Die achtziger Jahre sind womöglich nicht nur in modischer Hinsicht zurückgekehrt, auch die Insignien, Lebensgewohnheiten und Einstellungen des neuen Bürgertums scheinen sich gespensterhaft an die Tradition der alten Bundesrepublik zu schmiegen. Der "Atomkraft? Nein Danke"-Button wird wieder ganz unironisch an Kinderwagen und Blusen geheftet, man nimmt teil am Protest gegen Stuttgart 21 und empfindet auch wieder moralische Überlegenheit angesichts der hässlichen Realpolitik: Die Irritation jedenfalls war groß, als die Kanzlerin angesichts der Tötung von Osama bin Laden ihre Freude bekundete. Und vermutlich war die Furcht der Regierenden vor einem Bundeswehreinsatz in Libyen auch nicht unberechtigt: Niemand wäre sonderlich verwundert gewesen, hätten im Falle einer deutschen Beteiligung muntere Antikriegsdemonstrationen stattgefunden.
Für den Augenblick ist man jedenfalls eher wieder verführt, Kritik am berüchtigten Gutmenschentum der Deutschen zu üben. Der Gutmensch, so das in die Jahre gekommene und vielfach missbrauchte Klischee, organisiere eine Unterschriftenliste, sobald in Nairobi jemand benachteiligt sei. Es galt ihm seinerzeit alles als Zeichen für die Verdorbenheit der Gesellschaft: die Schminke als ein Zeichen des Schönheitswahns in unserer Gesellschaft, die Missionarsstellung als Zeichen der Frauenunterdrückung in unserer Gesellschaft, der Schwule als Opfer der Zwangsheterosexualität in unserer Gesellschaft – und so weiter.
Noch vor wenigen Wochen sah es so aus, als hätten die sogenannte Spaßgesellschaft, Harald Schmidts heitere Angriffe auf die Political Correctness oder die popliterarische Feier der Oberfläche und der Warenwelt längst einen Mentalitätswechsel herbeigeführt. Der moralische Überschwang der Nachkriegsgesellschaft schien jedenfalls gründlich überwunden, Witze über Müsliesser, Friedens- und Umweltaktivitäten galten zu Recht als arg angefault.
Nun reicht der moralische Idealismus, der die Bundesrepublik über lange Zeit prägte, weit zurück und kann bei Bedarf, wie man gerade verwundert sieht, auch wieder aus der Versenkung geholt werden. Er gehörte bereits zur Grundausstattung der sich im 18. Jahrhundert konstituierenden bürgerlichen Gesellschaft. Die Aufklärungsschriften propagierten mit Pathos die Sittlichkeit des Bürgers. Dieser sollte in moralischer Hinsicht sowohl den frivolen Höfling als auch den mit realpolitischem Zynismus handelnden Herrscher überstrahlen. Das deutsche Bürgertum, einer Revolution abgeneigt, wirkte politisch lediglich indirekt: indem es die Welt hygienisch aufteilte in ein Reich der Moral und ein Reich der Politik. Im Reich der Moral residierte die Kritik, die sich vom Schmutz der Politik unberührt glaubte. Kritik erlag damit dem "Schein ihrer Neutralität" (Reinhart Koselleck), sie wurde zur Hypokrisie, zur Scheinheiligkeit – wie ehrenwert die Ziele der Aufklärer auch sein mochten. Vor dem Richterstuhl reiner Moral hatte der Fürst immer schon unrecht. So wie jeder realpolitisch Handelnde oder auch nur Unverbitterte in den achtziger Jahren immer schon unrecht hatte gegenüber einem moralisch hochgerüsteten Bürger, dessen beständige Gewissensbefragung und anklagende Innerlichkeit unverkennbar in der pietistischen Tradition des 18. Jahrhunderts wurzelten. Dieser verbarg mit dem Verweis auf Moral nur notdürftig die eigenen handfesten Interessen.
Historisch besehen, hat, um das Mindeste zu sagen, das starke Augenmerk, das man in der Aufklärung auf die Sittlichkeit richtete, Deutschland keineswegs zu einer moralischen Anstalt gemacht. Die Moral ist offenbar eine Kraft, die stets das Gute will und mithin das Böse schafft. Hannah Arendt hat in ihrem Buch über Adolf Eichmann minutiös dargestellt, wie der moralische Diskurs in Deutschland mit nationalsozialistischen Überzeugungen bestens verschmelzen konnte. Der Generalgouverneur des besetzten Polens, Hans Frank, reformulierte gar den kategorischen Imperativ dahingehend, dass man so handeln solle, "daß der Führer, wenn er von deinem Handeln Kenntnis hätte, dieses Handeln billigen würde".
Nun wäre es Kant natürlich niemals in den Sinn gekommen, das Prinzip des Handelns mit dem Prinzip des jeweiligen Gesetzgebers eines Landes in eins zu setzen. Doch, so Hannah Arendt, lasse sich viel von der peniblen Gründlichkeit, mit der die "Endlösung" in Gang gesetzt wurde, "auf die eigentümliche, in Deutschland tatsächlich sehr verbreitete Vorstellung zurückführen, daß Gesetzestreue sich nicht darin erschöpft, den Gesetzen zu folgen, sondern so zu handeln verlangt, als sei man selbst der Schöpfer der Gesetze, denen man gehorcht". Die Forderung, nicht nur den Buchstaben des Gesetzes zu gehorchen und sich so in den Grenzen der Legalität zu halten, sondern den eigenen Willen mit dem Geist des Gesetzes zu identifizieren, klingt noch heute mit, wenn man etwa belehrt wird, jeder müsse mit dem Umweltschutz vor der eigenen Haustür anfangen. Wem solch lediglich individuelle, vorauseilende Anstrengungen nicht spontan einleuchten, der wird sogleich entlarvt als jemand, der angeblich kein kritisches Bewusstsein entwickelt hat.
Ethik in Deutschland ist traditionsgemäß Gesinnungsethik. Handlungen werden im Hinblick auf die Realisierung eigener Prinzipien bewertet, ungeachtet der Handlungsfolgen. Ein Gesinnungsethiker fragt sich nach der Tötung eines Terroristen, ob die Tat gegen seine Prinzipien verstößt. Der Verantwortungsethiker hingegen räsoniert über die Folgen der Tat und fragt sich, ob diese hinreichend vorteilhaft sind, um sie zu verantworten. Als Angela Merkel ihre Freude über Osama bin Ladens Tötung bekundete, sprach sie offenkundig als Verantwortungsethikerin und sah sich mit einer gesinnungsethisch gepolten Öffentlichkeit konfrontiert. Einer Öffentlichkeit, die es auch prinzipiell für verantwortungslos hält, mit Atomkraftwerken Geld zu verdienen – eine Abwägung von Risiken darf dann gar nicht mehr angestellt werden.
Ein Verantwortungsethiker vermag politisch zu handeln, da er Optionen abwägt. Der Gesinnungsethiker ist verführt, das Politische per se als verlogen zu empfinden und im Geisterreich der Moral es sich bequem einzurichten.
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Kommentare
"Für den Augenblick ist man jedenfalls eher wieder verführt"
Ist dies korrektes Deutsch? Wie wäre es mit "versucht"?
"berüchtigtes Gutmenschentum"
Ein schiere Behauptung. Berüchtigt bei wem ausser bei denen, die es berüchtigt nennen?
"ob diese hinreichend vorteilhaft sind, um sie zu verantworten"
Vorteilhaft nach welchem Massstab, nach welchen Kriterien? So argumentiert war Hitler Verantwortungsethiker, denn er hielt den potentiellen Ausgang seiner Handlungen für hinreichend vorteilhaft.
was für ein schmarrn!(1)
Ein Artikel der wütend macht. Nun gut, er steht im Feuilleton, und mit einer leichten Abwandlung könnte man sagen, „Feuilleton darf alles“. Was in diesem Fall zu beweisen war. Was Feuilleton offenbar nicht muss, ist differenziert argumentieren. Der Inhalt des Artikels lässt sich in wenigen Worten zusammenfassen:
Die Deutschen waren und sind ein scheinheiliges Volk, die ihre scheinbar höhere Moral wie eine Monstranz vor sich hertragen, um sich entweder der Verantwortung zu entziehen-oder noch schlimmer- ihre brutalen Verbrechen damit zu legitimieren versuchen. Die (Zug-)Verbindung von der Verladerampe in Auschwitz zum Tiefbahnhof in Stuttgart ist eine direkte.
Man glaubt es kaum, aber das steht da drin. Nun ist es nicht so, dass es nicht gewisse historische Linien gäbe, die eine gewisse Plausibilität dieser These zumindest denkbar erscheinen lassen. Das macht es aber nicht besser.
Soboczynski sieht ein Revival der Achtziger. Man möge es ihm nachsehen, aber Moden und politische Prozesse halten sich nicht immer genau an Dekaden. Was er beschreibt ist ungefähr die Zeit von 77 bis 83. Die Achtziger nahmen nach 1982 durchaus eine andere Wende. Geschenkt.
Er schreibt davon, dass man wieder Anti-Atomkraft-Buttons ganz „unironisch“ tragen würde. Wie denn sonst? Alles andere wäre zynisch. Auch die „munteren“ Antikriegsdemonstrationen zeigen deutlich was der Autor davon hält. Nichts.
nur in Deutschland ?
Der Autor tut so als bestünde Deutschland aus einem, einheitlichen Block und als müssten alle Leute aufgrund ihres Geburtsortes oder "Nationalcharakters" automatisch die gleiche Denkweise haben. Stimmt das in der heutigen globalisierten Gesellschaft noch ? Warum kommt in dem Artikel so oft das Wort "deutsch" vor und warum werden die angesprochenen Fragen nicht einzeln analysiert ?
In Spanien und sogar in den USA selber gibt es ähnliche Diskussionen über Bin Laden und das Völkerrecht oder über erneuerbare Energien. Unabhängig davon wie man diese Diskussionen bewertet, finde ich es immer gefährlich zu pauschalisieren und aktuelle Entwicklungen mit angeblichen Eigenschaften von Völkern zu erklären. Abgesehen von der Nationalität gibt es noch viele andere Einflüsse, die einen Menschen prägen. Darüber hinaus gibt es in jedem Land zu jedem Thema immer verschiedene Ansichten.
was für ein schmarrn (2)
Überhaupt ist die Position des Autors die desjenigen, der den völligen Durchblick hat. Natürlich schreibt er polemisch, aber es reicht ihm nicht, polemisch zu sein, er will dies auch noch historisch und soziologisch begründen. Er rechnet damit, dass es einen Aufschrei der „Getroffenen“ geben wird. Aber ich schätze mal, dass ihm dies egal ist, im Gegenteil er provoziert dies noch.
Dazu wird auch die (deutsche) Geschichte bemüht. Natürlich extrem selektiv, und die berühmten „12 Jahre“ dürfen natürlich auch nicht fehlen. Ja, es war eine Reaktion des Bürgertums auf die politische Situation im spätfeudalistischen Staat. Respektive in den unzähligen Fürstentümern, die Deutschland prägten. Ähnliche Tendenzen gab es aber auch in anderen europäischen Ländern, und auch in den USA, die sich ja auch als Gegenentwurf zu den Feudalstaaten Europas verstanden. Norbert Elias hat diese Prozesse im Übrigen anschaulich dargestellt. Entscheidend im Artikel ist dann der folgende Satz:
„Die Moral ist offenbar eine Kraft, die stets das Gute will und mithin das Böse schafft.“ Dieser Anti-Mephisto ist blanker Unsinn. Natürlich gibt es Entwicklungen, die der ursprünglichen Intention zuwiderlaufen. Die Welt ist komplex und voller Widersprüche. Nur, die einfache Umkehrung gilt halt auch nicht. Ethik und Moral können durchaus positive Wirkungen haben. Es bedarf einer genauen Analyse.