DIE ZEIT: Wie blickt der indische Beobachter von Weitem auf die europäische Krise?
Arundhati Roy: Natürlich sieht die Lage brenzlig aus. Die Armen Europas hat die Wut gepackt, und die Maßnahmen ihrer Regierungen ziehen nicht mehr. Wie ein Lauffeuer scheint die Krise von einem Land aufs andere überzugreifen. Mir kommt es dabei vor, als hätten die Mächtigen in Europa – die großen Medien ausdrücklich eingeschlossen – viel zu viel Angst, der Krise ernsthaft gegenüberzutreten. Sie glauben immer noch, dass Rettungspläne und Polizeiaktionen die Probleme lösen werden. Damit gewinnen sie allenfalls Verschnaufpausen.
ZEIT: Verliert das aufgeklärte, soziale Bewusstsein der Europäer jetzt seinen Charme?
Roy: Auf diesen Charme war nie Verlass. Während Europa einst für sich seine Ideen von Freiheit und Gleichheit entwickelte, kolonisierte es andere Länder, beging Völkermorde und praktizierte Sklaverei – und das in unvorstellbaren Dimensionen. Ganze Völker wurden vernichtet. Die Belgier brachten im Kongo zehn Millionen Menschen um. Die Deutschen rotteten in Westafrika die Hereros aus.
ZEIT: Aber was hat das noch mit dem verunsicherten Europa von heute zu tun?
Roy: Langsam, warten Sie ab. Die Völkermorde dienten der Rohstoffbeschaffung für eine industrielle Revolution, die den westlichen Kapitalismus begründete und mit ihm den materiellen Überschuss produzierte, auf dessen Basis die Ideen der modernen Demokratie entstanden. Dieser Kapitalismus aber hat unsere heutige Krise geschaffen, die sowohl ökonomischer wie ökologischer Natur ist.
ZEIT: Kann sich Europa denn heute nur noch helfen, wenn es gleich den Kapitalismus abschafft? Geht es nicht einfacher?
Roy: Schön wäre es. Aber in unseren Ozeanen schwimmen bald keine Fische mehr. Überall in der Welt fallen die Grundwasserspiegel. Die Regenwälder werden vernichtet, um Rinder zu züchten. Das alles zeigt doch, wie kurzsichtig und engstirnig die westlich-europäische Definition von Freiheit und Gleichheit bisher war. Sie ging immer auf Kosten anderer.
ZEIT: Gehen denn Inder und Chinesen heute besser mit der Natur um?
Roy: Nein. Das will ich auch nicht sagen. Die indische Kultur kann genauso despotisch sein, siehe das Kastensystem. Ich will auch den europäischen Ideen nicht ihren Wert absprechen – aber ihre Umsetzung in die Praxis unter den Bedingungen der kapitalistischen Profitanhäufung hat Europa und uns alle an den Punkt geführt, an dem wir heute stehen: nicht weit entfernt vom Zusammenbruch.
ZEIT: Aber trotzdem gab es bisher ein europäisches Modell: die EU als Verbund von Nationen, die dem Krieg abgeschworen haben. Strahlt dieses Modell heute noch über Europa hinaus?
Roy: Dieses Modell gründete ursprünglich auf zwei Weltkriegen und dem Holocaust. Heute aber kommt es mir vor, als würde die Europäische Union von materiellen Werten zusammengehalten, vom Versprechen eines guten Lebens für alle. Dieses Versprechen aber wird nun überschattet, deshalb sind Spannungen und Spaltungen so gut wie sicher. Auch Indien ist eine Union vieler Völker, vielleicht sogar noch vielfältiger als das ganze Europa. Uns aber hält, vor allem an den Rändern in Kaschmir und dem Nordosten, die indische Armee zusammen. Doch so, wie die Welt sich heute bewegt, fällt es mir ohnehin schwer, in Länder- oder auch Unionsgrenzen zu denken.
Kommentare
Indien sollte ein gutes Beispiel sein !
"Unsere Regierungen werden doch längst von Banken und multinationalen Unternehmen kontrolliert." Recht hat Sie !!!
http://www.independent.co...
Siehe Polybios
„Die Zeit des uneingeschränkten Individualismus ist vorbei.“
Bereits der antike Polybios beschrieb exakt diese Verhaltensweise. Es ist dies ein Ethos, bei dem die Mächtigen nicht mehr bereit sind Einbußen für das Gemeinwohl hinzunehmen, sondern dazu übergehen Privatinteressen zu verabsolutieren. Im Falle der Aristokratie – der Herrschaft der Besten –, sieht Polybios darin ihre Entartung zur Oligarchie, zur bloßen Herrschaft der Wenigen.
Weiter sagt er, dass sich jede entartete Gesellschaftsordnung bereits in ihrem Endstadium befindet. Dabei folgt im polybios'schen Verfassungskreislauf auf die oligarchische eine demokratische Gesellschaftsordnung.
Man darf gespannt sein.
Alternativlos
Aussagen wie die von Roy machen mich immer ratlos, auch wenn ich viele Argumente teile.
Ratlos deshalb, weil sich keine Alternative anbietet. Roy fordert "neue Vorstellungskraft, eine neue Definition von der Bedeutung des Fortschritts, eine neue Definition von Freiheit, Gleichheit, Zivilisation und Glück auf Erden."
Gern, und wie bitteschön sieht die aus? Und in welchem Land soll sie erprobt werden? Und wie kann man das Land so isolieren, dass es nicht durch den globalen Wettbewerb gezwungen ist, sich bald wieder an das herrschenden System anzupassen?
Was erwarten Sie?
Ich wundere mich über diese Haltung. Es handelt sich bei dem Artikel doch lediglich um eine Analyse. Warum erwarten einige Menschen immer, dass Ihnen Lösungen auf einem Silbertablett serviert werden?
Genau diese Haltung sollten wir ändern. Der Wohlstand hat uns in der Vergangenheit zu viele Dinge zu leicht gemacht. Bald wird sich das aller Voraussicht nach ändern. Stellen wir uns darauf ein: Raus aus der Komfort-Zone.
Industrielle Revolution
"Die Völkermorde dienten der Rohstoffbeschaffung für eine industrielle Revolution, ..."
Die Ursachen der Völkermorde sind faschistische Ideologien der politischen Eliten in ganz Europa.
Die industrielle Revolution entstand aber aus technischem Fortschritt und Kapitalkonzentration, als Folge von Ausbeutung der Bevölkerungsmehrheit. Hat nichts mit Kolonialherrschaft zu tun. Die elementaren Rohstoffe der industriellen Revolution Kohle und Eisen, waren damals in Europa noch im Überfluss vorhanden.
kurzsichtig
Sie vergessen (um nur eines von vielen beliebigen Beispielen zu nennen)lateinamerikanisches Gold und Silber, dass den dortigen Urvölkern mittels unvorstellbarer Gewaltanwendung abgepresst wurde, um damit den jeweiligen spanisch-harbsburgischen, niederländischen und nicht zuletzt portugisischen Staatshaushalt im Kampf um immer mehr Kapitalakkumulation auf Kosten der nicht-europäischen Bevölkerung zu sichern.
Welche Krise eigentlich?
Mal ganz provokant gefragt, welche Krise meint sie eigentlich?
In den Entwicklungsländern geht der Wohlstand nach oben, die dritte Welt schwimmt auch im Geld (verballert nur jeden Cent in Bürger- und Religionskriegen) und in Europa und Amerika geht er leicht, aber verschmerzbar runter.
Das einzige wirkliche Problem sind doch nur die Spekulanten und die zu recht angemahnten Superreichen, die einfach zu viel Geld auf sich allein konzentrieren. Aber die beiden Gruppen wischt man doch mit einem Wimpernschlag weg. Spekulanten mit mehreren hundert Jahren Haft bestrafen und die Superreichen enteignen-ist doch ein Klacks, Milliarden liegen auf virtuellen Konten, die kann man nicht unterm Kopfkissen verstecken.
Ansonsten sehe ich keine Krise. Gut, es mangelt an Arbeit, aber dem kann man entgegen treten, indem man in naher Zukunft für Dinge des täglichen Bedarfs kein Geld mehr nimmt, Essen und Kleidung gratis rausgibt, wird ja größtenteils maschinell gemacht. Kann mir gut vorstellen, dass in zehn Jahren neben dem Laserdrucker daheim noch ein Schnittmusterdrucker liegt, samt automatischer Nähmaschine, man macht sich die Jeans in Zukunft selbst und oh wunder, sie passt dann auch wieder.
Also Krise sehe ich nicht, eher mehr religiöse Spinner, aber das ist ja kein Geldproblem.
Die Krise liegt darin...
...dass die, die du gerne einsperren willst, gleichzeitig diejenigen sind, die uns regieren und das nach wie vor sehr erfolgreich (in ihrem Sinne).