Wie arm wäre Deutschland ohne das Ehrenamt? Gäbe jeder Dritte von uns – so viele sind es nämlich – sein Engagement auf, reduzierten sich unkomplizierte Hilfe, zwischenmenschliche Wärme und unzählige Freizeitangebote wohl auf ein Minimum. Unsere Gesellschaft wäre in der Tat wesentlich ärmer. Mehr noch, sie wäre wohl ziemlich armselig.
2011 ist das Europäische Jahr der Freiwilligentätigkeit. Die Deutschen engagieren sich vor allem in den örtlichen Sportvereinen, in den Schulen ihrer Kinder und in ihrer Kirchengemeinde. Oft tun sie dies, weil sie Kontakt zu anderen Menschen suchen, weil sie sich weiterqualifizieren möchten oder weil es ihnen einfach Spaß macht. Dabei leisten die Freiwilligen häufig auch schnelle und unkomplizierte Hilfe, etwa bei den zahlreichen sogenannten Tafeln und Archen, die es mittlerweile in Deutschland gibt.
Trotz der offenkundigen gesellschaftlichen Vorteile solcher Initiativen ist bei genauerem Hinsehen nicht alles so klar, wie es scheint. Gerade die Tafeln, die bedürftige Menschen mit Mahlzeiten versorgen, bekämpften nicht die Ursachen der Armut, kritisieren Sozialwissenschaftler. Eine Studie der Caritas NRW ergab, dass die Mitarbeiter der Tafeln nur selten wirkliche Verantwortung übernehmen möchten. Stefan Selke ist Professor für Soziologie an der Hochschule Furtwangen und hat die Studie der Caritas erstellt: "Wir beobachten immer wieder, dass freiwillige Helfer zunehmend überfordert sind. Sie geben nicht mehr nur Lebensmittel aus, sondern sollen auch Sozialberatung liefern", berichtet Selke. Im Freiwilligensurvey 2009 berichteten zudem 13 Prozent der befragten Ehrenamtlichen, dass in ihrem Umfeld ehemals hauptamtliche Arbeit nun durch Freiwillige erledigt würde. Die empirischen Belege zeigen besorgniserregende Trends auf: Freiwillige Helfer stoßen zunehmend in Grenzbereiche vor, die eigentlich dem Staat vorbehalten waren – bei den Tafeln geht es schließlich um nichts weniger als Existenzsicherung. Müssen die Ehrenamtlichen dort anpacken, wo der Staat sich zurückzieht?
Ursprünglich war das Ehrenamt sogar ein Zugeständnis an die Bürger – vonseiten des Staates. Man fürchtete, dass die Französische Revolution auch nach Preußen überschwappen könnte. Um dem vorzubeugen, gab die preußische Regierung 1808 einige kommunale Gestaltungskompetenzen an das Volk ab. Etwa zeitgleich entstanden die ersten Vereinsstrukturen, in denen sich die Menschen nun im Privaten engagieren konnten.
Auch heute noch sind die Vereine die wichtigsten Organisationsformen, in denen Ehrenamtliche zusammenkommen. Vor allem Gesangs- und Sportvereine können immer noch langfristige Wachstumsraten vorzeigen. 47 Prozent allen freiwilligen Engagements findet laut des Freiwilligensurveys 2009 dort statt.
Der Soziologe Joachim Winkler von der Hochschule Wismar hat über das Ehrenamt promoviert. Für ihn sind Vereine Teil der demokratischen Gesellschaft, nicht nur weil ihr Aufbau und ihre Struktur im Grundgesetz definiert werden. "Die Ehrenamtlichen in den Vereinen vermitteln zwischen dem Staat und den privaten Bürgern, da sie zu beiden Seiten offen sind. Das schafft Transparenz."
Diese Art des Engagements hat stets einen öffentlichen Bezug – die Mitglieder handeln im Rahmen eines demokratisch verankerten Vereins und können dort ihre Interessen und Gestaltungsideen ausleben. Schon die großen Staatstheoretiker wie John Locke, Charles Montesquieu oder Alexis de Tocqueville waren überzeugt, dass zwischen Staat und Bürgern noch eine dritte Kraft nötig sei, um eine demokratische Gesellschaft zu schaffen.
Kommentare
Ausgenützt
Das Problem ist jedoch, dass ehrenamtliche Tätigkeit als etwas Selbstverständliches angesehen wird. Es gibt kaum Lob - ganz im Gegenteil. Viele werden nur ausgenutzt, vom Verein, von den Wohlfahtsverbänden usw.
Nachgedacht: Ist Geiz wirklich geil?
Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, dass es heute - im Gegensatz zu vor etwa 30 Jahren - als selbstverständlich erachtet wird, dass ein Großteil unserer Bevölkerung gezwungen wird, für lau zu arbeiten, um gesellschaftlich noch einigermaßen geachtet zu werden.?
Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, dass ein nicht kleiner Anteil der Hochschulabsolventen, erst einmal einige Praktika absolvieren muss, bis er an einen mehr oder weniger regulär bezahlten, Job kommt, der dann in der Regel aber befristet ist?
Haben Sie auch schon mal darüber nachgedacht, wer von Ehrenämtlern und Praktikanten profitiert? Ja, manchmal ist das "die Gesellschaft", nicht selten sind es aber auch öffentliche Institutionen, die es sich einfach machen wollen, indem sie statt Stellen zu schaffen, lieber Ehrenamtler beschäftigen. Wirkt nett - und belastet den Haushalt nicht.
Ja, das Ehrenamt hat dadurch seine Wertschätzung verloren, dass Ein-Euro-Jobs, Praktika und andere kaum bezahlte Arbeitsverhältnisse von den letzten Regierungen als Alternativen zum ersten Arbeitsmarkt etabliert wurden.
Wenn Ihnen das missfällt, dann gehen Sie doch nach drüben! ---Üh, Schiete. Geht ja nicht mehr. -- Was soll'n wa nu tun?
Nu, zu allererst sollten wir dafür sorgen, dass ALLE Arbeit wieder bezahlt wird und fantasielose Behördenleiter sowie geldgeile Geschäftemacher mal ans Nachdenken gebracht werden.
;-)
Tun Sie was dafür! Das wäre ein Ehrenamt, dass diesen Namen auch verdient hätte.
Ein paar Schlaglichter übersehen
Frau Srikiow, es ist Ihnen bei Ihren Recherchen vermutlich entgangen, weshalb ich Sie freundlich darauf hinweisen möchte, gerade im sozialen Bereich ist es europäische Politik, aus neoliberalen Beweggründen heraus, staatliche Aufgaben kostensparend auszugliedern.
Ich kenne soziale Einrichtungen, in denen das Stammpersonal noch 30% stellt, der Rest ein Gemengelage aus allem Möglichen und eben auch vielen "Ehrenamtlichen". Wobei es für viele die einzige Möglichkeit ist überhaupt tätig zu sein.
Desweiteren ist es unverständlich, weshalb sogar hier noch gespart wird, z.Bsp. an Aufwandsentschädigung und Fahrgeld. Gerade im Gebirge und in dünn besiedelten Gebieten bleiben viele wichtige Aufgaben unerledigt, weil viele Menschen es sich schlicht nicht mehr leisten können für ein paar Cent ihr Fahrzeug zu bewegen.
Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen.
"Die Stützen der Gesellschaft" - Vollkommen richtig. Unverzichtbar für eine gesunde lebenswerte Gesellschaft.
Doch leider wird dieser Ansatz immer häufiger pervertiert. Im Kontext des Systems logisch, schließlich bringen ja die meisten Dinge welche das Leben lebenswert gestalten bestimmten Herrschaften kein Geld, können also gedrückt und gestrichen werden.
Für eine anständige Gesellschaft jedoch einfach nur armselig und abstoßend.
Vielleicht können Sie, Frau Srikiow, ja in einem Ihrer nächsten Artikel das Thema noch einmal von dieser Seite beleuchten.
Mit freundlichen Grüßen
Steinager
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Es ist tatsächlich so, daß viele Bereiche, die früher der Staat gestützt hat, heute über ehrenamtliche Mitarbeiter laufen; das war eine bewußt gewollte politische Entscheidung. Soziale Dienste arbeiten nicht kostendeckend und gewinnbringend, was heute aber verlangt wird; ich verweise auf die Privatisierungen von Krankenhäusern, die zur Folge hatten, daß zunächst einmal Stellen wegfielen, nicht neu besetzt wurden, und daß die Belastung der noch vorhandenen Mitarbeiter stieg. Dafür werden aber jetzt Gewinne eingefahren, zu Lasten der Mitarbeiter, zu Lasten der Patienten, zu Lasten der Forschung, die ja ebenfalls nicht gewinnbringend ist und deshalb nicht mehr bezuschußt wird - ein kurzfristiger Erfolg, der sich aber langfristig dann dadurch bemerkbar macht, daß die Mitarbeiter irgendwann überlastet sind und krank werden, die Patienten einen höheren privaten finanziellen Anteil übernehmen sollen und die hier ausgebildeten Forscher danach ins Ausland gehen. Langfristiges Denken wird aber bei kurzfristigem Streben nach Gewinnen gerne vergessen und die Verantwortlichen hängen sicher der These an: Nach mir die Sintflut!
Oft auch wirklich übel ist die Situation in der Altenpflege - geringe Löhne, Arbeitszeiten rund um die Uhr, ungenügende personelle Ausstattung.
Protestiert aber jemand und geht an die Öffentlichkeit, so wird er entlassen - wie hier in der ZEIT nachzulesen war - und muß sich Gerechtigkeit mühsam erkämpfen.
Selbstverständlich ist es unter Sparzwang erwünscht
Selbstverständlich ist es unter allgemeinem und vermeintlich "alternativlosem" Spardiktat erwünscht, dass Tätigkeiten, die vormals bezahlt werden mussten, unbezahlt ausgeführt werden.
Dadurch wiederum erhöht sich in Bereichen wie der Pflege oder bei sozialen Einrichtungen der Druck auf Neubewerber, noch niedrigere Löhne hinzunehmen - die Konkurrenz machts schließlich kostenlos. Dahinter steht der selbe Mechanismus, der - politisch gewollt! - den Einkommensabstand zwischen arbeitslosen Familien und unteren beruflichen Einkommen nicht durch Mindestlöhne, sondern durch weitere Kürzung der Sozialhilfen zu vergrößern versucht.
Egal, wie groß der Anteil der Besserverdienenden prozentual fiskalisch am Staatshaushalt sein mag: Für den Wohlstand in diesem Land opfert die große Mehrzahl der Menschen, ausgedrückt in Zeit und handfester, materieller Lebensqualität, ungleich mehr.
Es fehlt die politische Durchsetzungskraft, große Privatvermögen und -einkünfte so zu besteuern, dass dem Grundgesetz entsprochen wird. Um dem zuzustimmen, muss man kein herzblutender Egalitarist sein. Es genügt, wenn man ein Interesse an stabilen gesellschaftlichen Verhältnissen hat.
Wobei gerade in der Pflege eine gegenteilige Entwicklung
stattfand:
Das, was Frauen in den Familien unentgeldlich taten und oftmals noch tun, soll professionalisiert werden. Die Menschen sollen in Heimen gepflegt und versorgt werden, da eine innerfamiliäre Versorgung nicht möglich ist.
Nun die Idee wieder in diesen Bereich zu bringen, auch Ehrenamtliche mit alten umgehen zu lassen, halte ich für einen guten Weg, da wir viele Menschen in unserem Land haben, die über viel Zeit verfügen, die sie für andere einsetzen könnten.
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Wir sind in Deutschland (nicht nur hier) wirklich weit gekommen, wenn alles und jedes nur noch am finanziellen Nutzen gemessen wird und 'optimiert' werden muß.
Soziale Dienste, in welchem Bereich auch immer, waren noch nie kostendeckend - halten aber die Gesellschaft zusammen. Man sollte verhindern, daß ehrenamtliche Mitarbeiter dazu beitragen, daß sich der Staat aus diesen Aufgaben noch weiter zurückzieht; nötig dazu werden politische Diskussionen und andere gewählte Parteien sein.