Vom sexuellen Missbrauch, unter dem Schüler und Schülerinnen an der Odenwaldschule zu leiden hatten, erfuhr ich spät – im Oktober 2009. Meine Position als Sprecher der Altschülervereinigung, der ich von 2002 bis 2011 vorstand, war unmissverständlich: Der Missbrauch muss aufgeklärt, den Opfern Gerechtigkeit verschafft, finanzieller Ausgleich geleistet werden. Hier hat die Odenwaldschule ihr Mögliches noch nicht getan. Nun soll ein Lehrer kinderpornografisches Material besessen haben, die Schließung der Odenwaldschule wird gefordert (ZEIT Nr. 18/14). Ich will der derzeitigen Diskussion keine neue Meinung hinzufügen, wohl aber eine Geschichte: Meine Schulzeit spielt vor Jahrzehnten, zwischen den Jahren 1948 und 1957. Ich spreche in der Hoffnung, dass meine persönliche Geschichte mehr erzählt als das Private.
Ich bin der Sohn eines Schauspielers und einer Schauspielerin, mein Vater verließ die Familie, als ich drei Jahre alt war. Es war eine unruhige Kindheit, ich wuchs bei meiner Mutter, einer Kinderfrau und bei Gastfamilien auf. Im September 1948 – ich war elf Jahre alt – betrat ich erstmals die Odenwaldschule im hessischen Oberhambach (OSO).
Die Familie meines Vaters lebte in einem niederbayerischen Schloss und machte sich erst bemerkbar, als ich schon ein paar Jahre auf dem Internat war. Wenn es nicht zu pathetisch klingt: Zu Hause, das war für mich bis zur OSO immer das Theater, in dem meine Mutter engagiert war – der Geruch von Leim und Schminke. Meine Mutter lebte mir vor, das Leben wie ein Theaterstück zu begreifen, die Lektion lautete: "Wir alle spielen immerzu eine Rolle."
Meine Mutter brachte mich auch in die Schule. Im Eingang des Haupthauses stand eine kleine Frau mit knöchellangem, wollenem Rock und weißen, schulterlangen Haaren, sie hatte einen krummen Rücken und lebendige Augen. Das war Minna Specht, die bekannte Pädagogin, Emigrantin und erste Schulleiterin nach dem Krieg. Sie sagte: "Du kommst heute Abend zu mir in den Stopfkurs, und jetzt gehst du hinters Haus zum Unkrautjäten."
Im Internat lernte ich zum ersten Mal ein geordnetes Familienleben kennen. Ich habe das als großes Glück empfunden. Es gab keine Hauserwachsenen, sondern Eltern. Lehrer und Schüler lebten in Familien, diese wurden von Ehepaaren geleitet, in Ausnahmefällen einzelnen Erwachsenen.
Mein Spitzname an der Odenwaldschule war Hans Usli oder einfach Usli. Mein erstes Haus war das Herder-Haus – Jahre nach meiner Zeit war es ein Mittelpunkt des Missbrauchs. Ich lebte mit zwei Jungs unter dem Dach. Das Zimmer teilte ich mit Jacques, dem Spross einer einflussreichen deutschen Industriellenfamilie, und einem Jungen namens Conrad, von dem ich bis heute nicht genau weiß, ob er nicht ein Roma-Junge war. In den letzten Jahren des Krieges war Jacques in Deutschland versteckt worden, sein Vater war in Auschwitz umgekommen. Ein Adliger, ein Jude, ein Roma-Junge, das war die OSO-Mischung – Minna Specht hatte entschieden, dass wir gut zueinanderpassten. Diejenige, die unsere Familie mit einer gleichaltrigen Kollegin zusammenhielt, hieß Natalie Peterson. Sie war eine 21-jährige Quäkerin und hatte sich in Pennsylvania auf den Weg gemacht mit der Idee: Man muss den Deutschen jetzt beibringen, wie sie friedlich werden können. Sie war keine studierte Lehrerin und sprach ein ziemlich miserables Deutsch. Ich erinnere mich, wie die Familie nach dem Abendessen am Tisch saß und den Folksong I’ve Been Working on the Railroad einübte.
Wir Schüler haben die Lehrer gesiezt. Die Ausnahme war, als ich in die Oberstufe kam, der sieben Jahre ältere Lehrer Wolfgang Edelstein. Es gab in diesen Jahren nach dem Krieg in der Odenwaldschule keinen Drill, aber klare Regeln: Frühstück um sieben, Mittagsruhe, Bettruhe um zehn. Die Duschräume von Jungen und Mädchen waren getrennt. Die Lehrer lebten in eigenen Wohnungen. Ein Liebesverhältnis unter Schülern wurde nicht geduldet, wer mit einem Jungen oder Mädchen im Bett erwischt wurde, flog. Alkohol auf dem Schulgelände war tabu, Drogen gab es zu meiner Zeit gar nicht. Ab und an traf man sich beim Bauern Röder, der gastlich Äppelwoi ausschenkte.
Kommentare
Sehe nicht, was du siehst!
Es ist ein befremdlicher Vorgang: Ein Mitarbeiter der Zeit verhilft seinem Vater, ein Bild von der Odenwaldschule auf zu zeichnen, das in dieser „Großartigkeit“ nie existiert hat.
Man fragt sich, was ist der Zweck dieses Vorhabens? Welches Ziel möchte man damit erreichen? Als ich 1975 Mitarbeiter der Schule wurde, konnte ich die Odenwaldschule, wie sie in den verklärten Erinnerungen von Herrn Ular gegenwärtig ist, nicht einmal rudimentär wahrnehmen. Selbst wenn man annimmt, dass es tatsächlich solch eine Schule einmal existiert hat, dann fragt man sich, wieso Herr Uslar in seinem Handeln nicht davon geprägt worden ist. Denn er war entschieden gegen jede Aufklärung. Ich sehe ihn vor mir, wie er erbost darüber ist, dass ich nicht aufhöre, auf eine schonungslose Aufklärung zu bestehen.
Was will die Wochenzeitung mit dieser Publikation erreichen? Immerhin haben mehrere Betroffene sich das Leben genommen und unzählige Biographien sind endgültig zerstört. Auch als Herr Uslar die Schule besuchte sind Kinder sexuell missbraucht worden.
Wo bekommen wir das Personal und ein Konzept her, die eine Odenwaldschule auferstehen lassen könnten, wie sie Herr Uslar zu kennen glaubt.
Prof. Damian Miller
hat beginnend mit "Zur Einführung: Zahlenhöchstwerte, Superlative und absolute Adjektive",
S. 239 aus http://www.beltz.de/de/ve...
eine sehr aufschlussreiche sprach(wissenschaft)liche Analyse von Äußerungen im reformpädagogischen Kontext vorgenommen.
Auch für Herrn von Uslar sen. scheint eine Bezeichnung unterhalb von "Paradies"/"paradiesisch" für das Leben an der OSO wohl nicht angemessen.
Als ich diesen Artikel in der Papierausgabe las, wurde mir übel.
"Das Zimmer teilte ich mit Jacques, dem Spross einer einflussreichen deutschen Industriellenfamilie, und einem Jungen namens Conrad, von dem ich bis heute nicht genau weiß, ob er nicht ein Roma-Junge war."
Eine solche Vermutung in diese Homestory einzuflechten, um dem Leser das "paradiesische" Miteinander von Elite und verfolgter Minderheit an der OSO unterzujubeln, finde ich besonders verwerflich.
Cohn-Bendit schreibt auch solche Geschichtchen
http://www.cohn-bendit.eu...
Ach ja, und zum hier erwähnten Herrn Ernest Jouhy:
Da gibt es eine seltsame Verbindung zu Daniel Cohn-Bendit:
"Einer seiner Lehrer, der Franzose und Kommunist Ernest Jouhy, wurde nach dem Tod seines Vaters (1959, Anm.) sein Ziehvater."
http://de.wikipedia.org/w...
Wieder so eine Angelegenheit, die ein absolutes No-go zwischen Lehrer (1951-1968 an der OSO) und Schüler darstellt.
Seltsam
Klar fing die Odenwaldschule nicht als El Dorado für Kinderschänder an. Insofern finde ich einen Beitrag über die Odenwaldschule zwischen 1948 und 1957 interessant, aber er trägt nichts zu der aktuellen Debatte bei. Mich hätten von Herrn von Uslar eher inetressiert wie die Schule seiner Meinung nach von einem guten Internat zur Hölle für Kindern verkommen konnte.
Erst 2009 vom Mißbrauch gehört?
Aber von 2002 bis 2011 Sprecher der Altschülervereinigung gewesen? Alleine schon in diesen Zahlen drückt sich doch schon deutlich aus, daß es mit der vom Autor beschworenen Offenheit und Diskussionsfreiheit, die er an der Schule a geblich gelernt hat, nicht so weit her sein kann. Ehemalige Schüler haben sich gerade ihm, der ein Ansprechpartner für sie hätte sein sollen, nicht anvertraut. Das ist ein völliges Armutszeugnis, er hat in dieser Position total versagt und die Betroffenen im Stich gelassen. Von kritischer Selbstreflektion ist in diesem FriedeFreudeEierkuchen-Artikel aber keine Spur und auch nicht von irgendwelcher Kritik. Auch darin zeigt sich die Fehlbesetzung von Uslar als Sprecher der Ehemaligen.
Die Schule hätte Unterstützer gebraucht, die sie unter die Lupe nehmen, anstelle von Kadern, die es nicht schaffen, die rosa Brille der Erinnerung mal beiseitzulegen. Daß es jetzt mit dieser Institution zu Ende geht ist, auch die Schuld von Altschülern wie von Uslar. Vom Mißbrauch nichts mitbekommen, weil er davon nichts wissen wollte - wo sind die angeblichen Lehren der Nachkriegszeit geblieben? Nichts als Schall und Rauch, ohne Substanz, als es darauf angekommen wäre. Gespielte moralische Überlegenheit statt belastbarer Werte. Damit hat man den Respekt verspielt.