungsbedarf der Hartz-IV-Kinder decken sollen, bleibt offen.
Doch selbst wenn der Bundesrat am Freitag überraschend zustimmen sollte oder in den kommenden 14 Tagen noch ein Kompromiss gelänge – rechtliche Probleme drohen auch dann. Einige Sozialexperten und Juristen meinen, dass die Hartz-IV-Pauschalen auch dieses Mal falsch angesetzt wurden.
"Es gibt massive Zweifel, dass diese Beträge, die zum Leben reichen sollen, richtig berechnet wurden", sagt Jürgen Borchert, Richter am Hessischen Landessozialgericht. Er hatte durch einen Fall, den er den Bundesrichtern in Karlsruhe vorlegte, zu dem Urteil im Februar beigetragen. Auch Johannes Münder, der für den Deutschen Sozialgerichtstag ein Gutachten zu dem Thema verfasst hat, sieht Probleme: "Es sind keine so großen Fehler wie bei der ersten Klage, aber es ist eine Kumulation vieler kleiner und mittelschwerer Versäumnisse, die das Ganze infrage stellen."
Nur das Bundesverfassungsgericht kann entscheiden, ob die neuen Sätze gekippt werden
Drei Punkte führen Kritiker besonders häufig an. Erstens: In den vergangenen Jahren wurde die Höhe der Sozialhilfe und der Hartz-IV-Leistungen davon abgeleitet, über wie viel Geld andere Menschen am unteren Rand der Einkommensskala verfügen. Die Gruppe mit den niedrigsten 20 Prozent aller Einkommen galt als Maßstab. Was sie für ihren Lebensunterhalt ausgab, bildete die Referenzgröße für die untersten Sozialleistungen. Bei der Neuberechnung bezog sich die Bundesregierung nun zum Teil aber bloß auf die untersten 15 Prozent der Einkommensverteilung und setzte damit einen niedrigeren Maßstab an. Diesen Schritt, monieren Kritiker, habe der Gesetzgeber nicht hinreichend begründet – auch wenn er einen Entscheidungsspielraum habe.
Zweitens: Bei der Berechnung wird geschaut, wie viel Geld die untersten Einkommensschichten für verschiedene – als notwendig angesehene – Dinge ausgeben. Bei einer Reihe von Ausgabenposten scheint die statistische Basis aber dünn zu sein. So sei bei den Alleinstehenden und ihren Ausgaben für Haushaltsgeräte für 14 von 21 Einzelpositionen in der Statistik keine konkrete Zahl zu finden, sagt Münder. Dafür habe es, wie auch an anderen Stellen der Erhebung, zu wenige Fälle gegeben.
Drittens wird kritisiert, dass aus der Referenzgruppe nicht die verdeckten Armen herausgenommen wurden. Das sind Menschen, die aufgrund ihres niedrigen Einkommens einen Anspruch auf Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld II hätten, ihn aber nicht geltend machen. Karlsruhe forderte, diese Gruppe möglichst herauszurechnen, weil sonst Armut unterhalb des Sozialhilfeniveaus zum Maßstab für die Sozialhilfe würde. Umstritten war bisher, ob sich verdeckte Armut überhaupt zuverlässig erfassen lässt. Bei einer Anhörung zum Gesetzentwurf gaben sich Experten des Statistischen Bundesamtes und des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zuversichtlich, dass dies möglich sei, wenn es gewünscht werde.
Ob diese Punkte ausreichen, um die Neuberechnung ganz oder teilweise zu kippen, kann nur das Bundesverfassungsgericht entscheiden. "Wenn unserem Senat eine Klage gegen die neuen Regelsätze auf den Tisch käme, könnten wir sie innerhalb von zirka sechs Wochen dem Bundesverfassungsgericht vorlegen", sagt Borchert. "Das kann sehr schnell gehen, denn wir kennen die Materie hier ja bereits."
Kommentare
Verstehe ich technisch nicht,
wie will man einen Masstab (20 %) berechnen, wenn der Masstab selbst die Referenzgrösse ist.
Also, wir geben 350 Euro. Dann haben die Ärmsten 350 Euro. Also ist 350 Euro gerechtfertigt. Typischer Zirkelschluss, man muss wohl Politiker oder Jurist sein, um diese Logik zu verstehen.
zu "Verstehe ich technisch nicht"
Um dem Zirkelschluss zuvor zu kommen, werden Transferempfänger natürlich aus der EVS herausgerechnet. Was in der Literatur dann in der Regel zu der Einschätzung führt, dass lediglich arme, alte Menschen zur Schätzunh herangezogen werden. Inwieweit deren Verbrauchsverhalten repräsentativ ist, bleibt dabei fraglich.
Es ist eine Schande
So wie ich das sehe, wird das neue Gesetz, sollte es denn kommen, vermutlich erneut vom BVG gekippt.
Während am unteren Ende der Gesellschaft um jeden Cent gekämpft wird, schaffen es unsere Politiker, die sich ihre Diäten recht gerne und oft erhöhen, nicht einmal mehr, Gesetzte zu schaffen, die sich im Rahmen unserer Verfassung bewegen.
Und dies gilt nicht nur für die Harz4-Gesetzgebung ( ich sagen nur Datenvorratsspeicherung etc.). Wie kann das sein, wo doch angeblich Juristen die größte Gruppe stellen? Und dann wundern sich unsere Damen und Herren aus dem Bundestag und von der Bundesregierung, dass die Bürger den Politikern nicht mehr vertrauen? Ist das denn ein Wunder, bei so viel gesetzgebender Inkompetenz?
Ich hätte folgenden Vorschlag zu machen: Solange unsere Politiker nicht in Lage sind, ordentliche und verfassungskonforme Gesetze zu erlassen (gerade und besonders, wenn es sich Gesetzte handelt, die die Schwächsten der Gesellschaft betreffen), solange werden die Diäten auf Harz4-Niveau herunter geschraubt.
Und noch was: Wie man mit den Schwächsten und Wehrlosesten einer Gesellschaft umgeht, sagt eine Menge über eine Gesellschaft und auch über die Regierung aus (Vorallem Bankstern Millionen-Boni hinterher schmeißt...).
Alles nur Lesen im Kaffeesatz
Ob die Regierung bei der Ermittlung der Hartz4-Sätze Fehler gemacht hat, wird am Ende vielleicht wirklich erst das BVG feststellen. Warten wir es einfach ab.
Meine Feststellung ist: Die Hartz4-Sätze erhöhen sich in der Größenodnung der Renten. Da kann ich keinen Fehler entdecken.
~ 1306
So oder so, einmal wieder wird demonstriert, dass Menschen nicht systemrelevant sind. Während für Banken und Unternehmen sofort Hilfen bereit stehen, werden die Bedürftigsten, solange sie nur als Menschen arm sind, lange Zeit nicht beachtet. Als Existenzminimum werden nicht nur alte Daten heran gezogen, sondern nun hat man ein Jahr lang die Klage des Verfassungsgerichts ignoriert und alles bis ganz zum Schluss ruhen lassen. Vernünftiges Mitgefühl wäre gezeigt worden, wenn man - spätestens! - nach dem Urteil sich sofort an eine Berechnung gemacht hätte. Statt dessen wurde alles auf die lange Bank geschoben, um am Schluss final drohen zu können und so unter Umständen noch länger eine notwendige Anpassung verweigern zu können. Immerhin geht es hier um ein paar Euro, vielleicht sogar zwanzig oder dreißig. Und für Kinder wurden gar 200, allerdings pro Jahr, in den Raum gestellt. Das ist viel, das sind viele Millionen. Allerdings nur auf einen naiven Blick hin. Hoteliers und Atomwirtschaft wurde ein Mehrfaches der Gesamtsumme geschenkt und Ähnliches findet sich bei Gesundheits- und Steuer-"Reform". Wie gesagt, man kann nur zu einem Urteil kommen: Der Politik sind die Menschen egal, wenn sie es nicht selbst sind oder sie zumindest zu ihrer Gruppe gehören.
Könnte ja noch eine erfreuliche Entwicklung nehmen,
die ganze Hartz-Geschichte, aber er graust einem schon jetzt wieder vor den jämmerlichen und giftigen Invektiven der vorgestrigen "Wer arbeiten will und ich kann mir auch nicht alles leisten"-Bildzeitungsnachbeter.