Eine türkische Version des Textes finden Sie auf Seite 3.
Etwa 100 Meter vom Gezi-Park entfernt sitzt Gökhan Biçici im Café Kumbara (Sparbüchse) und versucht zu erklären, wie der türkische Vater im Allgemeinen so funktioniert. Um ihn herum Studenten; einige lachen und scherzen miteinander, andere sind tief in ihre Bücher versunken. Auf den Tischen liegen unter Glasplatten lauter kleine Zettel mit Botschaften wie "Wer mir Englisch beibringt, dem will ich 40 Jahre lang ein Sexsklave sein" oder "Kämpfe für deine Freiheit, lebe und lass leben". Dies ist eine elternfreie Zone, in der man sich sogar die Getränke leisten kann. "Der typische türkische Vater ist stockkonservativ, solange seine Kinder zuhause wohnen, haben sie zu gehorchen und nach seinen Werten zu leben", sagt der 35-jährige Journalist. "Wenn sie zum Studieren in eine andere Stadt ziehen, will er gar nicht wissen, was sie treiben, obwohl er genau weiß, was da abgeht. Hauptsache sie treiben es nicht in seinem Viertel."
Das ist der türkische Generationenvertrag: Die Eltern fragen nicht genau nach, und die Kinder blamieren die Eltern nicht vor den Nachbarn oder der Verwandtschaft.
Jetzt aber droht Premierminister Recep Tayyip Erdoğan das Arrangement kaputt zu machen. Seit vergangener Woche erinnert er lautstark alle anderen Väter daran, dass ihre Kinder durchaus Dinge tun könnten, die sich nicht gehören. Erdoğan findet lange schon, dass der Sittenverfall des Landes voranschreitet – dieses Mal nicht wegen Abtreibungen und Alkoholgenuss, sondern weil Studentinnen und Studenten in gemischten WGs wohnen. Das müsse aufhören. Notfalls wolle man das mit Kontrollen und einem neuen Gesetz durchsetzen: "In einer solch chaotischen Umgebung kann alles Mögliche passieren! Und danach ist das Geschrei der Eltern nach dem Staat groß. Wir wollen zeigen, dass der Staat da ist."
Die Eltern schreien aber gar nicht nach dem Staat. Warum also bricht Erdoğan diesen Kulturkampf vom Zaun – wo noch gar nicht alle Wunden des Gezi-Protestsommers geheilt sind?
Der türkische Premier steckt in einer tiefen Krise. Er hat nie wirklich versucht, die Proteste der Gezi-Park-Bewegung zu verstehen. Er hat die Demonstranten çapulcu genannt, Plünderer. Die nun von ihm losgetretene Moraldebatte ist ein Symptom seiner eigenen Gezi-Depression: Er kann immer noch nicht glauben, dass "seine Kinder" so undankbar sein konnten, wie sie es im Sommer waren.
Einige in seiner Partei, der islamisch-konservativen AKP, versuchen immerhin, zu verstehen, was da eigentlich passiert ist – wie etwa der Abgeordnete Idris Bal, der einen eigenen parteiinternen Report über die Ursachen verfasste, die Fehler der Regierung inbegriffen. Es geht ein Riss durch die AKP. Erdoğan verprellt mittlerweile auch die eigenen Leute. Sein Vize Bülent Arınç – selbst sehr konservativ, ein langer Weggefährte und wie Erdoğan Gründungsmitglied der AKP – hatte anfangs noch versucht, alles für ein Missverständnis zu erklären. Dann jedoch widersprach er dem Premier und sagte, dass ein solches Gesetz gar nicht möglich sei.
Viele, die den ersten islamisch-konservativen Premierminister der Türkei anfangs unterstützt haben, wenden sich ab. Zuerst hat er Liberale und Intellektuelle verloren, die sich mit ihm zunächst gegen den autoritären Säkularismus verbündet hatten, jetzt wird er auch aufgeklärten Konservativen peinlich. Die Attacke auf die gemischten WGs ist Erdoğans Versuch, die ultrakonservative Kernwählerschaft zu bedienen und zu zeigen: Die Bäume im Gezi-Park habe ich zwar stehen lassen müssen, aber ich selbst bin auch immer noch da, ich habe mich nicht verändert. Selbst die Kurden wenden sich ab. "Kurden haben die AKP gewählt, weil sie glaubten, dass Erdoğan den Friedensprozess voranbringen würde", sagt Sırrı Süreyya Önder, einer der wichtigsten kurdischen Politiker. "Bei den Gezi-Protesten hielten sie zuerst Abstand, weil sie die Versöhnung nicht gefährden wollten. Doch dann begannen sie, sich zu fragen: Wenn einer so brutal gegen sein eigenes Volk vorgeht, warum sollte der mit uns Frieden schließen wollen?" Ein Teil der Kurden hat sich mit linken Gruppen zu einer neuen Partei zusammengetan, die bezeichnenderweise Gezi-Partei genannt wird.
Kommentare
Seit dem Gezi-Park-Massaker...ist die Überschrift keine Neuigkeit.
Lächerlich
Sie machen sich doch nur lächerlich mit solchen Argumenten...Massaker, den Staat angreifen..Polizisten töten, Sachgbeschädigungen, willkürliche Strassensperren, Autos verbrennen...und die Reaktion der Polizei ist dann ein Massaker...lach
Ciao bella Ciao
Erdogan hat die Gezi-Proteste immer noch nicht verdaut. Er, der türkische " Baba " möchte den Jugendlichen den rechten Weg zeigen. Nie hat er die Sprache der neuen Generation verstanden, ganz im Gegentel, er hat nur provoziert. Ich hoffe sehr dass er dafür jetzt die Quittung bekommen wird !
Ich glaube eher,
er sucht Kräfte aus dem Ausland, die das steuern was er seinem Volk ersparen wollte - die Abkehr vom grenzenlosen Glauben.
Und: Ich glaube nicht, dass er das kampflos aufgibt! Er sieht sich als Auserkorener, als Auserwählter:
"Erdogans Rede war ein ideologisch-islamisches Signal an die islamische Welt. Er betonte, dass die Türkei gezeigt habe, dass der Islam modern und demokratisch sein könne." -
"So machte Erdogan .... klar, als wen er sich selbst sieht: Als einen neuen Atatük, der das Land modernisiert, und als neuen Sultan, der die Türken und den Islam siegreich gen Westen führt.
"Wenn es Gottes Wille ist, werden wir 2023 aufbauen, und ihr werdet 2071 errichten", sagte er zum Jubel besonders der Jüngeren unter seinen Zuhörern.
"(2071:)Dann nämlich jährt sich zum tausendsten Mal die Schlacht von Manzikert, in der die Türken das byzantinische Reich entscheidend schlugen, gen Westen drängten und Anatolien in Besitz nahmen. "Unser Vorbild ist Sultan Arp Arslan", also der damals gegen die Christen siegreiche Kriegsherr, verkündete Erdogan und erntete begeisterten Applaus von rund 30.000 AKP-Anhängern.
Solch einen Traum gibt ein "Führer" nicht auf:
"Die islamische Zeitung "Milat" brachte mit ihrer Schlagzeile die Inbrunst Gefühl von Erdogans Anhängern am besten auf den Punkt: "Führer der Welt", titelte sie über Erdogan – also nicht nur der islamischen Welt. -
http://www.welt.de/politi...
"Der Staat, kritisieren einige Beobachter,
unterstütze radikale Dschihadisten gegen Assad und lasse diese im Grenzgebiet ein und aus gehen."
Vorsicht! Für solch eine Behauptung wurde ich bereits Totalgelöscht....
Darf man das jetzt hier offen publizieren? Keine Majestätsbeleidigung mehr?
All die Opfer, die Majestät kritisiert haben und weggewischt wurden - nun rehabilitiert?
ZON - ein Wendeblatt?
..............
"Darf man das jetzt hier offen publizieren? "
Die Autoren ja, die Kommentatoren nein.
Denunziation
Von einer Journalistin erwarte ich im Allgemeinen Objektivität. Dies ist nicht der Fall. Das nennt man Denunziation.
"Erdoğan findet lange schon, dass der Sittenverfall des Landes voranschreitet – dieses Mal nicht wegen Abtreibungen und Alkoholgenuss, sondern weil Studentinnen und Studenten in gemischten WGs wohnen."
"Der türkische Premier steckt in einer tiefen Krise. Er hat nie wirklich versucht, die Proteste der Gezi-Park-Bewegung zu verstehen."
"Es geht ein Riss durch die AKP. Erdoğan verprellt mittlerweile auch die eigenen Leute."
"Viele, [...] unterstützt haben, wenden sich ab. Zuerst hat er Liberale und Intellektuelle verloren, [...] aufgeklärten Konservativen peinlich.
[...]Die Bäume im Gezi-Park habe ich zwar stehen lassen müssen, aber ich selbst bin auch immer noch da, ich habe mich nicht verändert. Selbst die Kurden wenden sich ab."
"Eigentlich hatte sich gerade die Aufregung über Erdoğans vermeintliche Islamisierungsversuche gelegt."
"Da braucht der Premier offenbar ein neues Alleinstellungsmerkmal.
Doch in einem Land, das so viele Probleme hat wie die Türkei, liegt der Verdacht nahe, dass dieser neue Versuch, sich in das Privatleben des Einzelnen einzumischen, von wahren Problemen ablenken soll. "
"Der Staat, kritisieren einige Beobachter, unterstütze radikale Dschihadisten gegen Assad und lasse diese im Grenzgebiet ein und aus gehen."
"Es gibt Anzeichen dafür, dass der Populist Erdoğan diesmal überzogen haben könnte."
Ich bin etwas ratlos - was will mir der Autor mit den Zitaten sagen?