Es muss an der Kraft und Schönheit der Musik liegen und am besonderen Ausdruck der menschlichen Stimme im Gesang, dass wir uns nach wie vor für das alte Repertoire der Oper interessieren. Wie der Flugschreiber einer vom Himmel gestürzten Passagiermaschine bewahren diese Opern Reste menschlichen Lebens und erscheinen im routinierten Alltag der Betriebe dennoch meist nur als leblose Überbleibsel einer vergangenen Kultur. Weil es ihre Aufgabe ist, zwischen den alten Werken und dem zeitgenössischen Publikum zu vermitteln, werden für diesen beklagenswerten Zustand vor allem die Regisseure verantwortlich gemacht.
Die meisten Operninszenierungen folgen heute einem ausgeklügelten Regiekonzept, das auf der Bühne konsequent umgesetzt, bebildert und konfiguriert wird. Dabei haben viele Regisseure eine Tendenz zur Aktualisierung zum Prinzip ihrer Inszenierungen erhoben. Doch diesem Prinzip wohnt, bewusst oder unbewusst, eine erhebliche Selbstbezüglichkeit inne – man spiegelt die eigene Welt in einem fremden Werk. Zuletzt war dieses Verfahren in der Bohème-Inszenierung der Salzburger Festspiele zu besichtigen; die Bühne zeigte ein Abrisshaus beziehungsweise eine Imbissstube, und in der Rolle der Mimi spielte und mimte Anna Netrebko eine Punkerin.
Allerdings wird bei diesen Aktualisierungen die Fremdheit der oft Hunderte Jahre alten Werke gerne ignoriert. Die Handlung ist folgerichtig nicht mehr im historischen Ambiente angesiedelt, die Ausstattung ist modern und der Gegenwart optisch und materiell angepasst. Gepaart mit der Bemühung um Wahrhaftigkeit, muss das uns geschichtlich entrückte Arsenal an Operngestalten heute deshalb vor allem eines sein, nämlich glaubwürdig – im Sinne eines völligen Aufgehens in der Rolle. Deshalb ist die Personenführung psychologisierend und der Gesang bei einer entsprechend überzeugenden Rollendarstellung fast nicht mehr wahrnehmbar, seltsam neutralisiert, gleichsam unhörbar. Das Medium des Gesangs wird in seiner Besonderheit regelrecht negiert, und es berührt nicht mehr.
Fast alle Operninszenierungen zielen heute darauf ab, dem Publikum eine schlüssige Gesamtaussage zu präsentieren. Die Voraussetzung hierfür bildet die Erwartung an die jeweiligen Regisseure, eine "Deutung" des auf dem Spielplan stehenden Werks abzuliefern. Ein postulierter "Sinn" des Werks, seine "Wahrheit", soll dabei stets den Bezugspunkt bilden und in einer künstlerischen Interpretation erschlossen werden. Ohne Übertreibung darf man wohl behaupten, dass diese aktualisierende Inszenierungspraxis heute zum vorherrschenden und alles bestimmenden Modell jedes Regietheaters geworden ist. Es prägt große Teile der deutschen und mittlerweile auch der internationalen Opernlandschaft.
"Kunst definiert sich durch die Unwahrscheinlichkeit ihres Entstehens", hat der Soziologe Niklas Luhmann einmal geschrieben, und der Dramaturg Carl Hegemann, der ihn zitiert, ergänzt: "Das Unwahrscheinliche ist in der Kunst wahrscheinlich geworden." Dieses Dilemma betrifft selbstverständlich auch die Oper in ihrer derzeit gängigen Realisierungsform. Denn das einmalig Ereignishaftes, zum Beispiel schockierende Momente oder andere irritierende Phänomene, die einen so zu fesseln in der Lage wären, dass eine nachhaltige Wirkung entsteht, und denen man im Sinne Luhmanns einen Kunstcharakter zuzusprechen hätte, vermisst man bei vielen Aufführungen zusehends.
Und noch andere Faktoren haben den Repertoirebetrieb in eine Sackgasse geraten lassen. Der aktualisierende Stil zerstört die Oper in ihrer tradierten Form, so wie man sie bis in die siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hinein pflegte – im historischen Kostüm, mit einer treu nacherzählten Handlung, diktiert von einer redlich verstandenen Werktreue. So kannte der Zuschauer "seine Opern", deren Musik und Handlung mehr oder weniger im jeweiligen Umfeld zu Hause waren. Allerdings: Ein Zurück gibt es heute nicht mehr. Ein Figaro, eine Aida oder Fidelio im historischen Gewand – das wirkt heute nur schlecht verkleidet und allemal unzeitgemäß. Und wenn, dann schielt man damit nur auf den konservativen Zuschauer, der die verbürgte Form verteidigt wissen will.
Schon 1981 schickte Hans Neuenfels Aida als Putzfrau auf die Bühne; Jahrzehnte später, 2009, ließ Graham Vick die gefangenen Äthiopier aus der gleichnamigen Oper in der orangefarbenen Kleidung der Guantánamo-Häftlinge auftreten. Solche Beispiele legen natürlich die Frage nah: Wie geht ein Regisseur mit der Tatsache um, dass sich seine Neuinterpretation – angesichts der zahllosen aktualisierenden Lesarten – gar nicht mehr auf das ursprüngliche Werk beziehen kann, weil dies beim Zuschauer nicht mehr präsent ist? Und will das Publikum die tausendste Interpretation einer Aida überhaupt noch sehen?
Kommentare
In Kiel versetzte man die Aida in ein Szenengemisch aus Wildem Westen und Golfkrieg.
Eine Art singender John Wayne saß vor einer Leinwand - pardon: Videoinstallation - auf der während seiner Arien startende B52-Bomber dem Publikum einen intensiven Einblick in die Welt der ägyptischen Pharaonen vermitteln konnten.
Sie fragen: "Und will das Publikum die tausendste Interpretation einer Aida überhaupt noch sehen?"
Ich würde sagen: eindeutig ja!
Das Publikum will unterhalten werden, es will für zweieinhalb Stunden die Kunst genießen und den Alltag draußen an der Garderobe abgeben.
Manche gucken dafür zum tausendsten Mal eine volksverdummende Castingshow auf einem Privatsender im Fernsehen, manche gehen eben zum tausendsten Mal in die Oper, um sich - wie in diesem Beispiel beschrieben - von Verdis großartiger und unübertroffener Musik verzaubern zu lassen.
Das sollte jedem selbst überlassen bleiben, und es sollte die Aida auch noch zum zweitausendsten Mal geben (dürfen).
[...]
Gekürzt. Bitte achten Sie auf Ihre Wortwahl. Danke, die Redaktion/ds
Komponist/Librettist vs. Regisseur
Mein Anspruch an die Aufführung der klassischen Oper ist die ästhetische Kontaktaufnahme (im Wissen um die Beschränktheiten und die Subjektivität) mit der Ideen- und Gefühlswelt der Schöpfer des Werkes. Eine Person, die diese Oper inszeniert und sich wiederum als Künstler betrachtet, empfinde ich als störend, da sie die Dimensionen der Oper um ihre eigene geradezu zwanghaft erweitert. Ich bin mir bewusst, dass es keine "richtigen" Inszenierungen geben kann, aber Lösungen "im Sinne des Erfinders". Merkwürdig, dass viele Opern in Phantasiewelten, exotischen Regionen oder in der zeitgenössischen Vergangenheit gesetzt wurden, also distanziert waren, während die moderne Inszenierung den Alltag und das Unmittelbare wie selbstverständlich bevorzugen. Natürlich ist mit Werktreue keine Karriere zu machen. Aber ich möchte mich dem ästhetischen Zugriff eines Regisseurs heutiger Auffassung auf mein Empfinden verweigern, ich gestehe ihnen nicht das Recht zu, auf mich einzuwirken, dies soll der oder dem Schöpfenden vorbehalten bleiben. Ich kann mich den Vorschreibern begrifflich nur anschließen: Ich erwarte nicht, aus der Regie von neuen Kunstauffassungen behelligt zu werden, ich erwarte solides Handwerk. Und die vorgebliche Miteinbeziehung des Publikums ist für mich reine Anbiederung, oder, noch schlimmer, Hilflosigkeit.
... himmelhilf ...
"Opernregietheater" - den Quatsch gibt's IMMER NOCH ??
Ich dachte, Eckhard Henscheid hätte scon vor einigen Jahrzehnten Entgültiges darüber geschrieben und den Unsinn damit beerdigt?!
(ich habe einmal Neuenfels' Verhunzung von Mozart - natürlich ein RIESEN-Penis auf der Bühne - gesehen. Mein Gott, dachte ich: Mozart für Doofe)
Kurzfassung
Kurzfasssung des Artikels:
Reinhard Mey, "Zwei Hühner auf dem Weg nach Vorgestern"...besonders die letzten 2 Zeilen.