Es war im vergangenen Herbst, an einem festlichen Anlass in Bern. Es trat eine der wichtigsten Politikerinnen dieses Landes auf, Bundespräsidentin Eveline Widmer-Schlumpf. Schon ihr Stil war unüblich für hiesige Verhältnisse. Sie gab sich nämlich auf der Bühne im Gespräch mit dem Chefredakteur der ZEIT ungezwungen, sie zeigte ab und an einen Sinn für Humor und gar für Selbstironie. Das war das eine, was aufhorchen ließ.
Viel bemerkenswerter aber war ein Wort, es kam nur ganz kurz vor, aber gerade durch diese Kürze wurde es zu einer Sprachbombe. Eveline Widmer-Schlumpf sagte, das Schweizer Volk habe, angesichts der zunehmenden Einwanderung, "Angst". Die Bundesrätin sprach damit ein Gefühl aus, das die meisten Politiker nicht in den Mund nehmen, weil es ihnen unangenehm ist. Kein Wähler, meinen sie, möchte mit diesem Begriff beschrieben werden. Aber kein Wort trifft die Wahrheit besser.
Nach der Veranstaltung, es ging gegen elf Uhr abends, trat ich auf die Bundespräsidentin zu, sie war schon halb im Mantel, um die paar Schritte zu gehen zu ihrem Schreibtisch im Bundeshaus. Die Bundesrätin arbeitet viel, vielleicht zu viel. Ich wollte ihr zum Abschied meine Hochachtung für diesen beherzten Auftritt zum Ausdruck bringen. Sie aber schien ob des Kompliments zu erschrecken und hob abwehrend die Hände und sagte: "Bin ich nicht schon zu weit gegangen? Habe ich nicht schon zu viel gesagt? Wissen Sie, das alles, meine Aufgabe, ist eine ständige Gratwanderung. Aber haben Sie besten Dank." Dann ging sie, ihre Aktenberge abzuarbeiten. Und ich ging auch. Ein bisschen konsterniert.
Was ist das für ein Land, in dem sich eine Spitzenpolitikerin hinterfragt, wenn sie die Wahrheit sagt?
Aber nehmen wir doch die Bundespräsidentin beim Wort, denken wir weiter, machen wir das, was sie öffentlich nicht vertiefen will.
Halt!, schreien aber nun schon einige. Angst? Wir haben doch keine Angst! Wir sind doch das reichste, freieste und glücklichste Volk der Welt! Das sagen die Zahlen, die Umfragen, die Rankings. (Das alles ist richtig, wenn auch nur mit Einschränkungen. So ist die Selbstmordrate für westeuropäische Verhältnisse erstaunlich hoch und die Zufriedenheit angesichts des Reichtums nicht so groß, wie man erwarten würde. Aber lassen wir das jetzt mal beiseite.)
Keinem geht es also so gut wie uns. Die Metaphern von der Schweiz als einer "Insel der Glückseligen", einem "Fels in der Brandung", einem "Paradies" sind in diesen europäischen Krisenzeiten wie selbstverständlich in den Wortschatz der öffentlichen Rede übergegangen. Der Konsens, auf den sich die Schweiz offenbar geeinigt hat, lautet: Wir sind, um mit dem russischen Schriftsteller Maxim Gorki zu sprechen, "Kinder der Sonne". Aber andere wollen uns vor dem Licht stehen.
Wenn also alles gut ist, warum sagt dann die Bundespräsidentin, die kraft ihres Amtes für alle zu sprechen hat, wir hätten Angst? Warum hat eine ihrer Vorgängerinnen, die damalige Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey, im Februar 2010 in einer Rede am Theater Basel gesagt: "Wir leben in einer Art Schock"? Weil es so ist. Die Schweiz wacht, langsam, auf aus einem Traum des unbekümmerten Wohlstandes.
Kommentare
Herzl. Grüsse von Doktor Freud
Die Schweizer beschäftigen sich unentwegt mit ihrer Psyche. Sind sie nun die glücklichsten Menschen des Erdballs? Oder gibt's am Ende noch glücklichere. Das geht aber nicht. WIR sind die glücklichsten.
Auch wenn wir Glück offenbar als pathologischen Schockzustand erleben und unter dem Harpagon-Syndrom leiden (= Angst, permanent bestohlen zu werden).
Wer sich dauernd so hingebungsvoll mit sich selber beschäftigt, leidet unter einer Neurose, die Vorstufe der Psychose. Häufig ist damit auch ein Drang zu sexueller Selbsbefriedigung verbunden.
"Die Neurose ist eine allgemeine psychische Verhaltensstörung längerer Dauer. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass sie erst im Laufe der Entwicklung entstanden ist. Seine ihm charakteristischen Verhaltensstörungen vermag der Neurotiker nicht zu kontrollieren, er ist sich seines Leidens jedoch bewusst und an sich fähig, dessen Ursachen zu ergründen. Gemäß Freuds Theorie führt dieses geistige Streben zu ersten therapeutischen Ergebnissen, vor allem in Anwendung der Traumanalyse."
Also denn: Ja, Herr Dr.Freud, machen wir denn halt unentwegt weiter in unserer Traumanalyse. Vielleicht gelingt ja doch irgendwann die Selbsttherapie. Es sieht zwar nicht danach aus, aber seien sie gewis, Herr Doktor Freud: Wir melden uns, wenn es so weit ist, und stimmen ein Hallelujiah an!
Schneewittchen-Syndrom?
Ein wunderschönes Märchen: Eine wunderhübsche Jungfrau lebt bei den Zwergen in Frieden.
Dann die Mutter, die ihren Spiegel fragt, der die erwünschte Antwort gibt, - aber mit dem kleinen berühmten Nachsatz, der wohl jede eitle Frau mindestens bis an die Decke jagen dürfte.
Man kann die beiden Frauen auch als identisch ansehen, die eine die jüngere, die andere einfach ein paar Jahre älter.
Wenn man das Märchen auf die alte Helvetia anwendet (nein, nicht die, die da so verloren auf der Brücke in Basel rheinabwärts schaut!), ergibt sich ein schönes aktuelles Kulturbild des Landes. Der Traum der Schönheit war mal, der Spiegel erwähnt es ja noch. Nur, es gibt da schon was ganz anderes..: Die EU als die virtuelle Tochter einer friedlichen Gemeinschaft, die mit ihrem einfachen Sein die alte Dame bedroht. Real?, nein zuerst in der Phantasie, in der von der Bundesrätin ausgesprochenen Angst. Gut, man könnte es mal mit einem vergifteten Apfel o.ä. probieren, aber man ahnt ja schon im Märchen, dass es ein primitives, eigentlich sinnloses Unterfangen ist, so wieder die alten Zustände herstellen zu wollen.
Aktuell probiert man es mit der Vermehrung der Spiegel, aber da war die alte Dame schon schlauer, denn sie wusste, der nächste Spiegel dürfte ihr das Gleiche sagen.
Wie das Schweizer Schneewittchen-Märchen ausgehen wird, weiss ich nicht genau, aber am Ende könnte die alte Helvetia tatsächlich etwas verloren rheinabwärts schauen.