Wie ein vergessenes Bühnenbild steht die Brücke in der Landschaft. Hoch wie eine Kathedrale und fast einen Kilometer lang, überspannt sie das Itztal bei Coburg. Hier sollen einmal ICE-Züge von Erfurt nach Nürnberg rasen, auf einem neuen Abschnitt der Hochgeschwindigkeitsstrecke Berlin–München. Und diese wird sich in die "Eisenbahntransversale" der Europäischen Union einfügen, die irgendwann einmal Skandinavien mit Sizilien verbinden soll.
Jetzt aber stockt der große kontinentale Eisenbahntraum ausgerechnet in der Mitte Deutschlands. Die Bauarbeiten kommen nicht voran. Die Itztalbrücke ist zwar seit fünf Jahren fertig, 18 Millionen Euro hat sie gekostet – aber es fehlen die Anschlussgleise. Wie amputiert steht der Betonkoloss zwischen oberfränkischen Wäldern und Wiesen. Um Kletterer fernzuhalten, hat die Bahn die Betonpfeiler eingezäunt. Bis der erste ICE über die Brücke fahren kann, werden noch Jahre vergehen. Und davor wird die Itztalbrücke womöglich renoviert werden müssen, weil Spannbeton im Lauf der Jahre porös wird. Der Bund der Steuerzahler nahm die Itztalbrücke als Beispiel für öffentliche Geldverschwendung in sein Schwarzbuch auf. Er nennt sie "So-da-Brücke" – weil sie nur so da in der Landschaft steht.
Die neue ICE-Trasse von Thüringen nach Franken markieren mehrere So-da-Brücken. Die größte und älteste feiert in diesem Jahr ihr zehnjähriges So-da-Jubiläum: 2001 wurde die Geratalbrücke Ichtershausen, südlich von Erfurt, fertiggestellt. Sie misst mehr als 1100 Meter, überquert einen Fluss, eine Autobahn und eine Kreisstraße. Mit 25 Millionen Euro kostete sie doppelt so viel wie veranschlagt. Sie hat ebenfalls noch keine Gleise, und es fehlt die Lärmschutzwand. Auch sie wird renoviert werden müssen, bevor der erste ICE anrollt.
Die gigantischen Bauten in Deutschlands Mitte sind vor allem eines: Dokumente eines grandiosen Scheiterns. Das Hochgeschwindigkeitsprojekt Erfurt–Nürnberg sollte ein neuer Beleg deutscher Ingenieurskunst sein, gewaltig, prächtig, effizient. Aber die Arbeiten kommen nicht voran, die Kosten explodieren, die Brücken warten auf Anschluss – vor allem, weil der Bau der vielen Tunnel komplizierter als erwartet ist. Das ICE-Projekt offenbart Absurditäten, die weit über das Winterchaos der Bahn hinausreichen, das die Deutschen gerade aufregt. Sie stellen ein Unternehmen bloß, das gerne ein Global Player wäre, sich aber tief in der Provinz verfahren hat: die Wahn AG, einen deutschen Scheinriesen.
Die Vollendung einer weiteren So-da-Brücke verfolgt derzeit Bernd Kiessling aus Langewiesen bei Ilmenau. Über einer ausgedehnten Wiese, auf der sein Vater früher Kühe weiden ließ, wächst seit vier Jahren die Ilmtalbrücke. In diesem Jahr soll sie fertig werden. Mit 1700 Meter Länge wird sie die längste Brücke der ICE-Strecke sein, auch die längste in ganz Thüringen. Mehr als 29 Millionen Euro soll sie kosten. Und dann so da in der Landschaft stehen.
"Vor der technischen Leistung", sagt Kiessling, Ingenieur von Beruf, "ziehe ich den Hut." Vom Sinn des Vorhabens könne ihn das aber nicht überzeugen. Der Bau der riesigen Brücke ist kompliziert. Vor zwei Jahren forderte er ein Todesopfer: Ein Arbeiter wurde von einer herabfallenden Stahlarmierung erschlagen, drei weitere wurden schwer verletzt.
Für Kiessling verkörpert die neue Brücke nichts anderes als "die Großmannssucht von Politikern". Der 64-Jährige studierte an der Technischen Universität Ilmenau Ingenieurwissenschaften, später lehrte er dort. Nach der Wende machte er sich mit einem Betrieb für technisches Glas selbstständig und beschäftigte 20 Angestellte. Inzwischen hat er die Firma dem Schwiegersohn übergeben. Kiessling ist verbittert, weil seine Familie für den Brückenschlag der Bahn zum zweiten Mal enteignet wurde. Kurz nach der Wiedervereinigung hatte Kiessling die große Weide zurückerhalten, die seine Eltern in der DDR an die landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft abtreten mussten. Wenig später wollte die Bahn sie ihm für 6000 Mark abkaufen. Er habe abgelehnt, sagt Kiessling. Eines Tages habe er dann aus dem Amtsblatt erfahren, dass die Bahn "in die Nutzung" seiner Wiese "eingetreten" sei.
Kommentare
das ist allgemein bekannt
wen wundert da eigentlich der Protest in Stuttgart? Der Unterschied zu den meisten anderen Geldverschwendungsaktionen der Bahn ist doch nur das es dort mitten in der Stadt geplant ist!
Wann schaffen wir endlich den Föderalismus ab?
Ihr Artikel demonstriert nachdrücklich, daß die 16 Kleinstaaten in Deutschland nicht nur ein lästiger Anachronismus, sondern eine echte Gefahr sowohl für die Umwelt als auch für die Wirtschaft sind (selten, daß beider Interessen so gut zusammengegen). Da eine gewisse regionale Gliederung dennoch sinnvoll ist, müßten endlich die Pläne umgesetzt werden, die aus 16 nur noch fünf Bundesländer machen - Nord, Süd, Ost, West und Mitte. Was das allein an Politikergehältern einsparen würde, würde die ganze Hartz-IV-Reform bezahlen - und mit sinnlosen "Regionalplanungen" wäre weitestgehend Schluß. Wo ist der Politiker, der endlich mal dieses heiße Eisen mutig anpackt und seine Kollegen in anständige Arbeit schickt????
Thema völlig verfehlt
Wie ebenfalls im Artikel beschrieben, und auch der Realität entsprechend, möchte immer irgendjemand am Bau verdienen. Umso höher die Kosten, umso höher natürlich die Möglichkeit der "Teilhabe".
Mit den Bundesländern an sich hat dies überhaupt nichts zu tun, sondern einzig mit der politisch/ wirtschaftlichen Ebene. Es gibt Länder auf diesen Planeten welche bei deutlich weniger Einwohnern funktionieren. Schon mal darüber nachgedacht, warum? Oder "partizipieren" in ihren Augen nur die falschen?
Ihr Ansinnen geht daher völlig am Thema vorbei.
Und nur weil sie vielleicht keine Identität haben, also auch kein Problem damit haben "Mittiger" oder sonstiges zu sein und weder gewachsene Kultur noch Geschichte für sie eine Rolle, bzw. bekannt zu sein scheinen, müssen sie dies nicht unbedingt auf jeden wirren Unsinn den vaterlands-, und heimatlose Gesellen hier verzapfen gleich spiegeln.
Unorte
Abgesehen davon, daß unsere kleinen Bahnhöfe verkommen sind und höchstens noch als Haltepunkte gelten können, die jeden Ortsfremden total desorientieren (Grimmental in Thüringen, Großheringen u.v.a.) erinnerten mich Einheimische oft an die nicht wenigen Selbstmörder, die sich von den hohen Brücken Thüringens in die Tiefe stürzen.
Warum steht davon nichts in den örtlichen Zeitungen?
Werther Effekt
Zitat helgam: "Warum steht davon nichts in den örtlichen Zeitungen?"
Damit es nicht noch mehr nachmachen. Man fürchtet den sogenannten Werther Effekt: http://de.wikipedia.org/w...
Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, dass die Zahl der Suizide mit Beteiligung der Bahn im vierstelligen Bereich pro Jahr liegt. Auf jeden Fall sind es eine ganze Menge.
Wir fordern das sowohl als auch ...
Die Streit um das 'bessere' Verkehrskonzept.
Das Planungsbüro Vieregg Rössler hat bei Stuttgart 21 auch Vorschläge gemacht. Wer die Schlichtung verfolgt hat, kann sich daran erinnern welche enorme negativen Auswirkungen und unausgereiftheiten auch deren Konzepte hatte. Die Nachteile wurden einfach weggelassen. Das künftig Güterzüge verstärkt durchs Remstal und durchs Hohenlohische geleitet werden sollen, die Wirkungen und Lärmbelastungen im Filstal ... und die Auswirkungen auf die Fahrzeiten.
Für mich wirkt das Ganze eher wie eine Art Oppositionshilfsmittel.
Argumentiert wurde nach belieben.
Wenn es passt argumentiert man mit ebenfalls kurzen Fahrzeiten, (dazu nahm man für die Berechnungen Neigezüge).
Verschwiegen wurde dabei, dass dann die Passagiere eben in München und in Stuttgart dann wieder in einen 'normalen' ICE umsteigen müssen. Was im Sinne der Fahrzeiten absoluter Quatsch ist.
Seit der Schlichtung traue weder den 'Schönrechnern' von den einen wie den anderen.