In Honoré de Balzacs Roman Vater Goriot kommt ein mittelloser, aber ehrgeiziger Jurastudent namens Eugène de Rastignac nach Paris, um sein Glück zu machen. Dort erteilt ihm ein Bekannter eine ganz besondere Form der Berufsberatung: Mit ordentlicher Arbeit sei nicht viel zu holen. Ein Anwalt müsse "10 Jahre vegetieren, vor einem Sachwalter dienern, den ganzen Justizpalast mit der Zunge ablecken" – und verdiene doch nicht genug, um es an die Spitze zu schaffen. Es gebe aber einen Ausweg: "Die Mitgift einer reichen Frau."
Die Erzählung spielt im Jahr 1835, doch glaubt man dem angesehenen französischen Ökonomen Thomas Piketty, dann ist Rastignacs Dilemma heute so aktuell wie damals. In seinem am kommenden Dienstag erscheinenden monumentalen Werk Capital in the Twenty-First Century zeichnet Piketty das Bild einer Gesellschaft, in der Herkunft und nicht Leistung über die soziale Stellung entscheiden und einige wenige immer größere Reichtümer anhäufen.
Das Buch sorgt schon jetzt weltweit für Aufregung. Der britische Economist widmet ihm eine eigene Artikelserie, und der Weltbankökonom Branko Milanovic spricht von einem "Wendepunkt" in der Forschung. Die Begeisterung erklärt sich auch daraus, dass die Ökonomie das lange vernachlässigte Thema soziale Gerechtigkeit für sich entdeckt hat. Fast täglich erscheinen neue Studien, erst in der vergangenen Woche stellte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung fest, dass die Vermögen in Deutschland so ungleich verteilt sind wie in keinem anderen Land Europas.
Piketty will erklären, wie es so weit kommen konnte – und seine Diagnose ist verstörend: Die Konzentration der Vermögen ist eine Art Naturgesetz des Kapitalismus.
Um diesem Gesetz auf die Spur zu kommen, hat Piketty in jahrelanger Kleinarbeit ökonomische Daten aus vielen Ländern zusammengetragen. Dabei ist ihm ein verblüffendes Muster aufgefallen: Über die Jahrhunderte hinweg haben sich die Vermögen stets erheblich schneller vermehrt als die Wirtschaftsleistung. Die Erträge auf Anlagen in Aktien, Anleihen oder Immobilien belaufen sich demnach im Schnitt auf viereinhalb bis fünf Prozent pro Jahr, der Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts dagegen beträgt langfristig nur ein bis eineinhalb Prozent. Das Einkommen aus Arbeit kann nicht mit dem Einkommen aus bereits angehäuftem Vermögen Schritt halten.
Die Folgen: Wer hat, dem wird gegeben – und wer nichts hat, für den gibt es kein Entrinnen. Weil Vermögen zudem meist an die eigenen Kinder vererbt werden, pflanzt sich die entstandene Ungleichheit über Generationen fort und hebelt das liberale Versprechen aus, der freie Markt sorge für Wohlstand für alle. In einer Welt, in der Familiendynastien einen großen Teil der wirtschaftlichen Ressourcen kontrollieren, bestimmt die Geburt den sozialen Status. Es gibt weder Chancengleichheit noch Leistungsgerechtigkeit. Oder wie es Piketty formuliert: "Die Vergangenheit frisst die Zukunft auf."
Das schließt nicht aus, dass es clevere Arbeitnehmer ganz nach oben bringen können. Lloyd Blankfein etwa, der Chef der Investmentbank Goldman Sachs, stammt aus einfachen Verhältnissen und hat so viel Geld verdient, dass er selbst zum Vermögensbesitzer geworden ist. Doch für Piketty sind das Ausnahmen, die die Regel bestätigen – und er steht mit dieser These nicht allein. Erst kürzlich hat der britische Historiker Gregory Clark anhand der Analyse von Familiennamen gezeigt, dass die Oberschicht in den meisten Ländern ihre gesellschaftliche Stellung über Jahrhunderte hinweg verteidigen kann und die soziale Mobilität auch in den westlichen Demokratien viel geringer ist als gemeinhin angenommen.
Entscheidend ist: Wenn es stimmt, dass sich mit der Verwaltung des eigenen Vermögens mehr Geld verdienen lässt als im Beruf, dann ist die Hoffnung vergebens, durch Bildung eine faire Verteilung des Wohlstands zu erreichen. Dann sorgt auch die Verbreitung von Wissen und Fertigkeiten nicht für den sozialen Ausgleich – und der Aufstieg ist tatsächlich, wie bei Balzac, nur durch Heirat möglich.
Kommentare
Fargione Integral
Moin,
wer lesen will, wie das mit der Vermögenskonzentration funktioniert sei auf:
http://georgtsapereaude.b...
hingewiesen.
CU
3 fragen
Hier drei Fragen, die sich mir, wie wohl jedem verständigen Menschen, beim Lesen dieser Rezension aufgedrängt haben, und die ich leider nicht beantwortet gefunden habe:
1.)
Gibt der Autor des Buches, Thomas Piketty, eine Begründung, warum er Un-Gleichheit mit Un-Gerechtigkeit gleichsetzt?
Womit begründet er es, die Situation, dass Einkommen und Vermögen unterschiedlich verteilt sind, mit dem Ausdruck "sozialer Ungerechtigkeit" zu versehen"?
2.)
Gibt das Buch den Anschein, dass der Autor sich der Gefahr bewusst ist, dass der Begriff „Kapitalismus“ synonym für „freie Marktwirtschaft“ als auch für „Korporatismus“ verwendet werden kann? Ist der Autor sich der daraus möglicherweise entstehenden Konfusionen bewusst?
3.)
Wenn Herr Piketty (mit Herrn Gregory Clark) aufgefallen sein sollte, dass sich das Vermögen beständig bei den Familien der "oberen Zehntausend" befindet, müßte das seiner Meinung nicht auch dafür sprechen, dass es noch andere Einflüße auf die heutige Einkommensverteilung gibt, als die, die es in einer freien Marktwirtschaft geben könnte?
Wenn sich Geld als Einflußnahme auf die Politik auswirkt, ist das ein Merkmal des "Crony Capitalism", des Korporatismus, nicht der freien Marktwirtschaft.
Also ist der Kapitalismus vielleicht gar nicht so frei-marktwirtschaftlich wie gedacht, der Westen gar nicht so liberal wie allgemein gemeint wird.
Antwörter
Moin,
Ohne das Buch bereits gelesen zu haben:
1.)
Mit der Tatsache, dass es die meisten Menschen (ähnlich wie viele andere sozial lebende Tiere) es als ungerecht empfinden, wen für vergleichbare Anstrengungen die Einen viel mehr Gegenwert erhalten als die Anderen. Wofür die Tatsache spricht, dass die reich Geborenen viel mehr verdienen werden als die weniger wohlhabend geborenen.
Weiters, die Gesellschaften die sich dem zugrundeliegenden Weltbild ("Homo Oeconomicus") verschrieben (USA, UK), haben sich als ganz besonders wenig durchlässig für den Aufstieg erweisen.
2.)
Mit dem Begriff Kapitalismus ist es wohl so ähnlich wie mit dem Begriff "Kommunismus". Die Betonkommunisten werden, auf die ökonomische Implosion des Ostblocks hingewiesen, immer darauf verweisen dass dies ja keine kommnistischen Staaten gewesen seien, denn dann wäre ja alles gaaaanz anders gekommen.
Solche semantischen Spielereien, oder dass, wie es im englischen heißt, "Moving the goalpost" sind mir aber einfach zu blöd.
3.)
Nun, die Parallelen zwischen Anstieg der finanziellen Ungleichheit und Abstieg der Maßnahmen die eben zum Abbau ebendieser Ungleichheit gedacht waren (e.g. Vermögens- und Erbschaftssteuer) sind doch auffällig. Und da es auch Modelle gibt die das Eine aus dem Anderen ableiten, kann man hier wohl doch sagen, dass Korrelation und Kausalität verknüpft sein könnten. Oder etwas mutiger "sind".
Ansonsten siehe 2.) zu semantischen Spielereien.
CU
Falls dazu noch jemand Fragen haben sollte:
siehe auch das Buch: "Michael Hartmann: Soziale Ungleichheit – Kein Thema für die Eliten?"
Ich hatte nach der Lektüre dieses Buches schon keine Fragen mehr. Werde aber das Buch von Herrn Piketty auch noch lesen. :-)