Freitag ist jetzt immer Kinderwagentag für Anke Nestler. Nach der Arbeit parkt sie ihren Renault Clio in einer Seitenstraße in Berlin-Friedrichshain, steigt die Treppen hoch in die erste Etage eines Altbaus und trifft den einjährigen Leon und seine Mutter. Manchmal krabbelt der Kleine schon bis zur Wohnungstür, wenn er die Klingel hört. Anke Nestler schnappt sich dann Leons beigefarbene Schirmmütze, eine Rassel und Feuchttücher für unterwegs und steigt mit Leon langsam die Treppe hinunter zum Kinderwagen, der im Hausflur steht.
Ein, zwei Stunden läuft die dunkelhaarige Bürokauffrau dann mit Leon durch das Viertel, sie wohnt hier und kennt sich aus. Es gibt viele Spielplätze, Spielzeugläden und Eltern mit Kinderwagen, die sich vermutlich manchmal fragen, ob die 46-Jährige eine junge Großmutter oder doch eine ältere Mutter ist. Tatsächlich ist Anke Nestler mit Leons Mutter weder befreundet noch verwandt, sie bekommt auch kein Geld für ihre Hilfe.
Die beiden Frauen haben zueinandergefunden, weil sie Nachbarn sind. Und weil die Organisation wellcome Helfer wie Nestler und Familien mit sehr kleinen Kindern zusammenbringt.
Vor zehn Jahren eröffnete das erste wellcome-Büro in Norddeutschland, mittlerweile gibt es in Deutschland 230 Büros und 2.500 ehrenamtliche Babysitter. Auf der Homepage wirbt wellcome mit dem bekannten afrikanischen Sprichwort, wonach ein ganzes Dorf nötig sei, um ein Kind zu erziehen. Wellcome macht Dorfbewohner miteinander bekannt, die einander sonst nicht finden würden. In Anke Nestlers Haus in Berlin-Friedrichshain zum Beispiel lebt eine Familie mit Kleinkind, aber es gibt bisher kaum Kontakt. "Aber ich kann die Eltern schlecht einfach ansprechen und fragen, ob sie mich brauchen können", findet Nestler.
Jeder fünfte Bürger lebt mittlerweile in einem Singlehaushalt. Tendenz: steigend, vor allem bei Männern. In Großstädten wie Berlin wohnt fast jeder Dritte allein; eine große Umfrage ergab vor einiger Zeit, dass einer von fünf Deutschen seine Nachbarn nicht kennt. Trotzdem sei der Eindruck falsch, dass die Menschen isolierter lebten als früher, sagt Thomas Petersen vom Institut für Demoskopie Allensbach. Weniger Menschen sagten in Umfragen, sie seien oft allein und könnten mit niemandem über ihre Sorgen sprechen. Und falsch ist offenbar auch der Eindruck, mehr Menschen würden in den Städten isoliert und desinteressiert nebeneinanderher leben. Eher gibt es einen neuen Sinn für Nachbarschaft , ein wachsendes Interesse am Menschen von nebenan.
Die Meinungsforscher aus Allensbach ermitteln seit Jahrzehnten, welche Bedeutung Nachbarn haben – und welche Gefälligkeiten die Bürger denen erweisen, die in der unmittelbaren Umgebung wohnen. Während 1953 nur 22 Prozent ihren Nachbarn Gegenstände ausliehen, waren es 2007 schon 51 Prozent. Der Anteil derjenigen, die Nachbarn gelegentlich einladen und mit ihnen feiern, stieg sogar von 13 auf 43 Prozent. Und während in den fünfziger Jahren nur jeder Fünfte gelegentlich für Nachbarn Einkäufe erledigte, macht das mittlerweile jeder Dritte. Auch bei der Kinderbetreuung hilft man einander häufiger als früher. "Die Annahme, in der modernen Welt verkümmerten die Nachbarschaftskontakte, lässt sich nicht halten, im Gegenteil", sagt Petersen. Eher scheinen viele Menschen geradezu Lust auf Kontakt zu jenen Menschen zu haben, die sie beim Hundausführen oder in der Straßenbahn treffen und die oft eine Menge wissen: wann sie aufstehen und ob sie morgens schlechte Laune haben beispielsweise, ob sie ihr kaputtes Auto sofort oder erst nach Wochen reparieren lassen und in welchem Ton sie mit unartigen Kindern schimpfen.
Die Grenzen zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit verwischen
Vor fünf Jahren ließ das Meinungsforschungsinstitut Gallup in 86 Ländern unter anderem die Frage stellen, von wem die Menschen am ehesten erwarteten, dass sie ihr verlorenes Portemonnaie zurückerhielten – von einem Polizisten, einem Nachbarn oder einem Fremden. In 58 Ländern war das Zutrauen in die Nachbarn größer als das in die Polizei, was allerdings oft eher etwas über das geringe Vertrauen in die öffentlichen Instanzen aussagte. Je schwächer staatliche Institutionen sind, desto größer ist das Interesse an anderen Hilfssystemen.
Hierzulande ist die Offenheit für die Nachbarn allerdings neu. Man kannte die Deutschen als Volk, das am Strand Sandburgen errichtete und deswegen belächelt wurde, das seine Gärten durch höhere Zäune abgrenzte und Fenster mit dichteren Gardinen verhängte als etwa die Niederländer oder die Dänen. Und mit dem Satz "Was sollen die Nachbarn denken?" wuchsen in der alten Bundesrepublik ganze Generationen auf, er klang nach Sozialkontrolle und erzwungener Konformität.
Kommentare
Gute Nachbarn sind Gold wert
Gute Nachbarschaft bedingt eine Kommunikation auf Augenhöhe.
Hilfe bedingt Gegenseitigkeit, Leider gibt es auch immer wieder den "könnt ich mal dein XYZ borgen", der aber dann
beim Grillfest sich nicht mehr an den Nachbarn erinnert.
Gute Nachbarschaft, wie hier beschrieben,
sollte in einer entwickelten Gesellschaft doch selbstverständlich sein. Für die alte Nachbarin mal ein Brot oder Milch mit einzukaufen, wenn ich eh einkaufen gehe, sollte doch eigentlich kein Thema sein.
Vielleicht müssen Städtebauer eher darauf achten, öffentlichen Raum zu schaffen, wo man sich begegnen kann. Gab es da nicht schon gute Beispiele mal in Freiburg? Wo man sogar fast miteinander gewohnt hat?
Musste lachen bei dem "Portemonnaie". Auf der Strecke Hamburg-München hatte mal eine Frau ihre Handtasche in der Mulde zwischen den Sitzen vergessen (im offenen ICE-Waggon). Sie und ihre Reisegruppe sind in WÜ auf dem Weg nach RT ausgestiegen. Ich hatte sie nur ganz kurz gesprochen, wegen Zeitschriften, die ich dabei hatte.
Nichtdestotrotz habe ich in der Handtasche nach Namen geschaut (Ausweis) + in die Brieftasche, damit ich weiß wie viel Geld drin ist, ehe ich die Handtasche dem Schaffner übergebe. Neben mir saß auch noch ein BW-Soldaten, der dies hätte bestätigen können.
Am nächsten Morgen (Montag) vom Büro aus, rufe ich die Frau dann um halb neun an um ihr mitzuteilen, dass ich ihre Handtasche im Zug abgegeben hatte. Das hatte sie sogar erwartet, denn sie hat ihrem Mann noch in WÜ gesagt, "der nette Herr gegenüber wird sie hundertprozentig abgeben". Deswegen war sie über meinen Anruf nicht überrascht, hat sogar gedacht als es klingelt, "das ist er".
Und das unter völlig Fremden im Zug ... schön, gelle?!
@Ataraxis
Sie schreiben:
"Vielleicht müssen Städtebauer eher darauf achten, öffentlichen Raum zu schaffen, wo man sich begegnen kann."
Das ist ein ganz wichtiger Aspekt, Räume zu schaffen, die Begegnungen und zugleich privaten Rückzug ermöglichen.
Als unsere Kinder klein waren, wohnten wir in einer Doppelhaushälfte, die an einem Privatweg lag. Obwohl wir in einer Großstadt leben, standen unsere als auch die Türen der Nachbarn offen. Unsere Kinder aßen bei den Nachbarn und stellten das schmutzige Geschirr bei uns in die Spülmaschine oder umgekehrt.
Als die Mutter unserer Nachbarn einmal ziemlich teilnahmslos auf der Gartenbank saß, ging ich zu ihr. Sie sagte mir, ihr sei schlecht, sie sei gefallen. Ich rief den Krankenwagen an, fuhr mit ihr ins Krankenhaus. Sie hatte zwei komplizierte Brüche.
Wenn wir in den Urlaub fuhren, kümmerten die Nachbarn sich um unsere Katzen. Wir auch um ihre.
Einer unserer Nachbarn war Arzt. Ihn konnte ich immer, auch nachts zu den Befindlichkeiten unserer Kinder befragen.
Beim Schneefegen fegte derjenige, der zuerst wach war. Dafür nahm der Nachbar auch den Rasenschnitt mit zur Kompostieranlage. Wir regelten das nicht.
Und wenn man mal richtig traurig war oder Beziehungsprobleme hatte, dann ging man 10 oder 20 Meter zu den Nachbarn, um sich auszuheulen und trösten zu lassen.
Und das spontane Zusammensein im Garten nicht zu vergessen.
Diese Form der nachbarschaftlichen Aufmerksamkeit macht ein großes Stück von Lebensqualität und Heimatgefühl aus.
Niriu.com
Die Webseite von Niriu.com ist ja total auf Google optimiert, daß ich da lieber die Finger von lasse.
Sponsoring sollte man wenigstens deklarieren.
was ist denn mit Google?
Was haben Sie denn gegen Google? Wissen Sie etwas Konkretes, was alle wissen sollten? Dann möchten wir es bitte auch wissen. Andeutungen helfen nicht weiter.
Kommt darauf an
Es kommt sehr darauf an, was die Nachbarn für Leute sind. Wenn man ein Paket angenommen hat und dann dafür kriminalpolizeilich vernommen wird, ist es nicht witzig. ich habe sehr positive Erfahrungen mit Nachbarschaft gemacht, aber es gibt auch andere, da sollte man seine Instinkte wach halten. Helfen bei Problemen würde ich aber erstmal jedem. Im Winter streue ich hier sogar die Kreuzung, weil bei Glatteis kein Fahrzeug mehr von der Ampel kommt. Unserer Stadt ist das egal. Die macht Dienst nach Ermessen, d.h., Nobelviertel kommen zuerst.