An der Supermarktkasse kommt die Angst. Butter, Käse und ein paar Äpfel liegen auf dem Band, die Kassiererin scannt die Einkäufe und nennt einen Betrag. Nadine Petersen kramt in ihrem Portemonnaie. In der Schlange hinter ihr stöhnt jemand. Petersen wird hektisch, groß kann der Betrag für die paar Sachen nicht sein, überlegt sie, ob ein paar Silbermünzen reichen? Als die Menschen hinter ihr immer unruhiger werden, resigniert sie, nimmt einen Schein aus dem Portemonnaie und gibt ihn der Kassiererin. Keine Einwände, der Schein reicht also aus. Petersen bekommt eine Handvoll Münzen zurück und packt eilig ihre Einkäufe zusammen.
Bezahlen an der Supermarktkasse – für die meisten Menschen ist das selbstverständlich, für Nadine Petersen, 25 Jahre alt, ist es eine Qual. Sie hat Dyskalkulie, eine Teilleistungsstörung, die umgangssprachlich manchmal Zahlenblindheit genannt wird. Laut einer Studie von Michael von Aster, Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie am DRK Klinikum Westend in Berlin, leiden etwa sechs Prozent der deutschen Bevölkerung darunter. Trotz ihrer Verbreitung ist die Rechenstörung recht unbekannt, denn häufig, so Michael Aster, werde fälschlicherweise angenommen, den Betroffenen fehle es an Intelligenz. Und auch Betroffene selbst merken oft nur, dass es nicht richtig klappt mit ihnen und den Zahlen – ohne zu wissen, woran es genau liegt.
Petersen sagt, sie würde es vielleicht hinbekommen, der Kassiererin den Betrag einigermaßen passend zu geben, aber das würde sehr lange dauern, weil sie die Summe an den Fingern abzählen müsste.
Menschen mit Dyskalkulie fehlt das Verständnis für den Wert, den eine Zahl symbolisiert. Normalrechnende haben mit der Zeit verinnerlicht, einem Zahlwort die entsprechende Menge zuzuordnen. Dadurch können sie Verhältnisse automatisch abschätzen, etwa dass 132 größer ist als 118. Menschen mit Dyskalkulie können das nicht. Betroffene beschreiben Zahlen als "Hieroglyphen". Mit kleineren Summen können manche umgehen, weil sie die Zahlenfolge ein Stück weit auswendig gelernt haben. Auch Ergebnisse für kleinere Rechnungen wie "vier plus fünf" können sie daher aufsagen. Das hat Gerd Schulte-Körne, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der LMU München, beobachtet. Er arbeitet mit rechengestörten Heranwachsenden und ist oft erstaunt über ihr gutes Gedächtnis. Bei krummen Geldbeträgen, wie sie im Alltag vorkommen, 18,83 Euro etwa, hilft das allerdings nicht mehr.
Dass sie nicht mit Zahlen umgehen kann, ist Petersen unangenehm, nur ihr engstes Umfeld weiß davon. Deswegen möchte sie ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen. Erst vor einem Jahr hat sie die Diagnose bekommen. Den Begriff Dyskalkulie kannte sie vorher nicht, aber dass etwas anders ist bei ihr, war ihr schon lange klar. Auf Zahlen zu treffen lässt sich nicht vermeiden. Rechnungen, Kontostand, Verträge, Uhrzeit, Rezepte, Entfernungen: Der Alltag ist mühsam, wenn einem überall Hieroglyphen begegnen.
Petersen erzählt, dass sie, wenn möglich, mit einer Freundin einkaufen geht. An der Kasse drückt sie ihr das Portemonnaie in die Hand. "Mach du das", sagt sie dann. Sie selbst zählt das Wechselgeld sowieso nicht nach, wie auch. Im Internet oder mit EC-Karte einzukaufen, vermeidet Petersen – aus Angst, zu viel auszugeben. Schulden bei der Bank hat sie nicht, aber bei Freunden muss sie sich ab und zu mal etwas leihen.
Kein Verständnis für den Wert von Geld zu haben beeinträchtigt das Leben in fast allen Bereichen. Auch im Job. Die eigene Leistung wird in Euro gemessen, bei Lohnverhandlungen etwa. Nicht mit Geld umgehen können bedeutet, abhängig zu sein. Von Freunden, die einen unterstützen. Von Chefs oder Geschäftspartnern, die einen nicht ausnutzen, wenn sie merken, da hat einer kein Gefühl für den Wert von etwas. Manchmal arbeitet Petersen als Tänzerin in Discos. Ein Bekannter hilft ihr dabei, am Monatsende zu prüfen, ob ihr das richtige Gehalt ausgezahlt wurde. "Ich will gar nicht wissen, wie oft ich schon beschissen worden bin", sagt Petersen.
Kommentare
Das macht individuelle Förderung so wichtig
Gerade bei Kindern können die nötigen Verknüpfungen im Gehirn doch noch aufgebaut bzw. kompensiert werden, da das Gehirn noch so unglaublich anpassungsfähig ist. Dafür müssen die Probleme natürlich früh erkannt und vernünftig eingeschätzt werden. Wenn jemand Probleme mit Zahlen hat aber mit Lesen, Schreiben und Verstehen nicht, ist es sehr einfach eine Rechenschwäche festzustellen und nicht mangelnde Intelligenz vorzuschieben. Allerdings frage ich mich wie häufig es sich tatsächlich um eine angeborene Gehirnfehlleistung handelt und wie oft grundlegende Fähigkeiten einfach in der Kindheit nicht richtig erworben wurden. Wir übersehen oft, welche Lernleistung Babies, Kleinkinder und Kinder vollbringen und wie wichtig es ist, ihnen dafür ein Umfeld zu bieten.
"....ihnen dafür ein Umfeld zu bieten."
Haben Sie eine Idee wie das Umfeld beschaffen sein müsste? Wie es die Entwicklungspsychologie aus förderlich einschätzt? Mal davon abegesehen, dass in der Profession sehr unterschiedliche Meinungen im HInblick auf die Frühförderung bestehen.
Am Beispiel Legasthenie lässt sich im Übrigen zeigen, dass eine Förderung durch Gutachten hier und Gutachten dort (immerhin schon im Grundschulalter) empfoheln werden, z.B. die Jugendämter sich aber (Finanzen!) sehr zurückhaltend zeigen, was die Finanzierung entsprechender Lerntherapien angeht, und die Lehrer im Primar- und Sekundarschulbereich diesen Job nicht auch noch übernehmen können. Wenn sich heruasstellen sollte, dass Dykalkulie ähnlich häufig wie Legasthenie auftritt, könen sie sich vorstelen wie es um die Finanzierung der Frühfördeurng bestellt sein wird (neben den anderen Leistungen nach dem KjHG)
Ich habe den Eindruck dass die "moderne Gesellschaft" "unzeitgemäss befähigen" Menschen immer weniger Möglichkeiten zur Existenzsicherung bietet, und eine staatliche Alimentierung....? na, ich weiß nicht. Oder vielleicht doch, Stichtwort "Bürgergeld", "bedingungsloses Grundeinkommen", auch wenn es aktuell sehr utopisch klingt. Sie merken Ihren Förderoptimismus teile ich nicht...
keine Überschrift...
Ich kenne Menschen mit Dykalkulie, die den Hauptschulabschluß gemacht haben. Aber welche Kompetenz setzte die Frau ein, um das Abitur zu schaffen (Rechnen mit allgemeinen Zahlen, Analysis, Algebra; wie füllt sie ihren Urlaubsantrag aus, oder falls noch vorhanden, Stempelkarte, Einkommensteuer, Kontoführung). Ich denke mal, Dyskalkulie lässt sich nicht heilen, wie ein Schnupfen, wächst sich nicht aus, und ob eine Frühförderung ("Vorschulerzieherung") etws bringt, scheint mir fraglich. Wie Analphabeten entwickeln Zahlenblinde wahrscheinlcih ganz tolle (aber anstrengende) Strategien um im Alltag klar zu kommen, auch wenn im Beruf, die Welt der Zahl eine unüberwindbare Hürde darstellt, ist wohl Schicht im Schacht . In Ihrem Artikel haben sie vergessen zu erwähnen, dass anders als bei der Legasthenie selbst bei attestierter Dyskalkulie keine entsprechende Anpassung der Notengebung stattfindet, zumindest nicht in NRW. Es wäre auch interessant zu erfahren, inwiefern es sich bei des Dykalkulie um eine "kulturelle" Problematik handelt, die erst dann auffällt, wenn es kein berufliches Einkommen oder wenigsten Auskommen gibt, wenn man nicht mit Zahlen operieren kann.
Da Sie Diskalkulie mit Analphabetismus vergleichen
dieser ist in den meisten Fällen behebbar. Bei Analphabeten handelt es sich überlicherweise um Menschen, die während einer essentiellen Phase des Lesenlernens nicht aufnahmebereit oder nicht ausreichend anwesend waren und in der Folge das Fundament für die weitere Entwicklung nicht zeigen konnten. Ich vermute, dass bei Diskalkulie ein ähnliches Problem vorliegt, weil mir nicht einleuchtet welcher Gehirnprozess hier gestört sein sollte, der sich nur auf Zahlen beschränkt.
Ich möchte nichts fordern, was jemand nicht leisten kann. Wenn es tatsächlich ein körperliches Problem durch eine fehlerhafte Gehirnentwicklung ist, dass nicht mehr behoben werden kann, muss Diskalkulie als Behinderung anerkannt und kompensiert werden.
Wenn Diskalkulie allerdings nur auf ein zeitlich begrenztes oder behebbares Lernproblem (wie z.B. ADS oder haptischer Lerntyp, der nur visuelles und auditives Material vorgesetzt bekam) zurückzuführen ist, wäre es ein Verbrechen den Betroffenen den Eindruck zu vermitteln, sie litten an einer Art Behinderung und können niemals ein normales Leben führen.
Individuelle Förderung hilft nicht immer weiter -1
Wir haben unsere Tochter schon früh in der Grundschule zweimal wöchentlich zu individuellem Konzentrationstraining und Dyskalkulietherapie geschickt. Dennoch bekam sie meist eine 5 in Mathe und musste schließlich "freiwillig" eine Klasse wiederholen. (Gebracht hat das übrigens garnichts - reine Zeitverschwendung!) Das Einmaleins beherrscht sie - Auswendiglernen ist schließlich keine Kunst.
Irgend wann endet die Bereitschaft eines jeden Kindes zum zusätzlichen Förderunterricht zu gehen, während andere Kinder ihre Freizeit für Spiel und Sport nutzen können. Irgend wann begreift auch ein Grundschulkind, dass mit ihm "etwas nicht stimmt", dass trotz hohen Lernaufwands kein Ertrag in Form besserer Noten folgt.
Wir haben unsere Tochter zum Ende der Grundschulzeit nochmals auf Dyskalkulie testen lassen, diesmal in Verbindung mit Test auf ADS. Sie erhält seit einem halben Jahr Stimulanzien, landläufig als "Ritalin" bekannt. Mit Mathe klappt es nun deutlich besser, sie ist jetzt eine recht gute Schülerin. Nachholen oder aufarbeiten musste sie in Mathe nichts, sie kann dem Unterricht gut folgen, hat keine Lücken. Wir fragen uns dabei, ob das viele Üben und der Förderunterricht dabei vielleicht doch geholfen haben, sind aber keinesfalls sicher.
Vielleicht hatte sie gar keine Diskalkulie
nach ihrer Erzählung klingt es so als hätte sie lediglich die Konzentrationsschwäche durch ADS. Natürlich kann keine Besserung auftreten, wenn man das falsche behandelt. Stoffwechselstörungen im Gehirn lassen sich durch individuelle Förderung nicht beheben. Man kann nur Tricks einüben, damit ihre Folgen weniger gravierend sind. Die tatsächliche Behandlung erfolgt natürlich mit Medikamenten.
Das Krankheitsbild der Diskalkulie -wie es in dem Artikel rüberkommt- scheint eine Störung in der Verbindung von Zahlen und Mengen zu sein (oder eine Störung in der Entwicklung des Mengenverständnisses allgemein). Ich halte es unwahrscheinlich, dass dies ein biologisches Absolutum ist, dass nicht gebessert werden kann.
Individuelle Förderung hilft nicht immer weiter -2
Ich kann Eltern nur den Rat geben, das Kind bei Verdacht auf Rechenschwäche frühzeitig testen zu lassen und die Testung ggf. zwei oder drei Jahre später wiederholen zu lassen - möglichst an einer anderen Einrichtung. Auch sollte man ADS/ADHS nicht ganz außer Betracht lassen.
In einigen Bundesländern gibt es "Nachteilsausgleich". Man sollte seinem Kind alles zugute kommen lassen, was der Vermeidung einer schlechten Note dient. Denn schlechte Noten haben die Kinder nicht verdient, wenn sie immer Hausaufgaben gemacht und vor Klassenarbeiten geübt haben.
Ob individuelle Förderung hilft? Trotz mehrjähriger professioneller Förderung meines Kindes weiß ich es nicht.
Man sollte aber viel dafür tun, dass sich das Kind nicht als Versager fühlt. Das ist ganz wichtig, denn Mitschüler sind schnell dabei, sich auf "Loser" einzuschießen.
Stärken zu stärken bringt ein Kind weiter, als der oft vergebliche Versuch, die Schwächen auszugleichen.