Sie haben alles versucht, um aus diesem Tag etwas Besonderes zu machen. Ein letztes Mal sitzen Michelle Mohr, Ivan Chapanidi und Florian Barthold in ihrer Aula. Sie sind drei von 97 Schülern, die heute die Hauptschule Wuppertal-Wichlinghausen verlassen.
Es ist ein warmer Tag im Juni 2009. Michelle hält eine Rose in der Hand, das kurze blonde Haar hat sie toupiert. Florian, der sonst gern Muskelshirts trägt, hat sich ein Hemd angezogen. Und Ivan war extra beim Friseur. So sorgfältig geschnitten wie heute werden seine dunklen Haare in den nächsten zwei Jahren nie wieder sein. Um die schmalen Hüften trägt er seinen Lieblingsgürtel, die Metallschnalle hat er bei einem Praktikum selbst gemacht.
Auf ihren Knien haben die Schüler ein Geschenk ihrer Lehrer: ein Foto, das sie an ihrem ersten Hauptschultag zeigt. Es ist nicht lange her, dass sie diese Kinder waren, die mit großen Augen in die Kamera schauten. Jetzt sitzen sie da und wollen erwachsen werden.
Michelle, die heute noch ein kindlich rundes Gesicht hat, fast wie auf dem Foto, die aber oft so verloren blickt, dass man sie am liebsten an die Hand nehmen mag. Der hübsche, bleiche Ivan, dessen Körper schon die Maße eines Mannes hat, dessen Gesichtszüge aber noch die eines Jungen sind. Und Florian, der seinen eigenen Kopf hat, der nie das tut, was alle machen, und oft auch nicht das, was von ihm verlangt wird.
Die drei haben in diesem letzten Schuljahr oft davon geträumt, wie ihr Leben aussehen soll. Die 16-jährige Michelle wünscht sich einen sicheren Job, am liebsten in einem Blumenladen. Sie hat sich gerade verliebt. Mit ihrem Freund hätte sie gern eine Wohnung und Geld auf dem eigenen Konto.
Ivan, 17, träumt von einer Maschine – einer wie der, mit der er die Metallschnalle an seinem Gürtel gemacht hat. Mit Maschinen muss man nicht sprechen. Vielleicht schätzt Ivan, dem man die Kindheit in Kasachstan noch am rollenden R anhört, sie deshalb so. Etwas mit den Händen zu schaffen, das sei das Größte, sagt er.
Florian kann lange über seine Träume sprechen. Der 17-Jährige denkt in großen Kategorien. Er will seine Familie und sein Land vor Gefahren schützen, sagt er. Der Mann seiner älteren Schwester ist bei der Bundeswehr, auch Florian will Soldat werden, weil er glaubt, dass all das, was er sich wünscht, dann möglich ist. Von den Eltern der drei ist niemand arbeitslos, sie sind Verkäufer, Arbeiter, Michelles Mutter macht einen Minijob. Vom Staat leben – das wollen Michelle, Ivan und Florian auf keinen Fall.
Die drei gehören als Hauptschulabsolventen zu einer schwindenden Spezies. Die Schulform, die einmal zwei von drei deutschen Kindern auf das Berufsleben vorbereitete, existiert seit ein paar Jahren nur noch in fünf Bundesländern. In Nordrhein-Westfalen, wo die drei leben, gehen gerade einmal neun Prozent jedes Jahrgangs in die Hauptschule. Restschule nennen sie viele.
80 Prozent der Hauptschüler glauben, dass sie für dumm gehalten werden. Dabei kommen die Schulstudien Iglu und Pisa seit Jahren zu dem Ergebnis, dass in der Grundschule die Leistungen der Schüler noch relativ nahe beieinander sind, zwischen einem späteren Hauptschüler und einem künftigen Gymnasiasten liegen in der Regel nicht, wie vielfach vermutet, Welten.
Den Lehrern fällt es offensichtlich schwer, zu entscheiden, wer auf welche Schule soll. 30 bis 50 Prozent der Schulempfehlungen in der vierten Klasse seien falsch, sagen Wissenschaftler, sie entsprächen nicht der Leistung der Schüler. Vor allem Kinder von Nichtakademikern werden oft auf die Hauptschule geschickt, obwohl sie mit den anderen hätten mithalten können.
Michelle hat rote Wangen, als sie ihr Zeugnis abholt. Es ist gut. "Englisch: 2, Deutsch: 2. Ich finde das Hammer", sagt sie. Ivan hat gute Noten in Mathe und Technik. Allerdings saß er oft nicht beim ersten Gong in der Klasse. Florian hat den Abschluss gerade so geschafft. Aber auch er fühlt sich bereit, jetzt eine Lehre zu beginnen.
Direktor Volker Zimmermann erzählt nach der Rede auf der Abschlussfeier, gestern sei er noch einmal durch die Klassen gegangen und habe alle 97 gefragt, in welchem Betrieb sie ihre Ausbildung beginnen würden. "Das, was ich gehört habe, war eine Katastrophe", sagt er. Kein einziger seiner Schüler hatte eine feste Zusage für eine Lehrstelle.
Kommentare
Reden können se alle jut ...
Wo sind die klugen Leute in diesem Land, die anpacken und diesen
jungen Leuten eine Chance und ggf. auch einfach eine Hand und
eine Hilfe anbieten?
Sie einfach wieder mitnehmen in diese Gesellschaft, als
arrogant auf dem Finger auf sie zu zeigen.
Schule muss marktwirtschaftlich gedacht werden
Es wäre wünschenswert und sinnvoll, wenn auch die örtliche und regionale Wirtschaft (z. B. über die IHK und die HWK) in den Curricula wie in den konkreten Notengebungen und Versetzungen ein Mitspracherecht erhielte, so dass nicht so viele Schüler wie gegenwärtig am tatsächlichen ökonomischen Bedarf vorbei oder in falschen Bildungswegen produziert würden.
In diesem Zusammenhang könnte eine Abschaffung der allgemeinen Schulpflicht und ein finanzieller Pflichtbeitrag für Bildungswillige (allgemein als Schulgeld bekannt) gute Dienste leisten.
Bekanntlich hat nur das einen Wert, was auch seinen (finanziellen) Preis hat.
@Freiheitsfreund (#2): Gegenrede
"Es wäre wünschenswert und sinnvoll, wenn auch die örtliche und regionale Wirtschaft (z. B. über die IHK und die HWK) in den Curricula wie in den konkreten Notengebungen und Versetzungen ein Mitspracherecht erhielte, so dass nicht so viele Schüler wie gegenwärtig am tatsächlichen ökonomischen Bedarf vorbei oder in falschen Bildungswegen produziert würden."
Naja, Wirtschaft in die Schulbildung heineinagieren zu lassen ist sehr zweischneidig. Was Sie schreiben, mag zwar anfangs recht schlüssig gelten, aber zwischen Einschulung und Abschluss vergehen viele Jahre, in denen sich die Nachfrage stark umkrempeln kann. Außerdem sollte man bedenken: In die Schule gehen Kinder! Viele empfinden schon die Schule selbst als Gängelung - wenn man ihnen dann auch noch wirtschaftliche Interessen vor die Nase setzt, wäre das der absolute Abschuss; ganz zu schweigen davon, dass sie sich nicht nach ihrem Charakter, sondern nach der Nachfrage der Märkte entwickeln müssten, was schon menschenrechtlich bedenklich ist!
"In diesem Zusammenhang könnte eine Abschaffung der allgemeinen Schulpflicht und ein finanzieller Pflichtbeitrag für Bildungswillige (allgemein als Schulgeld bekannt) gute Dienste leisten."
Gerade das nicht! Wollen wir noch mehr und noch krasser gescheiterte Schicksale produzieren? Abgesehen davon hängt dann die Zukunft nicht nur von der Bildungswilligkeit ab, sondern vom Geldbeutel der Eltern!
"Bekanntlich hat nur das einen Wert, was auch seinen (finanziellen) Preis hat."
Zukunft??
warum schule
schicken wir die kinder doch gleich arbeiten. so erwirtschaften sie als billiglohnarbeiter gleich ihr recht auf der welt zu sein.
und zusätzlich bekommen wir noch Billigarbeiter, dann können wir endlich wieder mit China konkurieren! Juche!
Es ist nicht der Abschluss, der zählt, es ist das Können!
Wenn große Teile der Gesellschaft, begleitet von solchen Artikeln, den Hauptschülern seit Jahren weismachen, sie seien nicht erwünscht, dann glauben diese es auch. Es nutzt nichts, allen einen Abschluss - wenn möglich Abitur oder sogar einen akademischen Abschluss - zu garantieren, der dann nichts mehr über die Qualifikation aussagt. Das ist aber schon seit Jahren der Fall, angeblich in manchen Bundesländern mehr als in anderen. Diese Entwicklung ist aber die Ursache dafür, dass Arbeitgeber glauben, auf Nummer sicher gehen zu können, wenn sie für ausgeschriebene Lehrstellen besser Realschüler oder gar Abiturienten nehmen als Hauptschüler. Mancher Hauptschüler ist aber besser motiviert als die Absolventen der Realschule, des Gymnasiums oder vielleicht einer Gesamtschule. Trauen wir uns doch endlich wieder, Schülern etwas abzuverlangen, damit sie wissen, was sie können, und mögliche Arbeitgeber endlich wieder ein Zeugnis als etwas Aussagekräftiges sehen können und nicht nur als ein bloßes Stück Papier! Mittlerweile gibt es Schüler (nicht nur Hauptschüler!), die weder richtig schreiben noch rechnen können. Das gilt es zu ändern. Die Abschaffung der Hauptschule löst das Problem nur scheinbar. Für konsequente Lösungen fehlt aber der Mut, weil der gesellschaftliche Mainstream nunmal das Stück Papier für wertvoller ansieht als die dahinterstehende Bildung.
Das ist kein guter ZEIT Stil!
@von Kleist: Zustimmung!
Es sind Artikel wie dieser die den Hauptschülern das Leben erschweren. Ein solcher Artikel ist nicht von meiner Welt. Micht interessiert nicht der Schulabschluß - mich interessieren die Noten. Deutsch 2, Englisch 2... ist einstellbar. Deutsch 4, Mathe 5, Englisch 4 jedoch nicht, wenn jemand IT Kaufmann lernen will.
Kurzum: Verallgemeinungen und ZEIT Artikel wie der vorliegende schaden den Hauptschülern mehr als die Schulform. (Und ja - wer 2x den Hauptschulabschluß nicht besteht - der hat ein Problem. ABer das wäre dann wohl ein neuer ZEIT Artikel. Allerdings löst schon alleine der Gedanken Grausen aus.)
Was nützt mir eine
"ich kann alles schaffen" Einstellung, wenn mich keiner will?
Ich finde, der Artikel zeigt, dass Hauptschüler eine Lehrstellen wollen, dass sie arbeiten wollen! Aber keiner will sie. So schlagen sie sich von Maßnahme zu Maßnahme (übrigens unbezahlt). Die Maßnahmen haben oft nichts mit dem Berufswunsch zu tun.
Das soll ein Apell an die Unternehmen sein!
Keine Entmutigung für die Jugendlichen!
Sie interessieren also nur die Noten.
Noten sagen nichts über die Fähigkeit von Schülern aus!
Was nützt es Ihnen, wenn jemand gut auswendig lernen kann und dafür gute Noten bekommt, aber selber keinen eigenen Gedanken fassen kann oder über den Tellerrand schauen kann?
Die Bürger zu wehrhaften Demokraten erziehen
Diese Situation zeigt auch auf, dass es ein Teil mancher deutschen Mentalität ist, tief verwurzelt, obrigkeitshöriger Untertan mit Sklavenmoral zu sein.
Jeder Bürger muss lernen, dass "die Politik, die Wirtschaft, die Wissenschaft - die Gesellschaft" nichts machen wird. Wir verkünden doch das Prinzip der Eigenverantwortung. Es nützt weniger als nichts, sich an die Medien zu wenden. Das Thema ist nun seit 10 Jahren in den Medien. Mal mehr, mal weniger. Genutzt hat das alles weniger als nichts.
In unserem System muss leider jeder selbst in den "Krieg" ziehen.
Oder man muss das System der zynischen Eigenverantwortung ändern, was nur bedeutet, dass man jeden in seiner Not sich selbst überlassen soll. Eigenverantwortung ist eine sehr praktische und sehr bequeme Methode anderen nicht helfen zu wollen.
Also wo haben sich die Hauptschüler zusammengeschlossen und organisiert? Was ist mit den Klasssensprechern und den Schulsprechern? Was ist mit den Lehrern? Was ist mit den Elternbeiräten etc. Schlafen diese alle? dann sollten die Schüler diese alle mal unsansft aus dem Tiefschlaf aufwecken, denn es geht um ihr ganzes Leben.
Und ob man die Hauptschule in "Realschule" umbenennt oder was auch immer, nützt gar nichts. Dann wird eben in ein paar Jahren die "Realschule" geschlossen.
Das eine ist, was man den Hauptschülern antut.
Das andere ist, was die Hauptschüler mit sich machen lassen.
Wehren sie sich!
Eine Fünf ist nicht nicht einfach nur eine Fünf
Das Auswendiglernen ist mir ziemlich egal. Die Noten müssen in Relation zur Schulform gebracht werden:
eine DE Fünf in der Hauptschule impliziert eklantante Schwächen in der deutschen Sprache. Eine DE 3 Punkte im letzten Abijahrgang, Kursthema Lyrik mag zwar dramatisch für das deutsche Kulturgut sein - ist aber für eine Betrachtung eines kaufm. Lebensweges ohne Relevanz.
Oder um es einfacher zu fassen: Die Hauptschule vermittelt Basiswissen. Da sind schlechte Noten in wichtigen Fächern dramatisch. Abiturienten bekommen hingegen ganz andere Fähigkeiten vermittelt. Deshalb sind 3 Punkte Abikurs und Note 5 in der Hauptschule wenig vergleichbar.
*lach*
allerdings. fragen sie mal wer in einem nciht-narutwissenschaftlichen beruf noch weiß, was eine zweite ableitung ist. und kein ingenieur beherrscht die ss-ß-regel. das scheint zu viel der hermeneutischen abstraktion zu sein. ich finde echt, die ss-ß-regel könnte jeder in den griff kriegen. aber dennoch: die deutschen ingenieure sind trotz dieser unfähigkeit weltsppitze. die deutschen juristen (die die ziemlich geschlossen die zweite ableitung nicht mehr beherrschen) übrigens auch. welche perfektion ist denn tatsächlich gefordert und berufsqualifzierend?