Als Martin Viets die Wohnungstür öffnet, strömt ihm der Geruch schon entgegen. Es riecht nach Schweißfüßen. Säuerlich. Muffig. Viets muss trotzdem rein. Mit festen Schritten geht er durch den düsteren Flur, seine Turnschuhe quietschen auf dem schmierigen PVC-Boden. Kaum hat er das Wohnzimmer betreten, entfährt ihm ein Stöhnen. Ungläubig schüttelt er den Kopf: Da liegen Saftpackungen, aufgerissene Nudelsuppen-Dosen, eine Tüte Haferflocken. Übereinander, nebeneinander, durcheinander. Sessel, Tisch und Kommoden sind bedeckt mit Pappschachteln und Plastikflaschen. Mittendrin ein tiefgrauer Aschenbecher. In der Küche liegt getrockneter Hundekot neben einer Urinpfütze. Viets holt tief Luft: "Mannomann, was für ein Chaos!"
Es ist ein halbes Leben, das sich hier angesammelt hat – das Leben von Walter Reichhardt (Name geändert) , verteilt auf 43 Quadratmetern. Walter Reichhardt ist tot. Vor sechs Monaten haben Beamte des Ordnungsamtes Hannover seine Wohnung durchsucht. Am Ende versiegelten sie die Tür mit einem Klebestreifen.
Martin Viets lässt die Wohnungsschlüssel um seine Finger kreisen, während er sich umsieht: Die Schrankwand, die Matratze, der Aschenbecher – das alles gehört nun offiziell dem Land Niedersachsen. Deshalb ist er an diesem Vormittag mit seinem Kollegen Holger Holl zu dem grauen Plattenbau in Hannover gefahren. Viets will herausfinden, was aus Reichhardts Nachlass noch verwertbar ist.
Im besten Fall findet er Schmuck. Im schlechtesten: Offene Rechnungen
Walter Reichhardt war 69 Jahre alt, als er starb. Ein Mann mit kaputten Gelenken und einer kranken Niere, mit 83,18 Euro im Geldbeutel und Schulden bei vielen Gläubigern. 330,50 Euro bei den Stadtwerken. 850,10 Euro beim Bezahlsender Sky. 234,76 Euro bei einer Versandapotheke. Nach seinem Tod im Juni 2013 konnte das Amtsgericht keine Angehörigen finden. Somit erbte das Land Niedersachsen. Und Walter Reichhardts Hinterlassenschaften wurden zu Viets Fall.
Das Bürgerliche Gesetzbuch nennt das Gesetzliche Erbschaft des Staates, kurz: Fiskuserbschaft. Keine Villa, kein Fernseher, keine Kuchengabel soll in Deutschland ohne Besitzer bleiben. Gibt es keine Verwandten oder schlagen die das Erbe aus, fällt der Nachlass eines Toten dem jeweiligen Bundesland zu. Das erbt dann alles – auch die Schulden.
Als Verwaltungsbeamter in der Erbschaftsabwicklung hat Martin Viets die Aufgabe, für das Land Niedersachsen den Besitz eines Verstorbenen zu erfassen, und zwar nicht nur dessen Papiere, sondern eben auch die Wohnung. Im besten Fall findet er dort viel Geld und Schmuck. Im schlechtesten Fall: offene Rechnungen.
Seit 13 Jahren arbeitet er bereits bei der Oberfinanzdirektion Niedersachsen. Sein türkisfarbenes Hemd trägt er weit aufgeknöpft, eine silberne Kette baumelt über dem grauen Brusthaar. In seinem Büro hängen Bilder von seiner Harley, daneben Fotos von Amerikareisen. Alle zwei Jahre fliegt er in die USA – New York, Florida, Südstaaten, alles hat er schon gesehen. Ein Mann, der auch mal rauswill. Deshalb ist er auch vor 13 Jahren zur Oberfinanzdirektion, Abteilung Bau und Liegenschaften, gewechselt. Ein Beamtenjob – aber einer mit Abwechslung. Es kommt vor, dass Viets heute mit einem Anwalt in Italien telefoniert und morgen eine Jacht in Griechenland verkaufen muss. Er verhandelt mit Gläubigern und besänftigt wütende Angehörige, die jemand in seinem Testament enterbt hat. Und er ist erfahren darin, abzuschätzen, wo noch etwas zu holen ist.
In Reichhardts vermüllter Wohnung rechnet er eigentlich nicht mehr damit. Er hat die Kontoauszüge des Toten bereits durchgesehen, ebenso den Bericht des Ordnungsamtes. Die wenigen Möbel seien "stark abgenutzt", schreiben die Kollegen.
Warum ist er dennoch hingefahren? Viets erinnert sich an einen Fall aus dem vergangenen Jahr. Da hat ihn sein Gespür getrogen. Das Land Niedersachsen erbte die Wohnung einer 83-jährigen Frau, die von Nachbarn als unscheinbare Erscheinung beschrieben worden war; sie wirkte bedürftig und wurde oft zum Mittagessen eingeladen. "Wir dachten, da finden wir sicher nichts mehr. Doch unter ihrem Obstkorb lagen 133.000 Euro. In bar." Dazu hatte sie 1,3 Millionen Euro auf Sparbüchern angesammelt.
"Manchmal wird man überrascht", sagt Viets. Mit einem Schnalzen streift er sich Latexhandschuhe über, hockt sich vor eine Schrankwand, Nussbaum-Imitat, und zieht Schublade um Schublade heraus. Solar-Taschenrechner, schwarze Kabel, Plastikradios mit abgebrochenen Antennen, Reisewecker ohne Batterien. Er kramt und kramt. Da, drei Uhren. Er setzt seine Brille ab, hält sie nah vor seine Augen. Schmeißt sie zurück in die Schublade. Nein, wertlos.
Kommentare
Staat als Mietnomade?
"Noch am selben Tag wird der Vermieter die Schlüssel zugeschickt bekommen. Er kann dann die Wohnung entrümpeln."
Das kann ja wohl nicht wahr sein. Der Staat als Erbe kümmert sich nicht um den Nachlass und überlässt die Entrümpelung dem Vermieter? Der, der vermutlich schon ein halbes Jahr darauf wartet, diese Wohnung wieder vermieten zu können, darf sie jetzt auch noch auf seine Kosten entrümpeln?
Na das ist ja toll. So was sollte man viel öffentlicher machen. Dann könnten sich noch mehr Leute ihre Wohnungen selber schnitzen. Mit welcher rechtlichen Grundlage wird das denn so gehandhabt?
Werteverfall
In unserer von Gier getriebener Gesellschaft nimmt die Zahl der niederträchtig als Messies bezeichneten Menschen stetig zu. Und was von einem Leben übrig bleibt, findet man als Sperrmüll auf der Straße. Immer mehr Menschen werden vom Sozialamt entsorgt, meistens mit Regressnahme in deren oft unerwartet großen Nachlass, über den sich der gierige Fiskus freut.
Rente?!?
Zitat: "Bei einer Pension von 815 Euro im Monat kann es aber kein guter Job gewesen sein"
Eine Pension erhält wohl irgendwann Herr Viets und sein Kollege.
Walter Reichhardt bekam eher eine Rente!
(Drei Jahre Pionierbataillon 10 in Ingolstadt reicht nicht für eine Pension...)
Pension
Wenn Herr Piltz wirklich dabei war (und die Geschichte nicht nur nacherzählt ist) wird das mit der Pension schon stimmen. Herr Viets erkennt den Unterschied zwischen einer Pensions- und einer Rentenzahlung sicher - es ist ja sein Job die Finanzen zu prüfen.
@1: Wenn man im Internet recherchiert, findet man einige Urteile der Verwaltungsgerichte, nach denen die Entrümpelung tatsächlich Sache des Vermieters ist. Aber immerhin kann man davon ausgehen, dass der Staat brav die Miete bezahlt hat ...
Zwei wunderbare Seiten, auf denen ich schon das ein oder andere
Schnäppchen gemacht habe:
http://www.justizauktion.de/
http://www.zoll-auktion.d...
Nur vom Autokauf dort kann ich abraten. Die findet ihr auf dem "öffentlichen" Markt billiger. Liegt glaube ich daran, dass viele den Autokauf dort als "Geheimtipp" nahegelegt bekommen, aber die dann doch hohe Anzahl an Interessenten den Preis treibt.
Zum Thema an sich: Ich finde gut, dass der Staat die Sachen nach dem Bedienen der Gläubiger verwerten darf. @1: Die Mietschulden hätte der Herr Vermieter vom Staat gezahlt bekommen, wenn in der Wohnung etwas verwertbares gefunden worden wäre. Ist es aber nun mal nicht. Für die Kosten der Entrümpelung muss jeder Vermieter aufkommen, insofern der Vormieter die Wohnung in einem Zustand hinterlässt, die eine solche Maßnahme erfordert. Gilt natürlich auch, wenn der entsprechende Mieter nicht verstorben ist, sondern bspw. einfach abhaut. Ist aber nicht so dramatisch, da sich solche Kosten oftmals als BA kennzeichnen lassen und sich ggf. mit den positiven Einkünften einer anderen Einkunftsart verrechnen lassen.
Konto
"wenn in der Wohnung etwas verwertbares gefunden worden wäre. Ist es aber nun mal nicht." da war doch das Bankkonto mit regelmäßigem Geldeingang (und wahrscheinlich einem Dauerauftrag)