Mitten im Siegesgedröhn fordert er einen gerechten Frieden und die Aussöhnung der Völker; die fatale Annexion Elsass-Lothringens lehnt er ab. Das "Reich der Reichen" ohne Freiheit und soziale Gerechtigkeit ist ihm genauso ein Graus wie eine sinnentleerte "Einheit": "Nur diese war’s, die wir erstrebt, / Die Einheit, die man auf den Namen / Der Freiheit aus der Taufe hebt; / Doch eure stammt vom Teufel: Amen!"
Eiserne Lerche versus Eiserner Kanzler: Dass sich der Bismarck-Gegner Herwegh mit seinen Ansichten keine Freunde macht, kümmert ihn wenig. Vielmehr sieht er bei der Geburt des Reichs aus "Eisen und Blut" den künftigen Untergang voraus und warnt vor "Kriegsidiotentum, Gewalt". Nicht Frankreich – Preußen ist "Deutschlands Erbfeind", davon bleibt er überzeugt. Nationalismus ist ihm nun fremd: "Nationalität trennt, Freiheit verbindet."
1873, ein Vierteljahrhundert nach dem Aufbruch von 1848, schreibt er ein letztes großes Gedicht, mit dem er an das Vermächtnis der Freiheitskämpfer erinnert, die in Berlin gefallenen sind: "Achtzehnhundert vierzig und acht, / Als im Lenze das Eis gekracht, / Tage des Februar, Tage des Märzen, / Waren es nicht Proletarierherzen, / Die voll Hoffnung zuerst erwacht /Achtzehnhundert vierzig und acht? // [...] // Achtzehnhundert siebzig und drei, / Reich der Reichen, da stehst du, juchhei! / Aber wir Armen, verkauft und verraten, / Denken der Proletariertaten – / Noch sind nicht alle Märze vorbei, / Achtzehnhundert siebzig und drei."
Die Reaktion der Reaktionäre bleibt nicht aus. Herwegh sei nichts weiter als "ein Trunkenbold der Phrase", wettert der preußische Hofhistoriker Heinrich von Treitschke, für dessen Antisemitismus ("Die Juden sind unser Unglück") Herwegh nur ein Wort übrig hat: "Die Rassenfrage gehört in die Gestüte, nicht in die Geschichte."
Aber lange muss er das Kaiserreich nicht mehr ertragen. Am 7. April 1875 stirbt Georg Herwegh in Baden-Baden. Ich möchte hingehn wie das Abendrot, hatte er sich einst in seinem großen Todesgedicht gewünscht, das Franz Liszt so ergreifend vertont hat. Aber er wusste: "Wohl wirst du hingehn, hingehn ohne Spur, / Doch wird das Elend deine Kraft erst schwächen, / Sanft stirbt es einzig sich in der Natur, / Das arme Menschenherz muß stückweis brechen."
Emma lässt den Leichnam nach Liestal überführen, der Hauptstadt des Kantons Basel, Georg wollte in freier Erde begraben sein. Die deutsche Heimat bleibt ihm auf ihre Weise treu: Als 1877 in der Schweiz der Band Neue Gedichte erscheint, wird er sogleich konfisziert. Julius Grosse, Generalsekretär der Weimarer Schillerstiftung, die Herweghs Familie nach seinem Tod unterstützt hat, will sogar diese (spärliche) Gabe kürzen: "Wer im Stande ist, dergleichen Schmähungen auf Kaiser und Reich zu publiciren, dessen Name verdient für immer aus den Annalen deutscher Literatur gestrichen zu werden."
Dies gelang nicht, die Werkausgabe belegt es aufs Schönste. Und sie macht es nun auch möglich, Herweghs Leben als Ganzes zu sehen und seine Biografie zu schreiben, die so oft durch Klatsch, Klischee und Hetze entstellt worden ist: die Biografie eines großen deutschen Dichters, eines hellsichtigen Demokraten.
Kommentare
Die Poeten als Seismographen (1)
>>Im Sommer 1914, als der Krieg begann, war Georg Herwegh schon vier Jahrzehnte tot. Er hatte das große Morden vorausgeahnt, früher als andere. << Zitatende
Die Dichter als Seismographen. Ein erhellender Artikel, der – selten genug – die positive demokratische deutsche Tradition würdigt. Mochten die Poeten als Traumtänzer gescholten werden, einen klareren Blick in die Zukunft als alle sogenannten Realpolitiker zusammengenommen hatten sie dennoch. Einer sah das drohende Unheil noch früher voraus – Heinrich Heine. 1834 schrieb er am Ende seiner „Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“, das Christentum habe die brutale germanische Kampflust einigermaßen besänftigt, aber nicht zerstören können,
>>und wenn einst der zähmende Talisman, das Kreuz, zerbricht, dann rasselt wieder empor die Wildheit der alten Kämpfer, die unsinnige Berserkerwut, wovon die nordischen Dichter so viel singen und sagen. Jener Talisman ist morsch, und kommen wird der Tag, wo er kläglich zusammenbricht. Die alten steinernen Götter erheben sich dann aus dem verschollenen Schutt und reiben sich den tausendjährigen Staub aus den Augen, und Thor mit dem Riesenhammer springt endlich empor und zerschlägt die gotischen Dome … Der Gedanke geht der Tat voraus, wie der Blitz dem Donner.
ff.
Die Poeten als Seismographen (2)
>>Der deutsche Donner ist freilich auch ein Deutscher, und ist nicht sehr gelenkig, und kommt etwas langsam herangerollt; aber kommen wird er, und wenn ihr es einst krachen hört, wie es noch niemals in der Weltgeschichte gekracht hat, so wißt: der deutsche Donner hat endlich sein Ziel erreicht. Bei diesem Geräusche werden Adler aus der Luft tot niederfallen, und die Löwen in der Wüste Afrikas werden die Schwänze einkneifen und sich in ihren königlichen Höhlen verkriechen. << Zitatende
Verfolgt man die zänkische und kleinkarierte Forendiskussion zum Thema Kriegsschuldfrage/WK1 mit ihren deutschnationalen Geschichtsklitterungen, muss man doppelt froh sein über diese mutige demokratische Tradition, in der Heine und Herwegh stehen. Allzu viel davon haben wir nicht, und der schon wieder zunehmende Chauvinismus verschüttet das Wissen davon weiter.
Nicht Frankreich – Preußen ist "Deutschlands Erbfeind"
Damit war schon damals alles gesagt.
leider wahr
womit nicht die Menschen in Preußen gemeint sind, sondern die Ideen eines
Herrschers alles einem militärischem Geist zu unterwerfen.
Dies sollte eine offensive Botschaft Deutschlands sein.
Weltuntergangsprophezeihungen
mit eindeutigen Schuldzuweisungen gab es nicht nur zu Zeiten Georg Herwegh's, dessen schwülstige Schizophrenien auch durch lobende Werbesprüche nicht genießbarer werden. Oswald Spengler lässt schön grüßen. Der Untergang des Abendlandes steht immer noch auf der Tagesordnung! Die Geschichte muss weiterhin mit diesen Prognosen auskommen und das nächste Unheil kommt bestimmt, ich sage es Euch!
Die alte Leier
Man verbeißt sich daran, was in Deutschland alles getan und gelassen wurde, seziert haarklein Deutschlands und Österreichs (merkwürdigerweise nie Ungarns) gesellschaftliche Zustände und rechnet ihnen jedes verübte Kriegsverbrechen vor, aber vergißt darüber, die gleichen Maßstäbe an deren Kriegsgegner anzulegen. Auch dort war "fin de siècle" und Chauvinismus.
Dabei bin ich gar nicht unkritisch Deutschland gegenüber. Ganz im Gegenteil: Angesichts seiner außenpolitischen Isolation hätte Deutschland am Vorabend des Kriegsausbruchs GANZ BESONDERS vorsichtig, nachgiebig und deeskalierend agieren müssen, denn es hatte viel zu verlieren, aber wenig zu gewinnen. Ganz anders die Entente-Mächte: Sie hatten beim Krieg wenig zu verlieren, aber viel zu gewinnen.
Denn den Deutschland gerne unterstellten Griff nach der (alleinigen???) Weltherrschaft halte ich für einigermaßen lachhaft. Ich kann mir ja vieles vorstellen, aber glauben zu sollen, daß die doch immerhin halbdemokratische wilhelminische Gesellschaft und die maßgeblichen politischen Entscheidungsträger im Kaiserreich allen Ernstes mehrheitlich und geschlossen einer Zukunftsvision angehangen haben sollen, nach der Deutschland am Ende als einziger Staat den gesamten Planeten unterjochen sollte, übersteigt selbst meine blühende Phantasie.
Man sollte Herwegh nicht als Außenseiter darstellen, sondern ihn als typischen Repräsentanten der pazifistischen Deutschen würdigen. Auch bei uns gab's nämlich sone und solche.