Manchmal ist ein Sarg ein gutes Wahlgeschenk. Zusammengenagelt aus billigem Holz, beige oder grau gestrichen, dazu Kerzen, ein paar Blumen, Kaffee und Gebäck für die Trauergäste. In Honduras kann man sich damit beliebt machen. Hier gleiten die Toten meist in löchrigen Plastikplanen ins Grab, weil ihre Angehörigen sich nichts anderes leisten können.
Am 24. November sind Parlamentswahlen in Honduras. Gut für alle, die einen geliebten Menschen beerdigen müssen. Im Wahlkampf verschenken manche Politiker neuerdings Bestattungen. Es gibt viele Tote in Honduras.
Alle 74 Minuten stirbt hier ein Mensch einen gewaltsamen Tod. Nirgendwo auf der Welt ist die Mordrate höher.
95 Prozent des Kokains, das die USA erreicht, wurde zuvor durch Honduras geschmuggelt.
Fast jeder zweite der acht Millionen Honduraner lebt von weniger als 1,25 Dollar am Tag.
Nur 250.000 Honduraner zahlen Steuern.
Tegucigalpa, die Hauptstadt, ist ein urban gewordener Albtraum. Am Rand wuchern Wellblechsiedlungen die Hügel hinauf, dort bekriegen sich die Drogenbanden. Im Stadtzentrum wachen private Sicherheitsleute vor Hotels und Restaurants. Wer es sich leisten kann, umstellt sein Haus mit einer Mauer, darauf doppelt gerollter Stacheldraht.
Octavio Sánchez glaubt zu wissen, wie sich der Albtraum beenden lässt. Er hat eine Idee, die den Durchbruch bringen soll im Kampf gegen Armut und Kriminalität. Nicht nur in Honduras, sondern auf der ganzen Welt.
Sánchez sitzt auf einem kleinen gelben Sofa in Tegucigalpa, im ersten Stock des von Palmen umgebenen Präsidentenpalastes. Hinter ihm wummert die Klimaanlage. Sánchez ist 37 Jahre alt, ein pausbäckiger Mann mit scharfem Seitenscheitel. Sein Vater war Psychiater, seine Mutter Sekretärin. Wäre Sánchez nach der Schule im Land geblieben, wäre er wahrscheinlich Anwalt geworden. Obere Mittelschicht in Honduras.
Sánchez aber ging in die USA, schaffte es an die Harvard-Universität, studierte Jura, dann kam er zurück in die Heimat. Heute ist er Stabschef des honduranischen Präsidenten, er ist Politiker.
Sánchez war 15 Jahre alt, als er sich mit Stift und Papier hinsetzte und eine Geschichte schrieb: das Gedankengebäude eines pubertären Idealisten, der erschüttert ist von der Armut, die er auf den Straßen sieht. Sánchez nannte seine Geschichte Estirpe Maya, Stamm der Maya, weil die Maya in Honduras einst ein blühendes Reich errichtet hatten. Doch Sánchez’ Roman spielt nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft, im Jahr 2050. Es geht darum, wie Honduras zu einem der reichsten Länder der Welt aufsteigt. Der junge Sánchez beschreibt Bildungsreformen, die Befreiung der Frau, eine florierende Wirtschaft. Im letzten Kapitel ist Honduras Gastgeber der Fußballweltmeisterschaft.
Als seine Mutter das Buch las, sagte sie: "Octavio, später kannst du in die Politik gehen und das Land verändern." Das war 1991.
Seit elf Jahren arbeitet Octavio Sánchez für die Regierung. An seinem ersten Arbeitstag, damals als Referent für Landreformen, trug er einen Zettel in der Tasche. Darauf hatte er zwanzig Vorschläge geschrieben, wie sich das Land reformieren ließe. Ein neues Gesetz für den Arbeitsmarkt, ein anderes Gesundheitssystem, Experimente in der Bildungspolitik.
Er trug seine Gedanken vor, versuchte, Staatssekretäre zu überzeugen, Minister, manchmal hatte er Erfolg, sie stimmten ihm zu, ein paar Gesetze wurden geändert, trotzdem blieb Honduras so arm, wie es war.
Heute, als wichtigster Berater des Präsidenten, sagt Octavio Sánchez: "Wir haben die Kontrolle über unser Land verloren. Wir haben versucht, es zu reformieren, und sind gescheitert."
Seine Erklärung dafür lautet zusammengefasst so: Wir wollen den Drogenhandel bekämpfen. Dafür brauchen wir die Polizei. Aber viele Polizisten bessern ihren Sold auf, indem sie selbst Drogen schmuggeln. Das könnten wir verhindern, indem wir die Beamten besser bezahlen. Aber dafür haben wir kein Geld. Um mehr Geld in die Staatskassen zu bringen, müssen wir die Wirtschaft ankurbeln. Aber niemand investiert in einem Land, das vom Drogenhandel durchsetzt ist.
Wäre Honduras kein Staat, sondern ein Mensch, würde man sagen: Du musst noch mal neu anfangen, sonst wird das nichts. Bei einem Land geht das nicht.
Oder vielleicht doch?
Das ist die Idee, die Sánchez mit sich herumträgt. Eine Idee, wie sie nur ein Land umsetzen kann, das am Abgrund steht. Er sagt: Wir drehen alles zurück auf null, schaffen ab, was uns Probleme bereitet, Gesetze, Institutionen, die Polizei, die Regierung, die Gerichte, einfach alles. Und dann fangen wir noch mal ganz von vorn an, machen aber diesmal alles richtig. Ein nationaler Neustart. Könnte das gelingen?
Kommentare
Die Welt verändern durch Tabula Rasa?
Die in diesem Artikel als sehr positiv dargestellten Charter Cities (Modellstädte) sind inzwischen in Honduras als "Wirtschaftliche Arbeits- und Entwicklungszonen" kurz davor, an verschiedensten Stellen des Landes durchgesetzt zu werden - unter sehr starkem Protest großer Teiler der Bevölkerung. V.a. indigene und afrohonduranische Gemeinden wehren sich gegen die Charter Cities. Sie leben in den als marginal und unbenützt/ unnütz (d.h. für den kapitalistischen Markt unproduktiven) Landflächen, auf denen diese Zonen errichtet werden sollen. Denn der Grundgedanke der Charter Cities ist, von Null anzufangen, Tabula Rasa zu machen. Gewalt, Drogenkonflikte, Korruption einfach den Rücken zuzukehren und an einem unberührten Fleck von vorne anzufangen. Doch auch Ungleichheiten und Machtverhältnisse werden dabei ignoriert - sie sind nämlich nötig für das Charter City Modell, schließlich soll dieses aus transnationalen Konzernen bestehen und von reichen Ländern oder Millionären gesponsert werden. Tabula Rasa heißt, die Geschichte des Landes und der sozialen Kämpfe sowie Chancen auf die Transformation der Verhältnisse zu unterwandern. Die liberalistische Idee der Modellstädte, eine ultraextreme Richtung des Neoliberalismus, ist außerdem auf gefährliche Weise demokratiefeindlich. Die Gesetze sind im Vorhinein definiert, die Leute, die unter ihnen leben wollen (oder aufgrund der Armut dazu gezwungen werden), sollen das tun, diejenigen, die Kritik daran haben, müssen wieder gehen.
Eine phantastische Geschichte
Aber ...
zu Schön, um wahrhaftig ans Ziel zu gelangen.
Nationalismus , Chauvinismus, Geldgier,
Geltungssucht und Neid sind
immer noch die besten Zutaten um
grosse Ideen von innen auszuhölen.
Das Leben ist kein Sandkastenspiel !
man könnte jedes
Land der Welt ganz leicht reformieren,wenn die Leute die wichtigsten Regeln akzeptieren würden:
1. Jeder Euro oberhalb des Durchschnitts- Pro-Kopf Einkommens muss mehrheitlich (also mehr als 50 Prozent) in die Gemeinschaft fliessen
2. jeder kann beim Finanzamt nachgucken was jeder für Einkünfte hat.
Da aber ähnlich genannte (sozialismus) aber völlig anders geartete Staatsmodelle gescheitert sind,sind die meisten Völker,ausser die Skandinavier nicht intelligent genug dies zu akzeptieren.
Dabei sind diese zwei Regeln die Basis für ein Naturgesetz,daß auch und gerade im Kapitalismus gilt : Als Angestellter (ohne Risiko) ist dein Mehrwert gegenüber dem theoretische nutzlosesten Mitarbeiter begrenzt.
Mehr als ein geringer Faktor ist nicht möglich.
Mal sehen ob die Turbokapitalistischen Schweizer diese Regel ohne Steuern über die 1:11 Initiative möchten.
Falls ja,wäre die Schweiz wohl bald noch viel viel reicher als ohnehin schon.
Einen Versuch wert
Wikipedia: "Honduras ist nach Haiti eines der ärmsten Länder Mittelamerikas. 71,6 % der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze. ... Jedes Jahr wandern viele Honduraner ins Ausland aus, vornehmlich in die USA."
Wenn die Nachrichten stimmen, sterben dabei viele in Mexico.
Die Auswanderer kehren dabei der "Demokratie" in Honduras den Ruecken, um fast rechtlos in den USA zu ueberleben.
Wikipedia: "... Jugendbanden , die teilweise ganze Viertel und Städte terrorisieren...".
Unter solchen Umstaenden kann dieser Versuch, ein Einwanderungsland auf dem eigenen Staatsgebiet zu errichten, nicht einfach nur als Neoliberalismus oder Kolonialismus abgetan werden. Es ist der Versuch, die Lage der Menschen zu verbessern. So wie ich den Ansatz verstehe, werden die Menschen dort mehr Rechte haben als die illegalen Einwanderer in den USA.
Es wird auch weniger gefaehrlich sein, dort hinzukommen.
Ich war noch nie in Honduras, ich war einmal in Liberia und Sierra Leone - vor 1990. Seit dem frage ich mich, wie eine Verbesserung der Lebensumstaende in Staaten erreicht werden kann, deren innere Struktur fast voellig desolat ist.
Die Demonstrationen und Widerstaende in Honduras gegen dieses Projekt, hoeren sich fuer mich von denen gesteuert an, die bei einem Strukturwandel verlieren werden. Das sind Drogenbarone und andere Ausbeuter. Die koennen sich durchaus auch "linker" Parteien bedienen.