Zurück in der Schweiz, veröffentlicht Herwegh 1843 den zweiten Band seiner Gedichte eines Lebendigen, der indes nicht den Erfolg des ersten erreicht. Die Leser vermissen den rebellischen Überschwang. Herwegh allerdings ist keineswegs gezähmt, im Gegenteil: Seine Aussagen sind konkreter geworden. Die Freundschaft mit Karl Marx, Friedrich Engels, Moses Hess und den französischen Frühsozialisten hat ihn verändert; die Niederschlagung des schlesischen Weberaufstands durch das preußische Militär 1844 tut ein Übriges. Seine Parteinahme zeigt fortan eine soziale Dimension: In Heines und Herweghs Weberliedern, in der Ballade Vom Armen Jakob und von der kranken Lise klingt ein neuer Ton an.
Georg und Emma Herwegh leben nun in Paris, dem "Wartesaal der Revolution". Dort verkehren sie nicht nur in den Salons mit Iwan Turgenjew, Michail Bakunin, mit Heine, George Sand, Franz Liszt, Victor Hugo, sondern suchen auch die Begegnung mit den aus Deutschland zugewanderten Handwerkern und Arbeitern, die zu Zehntausenden in Paris ihr Brot zu verdienen hoffen. Als im Februar 1848 die Revolution losbricht, stehen neben Russen, Polen, Ungarn, Italienern deutsche "Armutsflüchtlinge" auf den Barrikaden. Die Deutsche Democratische Gesellschaft in Paris wählt Herwegh zu ihrem Sprecher. Auf den Revolutionsfeiern repräsentiert er, mit schwarz-rot-goldner Schärpe, das noch zu erkämpfende Deutschland: "Es lebe die Freiheit, die Gleichheit, die Bruderliebe! Es lebe die Demokratie! Es lebe die europäische Republik!"
Als die Revolution in Windeseile über den Rhein springt, wollen die Handwerker und Bauernsöhne schnellstmöglich heim und mitkämpfen. Etwa viertausend exerzieren bereits unter Anleitung emigrierter Offiziere. Die Männer bitten ihren Präsidenten, seinen Liedern die Tat folgen zu lassen und sie nach Deutschland zu führen, zur Unterstützung von Friedrich Hecker, der von Konstanz aus aufgebrochen ist, die deutsche Republik zu erzwingen.
Dass ein Lyriker kaum als Heerführer taugt und sein Jawort töricht und romantisch gewesen sei, lässt sich im Nachhinein leicht sagen. Marx warnt vor dem Abenteuer, schimpft den Freund gar einen "Lumpen". Doch von Emma und Bakunin gedrängt, übernimmt Herwegh die Führung. Nach langem Fußmarsch durch Frankreich erreicht die auf 700 Mann und eine Frau (Emma, in Männerkleidern) geschmolzene Schar den Rhein. Hecker allerdings ist da bereits geschlagen, und so befindet sich Herweghs Legion, gejagt von hessischen und württembergischen Truppen, bald nur noch auf der Flucht durch Matsch und Schnee. Emma leitet den Rückzug auf steilen Pfaden über die Höhen des Schwarzwalds, bis die Legion schließlich von königlichen Truppen gestellt und trotz erbittertem Widerstand in die Flucht getrieben wird. Am Ende sind dreißig junge Männer gestorben, die für eine demokratische Zukunft gekämpft hatten.
Der populäre amerikanische Historiker Gordon A. Craig verteidigte 1988 in seinem Buch Geld und Geist den Freiheitskampf gegen alle üble Nachrede vom "kläglichen Versagen" und von der "feigen Flucht": "Wenn auch die Gegner Herweghs versuchten, seinen Feldzug ins Lächerliche zu ziehen, so war es, unvoreingenommen betrachtet, doch ein ehrenhaftes, einer edlen Sache gewidmetes und unter großem persönlichen Risiko durchgefochtenes Unternehmen."
Sogar von vielen seiner einstigen Freunde wird Herwegh jetzt totgesagt. Oft wissen sie es nicht besser. Denn was er zum fatalen Fortgang der Revolution schreibt, Aufsätze, grandiose Glossen und bissige Satiren, erscheint nur noch anonym oder im Ausland. Manch Wendegewandter, der von Herweghs Unbeugsamkeit weiß, nimmt es ihm übel, dass er weiterhin auf Demokratie besteht, wortgewaltig Rache fordert für die Ermordung Robert Blums am 9. November 1848 in Wien oder das timide Paulskirchenparlament bespöttelt. Dabei erkennt er klar den großen Fehler, den die Demokraten begingen, als sie vor Deutschlands Thronen, vor allem dem in Berlin, haltgemacht haben.
Die neue Herwegh-Ausgabe zeigt, wie es dem "Nachmärzdichter" gelingt, trotz Maulkorb und Berufsverbot, trotz dramatischer Ehekrisen, Krankheit und Resignation produktiv zu bleiben. Im Zürcher Haus Wesendonck und auf dem Landgut Mariafeld von Eliza und François Wille bei Meilen ist er oft zu Gast, hier trifft er andere Asylanten wie Richard Wagner und den Dresdner Architekten Gottfried Semper. Doch das Geld wird knapp. Die Buchhonorare versiegen, seine Frau ist nach dem Freischarzug enterbt worden. Mühsam versucht Herwegh, mit Shakespeare-Übersetzungen und Artikeln für französische Blätter die inzwischen fünfköpfige Familie über Wasser zu halten. Ein Angebot des Großherzogs von Weimar, der ihn an seinen "Musenhof" locken will, lehnt Herwegh 1861 ab, lieber lässt er die kostbare Bibliothek versteigern.
1863 eröffnet sich eine neue Perspektive. Herwegh, inzwischen Schweizer Korrespondent von Lassalles Allgemeinem Deutschem Arbeiterverein, schreibt für seinen "teuren Fernando furioso" das Bundeslied: "Mann der Arbeit, aufgewacht! / Und erkenne deine Macht! / Alle Räder stehen still. / Wenn dein starker Arm es will." Der Text begeistert. "Es hat neulich", berichtet Lassalle, "im Arbeiterverein den lautesten Enthusiasmus hervorgerufen, und auf meine Aufforderung hat sich die ganze Versammlung zum Zeichen des Dankes für den Dichter erhoben."
Die Verse des Bundesliedes sind – wie manches von Schiller oder Heine – längst Volksgut geworden. Viele, die sie heute zitieren, wissen den Autor schon nicht mehr zu nennen. Vertont von Hans von Bülow, wurden sie trotz Verbots überall gesungen: "Brecht das Doppeljoch entzwei! / Brecht die Not der Sklaverei! / Brecht die Sklaverei der Not! / Brot ist Freiheit, Freiheit Brot!"
Mit Feuer engagiert sich der Sozialist Herwegh für die wachsende Arbeiterbewegung, schreibt an der Seite von Marx, Engels und August Bebel für Wilhelm Liebknechts Leipziger Zeitschrift Der Volksstaat und wird Ehrenkorrespondent der Internationalen Arbeiterassoziation. Er selber lebt längst auf Armenhausniveau. 1866 muss der hoch verschuldete Dichter fluchtartig die Schweiz verlassen. Immerhin ermöglicht eine Amnestie in Baden einen bescheidenen Neuanfang. Zurückgezogen in Baden-Baden, attackiert er weiterhin soziales Unrecht, streitet er ebenso gegen Preußens Militarismus wie gegen die Großmachtpolitik Österreichs ("Gott segne ihnen ihren freien deutschen Po!"), wie gegen die kommode Despotie Napoleons III. in Frankreich.
"Das arme Menschenherz muß stückweis brechen"
Zu einem Schock wird 1870 der Deutsch-Französische Krieg. Herwegh empfindet ihn als blutiges Unrecht; der Triumph des Militärs ist ihm ein Albtraum: "Schwarz, weiß und rot! um ein Panier / Vereinigt stehen Süd und Norden; / Du bist im ruhmgekrönten Morden / Das erste Land der Welt geworden: / Germania, mir graut vor dir! // Mir graut vor dir, ich glaube fast, / Daß du, in argen Wahn versunken, / Mit falscher Größe suchst zu prunken / Und daß du, gottesgnadentrunken, / Das Menschenrecht vergessen hast."
Während andere Intellektuelle Mittelalter-Mumpitz und Hurra-Gebrüll verfallen sind und Emanuel Geibel "am deutschen Wesen die Welt genesen" lassen will, bleibt Herwegh kalt. In scharfen Worten beklagt er die "Franzosenfresserei" und die "Akte der Barbarei" während des Krieges – wie die Bombardierung Straßburgs und die Vernichtung der dortigen Bibliothek, eine Untat, die vorausweist auf die Zerstörung der Bibliothek von Löwen durch deutsche Truppen im Ersten Weltkrieg.
Kommentare
Die Poeten als Seismographen (1)
>>Im Sommer 1914, als der Krieg begann, war Georg Herwegh schon vier Jahrzehnte tot. Er hatte das große Morden vorausgeahnt, früher als andere. << Zitatende
Die Dichter als Seismographen. Ein erhellender Artikel, der – selten genug – die positive demokratische deutsche Tradition würdigt. Mochten die Poeten als Traumtänzer gescholten werden, einen klareren Blick in die Zukunft als alle sogenannten Realpolitiker zusammengenommen hatten sie dennoch. Einer sah das drohende Unheil noch früher voraus – Heinrich Heine. 1834 schrieb er am Ende seiner „Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“, das Christentum habe die brutale germanische Kampflust einigermaßen besänftigt, aber nicht zerstören können,
>>und wenn einst der zähmende Talisman, das Kreuz, zerbricht, dann rasselt wieder empor die Wildheit der alten Kämpfer, die unsinnige Berserkerwut, wovon die nordischen Dichter so viel singen und sagen. Jener Talisman ist morsch, und kommen wird der Tag, wo er kläglich zusammenbricht. Die alten steinernen Götter erheben sich dann aus dem verschollenen Schutt und reiben sich den tausendjährigen Staub aus den Augen, und Thor mit dem Riesenhammer springt endlich empor und zerschlägt die gotischen Dome … Der Gedanke geht der Tat voraus, wie der Blitz dem Donner.
ff.
Die Poeten als Seismographen (2)
>>Der deutsche Donner ist freilich auch ein Deutscher, und ist nicht sehr gelenkig, und kommt etwas langsam herangerollt; aber kommen wird er, und wenn ihr es einst krachen hört, wie es noch niemals in der Weltgeschichte gekracht hat, so wißt: der deutsche Donner hat endlich sein Ziel erreicht. Bei diesem Geräusche werden Adler aus der Luft tot niederfallen, und die Löwen in der Wüste Afrikas werden die Schwänze einkneifen und sich in ihren königlichen Höhlen verkriechen. << Zitatende
Verfolgt man die zänkische und kleinkarierte Forendiskussion zum Thema Kriegsschuldfrage/WK1 mit ihren deutschnationalen Geschichtsklitterungen, muss man doppelt froh sein über diese mutige demokratische Tradition, in der Heine und Herwegh stehen. Allzu viel davon haben wir nicht, und der schon wieder zunehmende Chauvinismus verschüttet das Wissen davon weiter.
Nicht Frankreich – Preußen ist "Deutschlands Erbfeind"
Damit war schon damals alles gesagt.
leider wahr
womit nicht die Menschen in Preußen gemeint sind, sondern die Ideen eines
Herrschers alles einem militärischem Geist zu unterwerfen.
Dies sollte eine offensive Botschaft Deutschlands sein.
Weltuntergangsprophezeihungen
mit eindeutigen Schuldzuweisungen gab es nicht nur zu Zeiten Georg Herwegh's, dessen schwülstige Schizophrenien auch durch lobende Werbesprüche nicht genießbarer werden. Oswald Spengler lässt schön grüßen. Der Untergang des Abendlandes steht immer noch auf der Tagesordnung! Die Geschichte muss weiterhin mit diesen Prognosen auskommen und das nächste Unheil kommt bestimmt, ich sage es Euch!
Die alte Leier
Man verbeißt sich daran, was in Deutschland alles getan und gelassen wurde, seziert haarklein Deutschlands und Österreichs (merkwürdigerweise nie Ungarns) gesellschaftliche Zustände und rechnet ihnen jedes verübte Kriegsverbrechen vor, aber vergißt darüber, die gleichen Maßstäbe an deren Kriegsgegner anzulegen. Auch dort war "fin de siècle" und Chauvinismus.
Dabei bin ich gar nicht unkritisch Deutschland gegenüber. Ganz im Gegenteil: Angesichts seiner außenpolitischen Isolation hätte Deutschland am Vorabend des Kriegsausbruchs GANZ BESONDERS vorsichtig, nachgiebig und deeskalierend agieren müssen, denn es hatte viel zu verlieren, aber wenig zu gewinnen. Ganz anders die Entente-Mächte: Sie hatten beim Krieg wenig zu verlieren, aber viel zu gewinnen.
Denn den Deutschland gerne unterstellten Griff nach der (alleinigen???) Weltherrschaft halte ich für einigermaßen lachhaft. Ich kann mir ja vieles vorstellen, aber glauben zu sollen, daß die doch immerhin halbdemokratische wilhelminische Gesellschaft und die maßgeblichen politischen Entscheidungsträger im Kaiserreich allen Ernstes mehrheitlich und geschlossen einer Zukunftsvision angehangen haben sollen, nach der Deutschland am Ende als einziger Staat den gesamten Planeten unterjochen sollte, übersteigt selbst meine blühende Phantasie.
Man sollte Herwegh nicht als Außenseiter darstellen, sondern ihn als typischen Repräsentanten der pazifistischen Deutschen würdigen. Auch bei uns gab's nämlich sone und solche.