Auf dem Weg ins Bad stürzt Dagmar Polenski. Sie verletzt sich schwer. Ein Krankenwagen bringt sie in die Rettungsstelle des Humboldt-Klinikums in Reinickendorf, es ist der Sonntag vor Heiligabend. Polenski übergibt sich mehrere Male, die Ärzte machen ein Röntgenbild und schicken sie heim. Diagnose: Beckenprellung. Schmerzhaft, aber halb so wild.
Die folgenden Tage seien die schlimmsten in ihrem Leben gewesen, erzählt die heute 74-Jährige. Trotz unzähliger Tabletten hält sie die Schmerzen nicht mehr aus, die Tochter lässt Polenski schließlich in ein anderes Krankenhaus bringen. Dort erkennen die Ärzte nach eingehenden Untersuchungen: Sie hat einen Berstungsbruch des ersten Lendenwirbels erlitten. Zweimal muss sie operiert werden.
Im Humboldt-Klinikum war die Rentnerin nur an der Stelle geröntgt worden, die sie selbst als schmerzhaft beschrieben hatte. Der gebrochene Wirbel war auf dieser Aufnahme nicht zu sehen: Er lag weiter oben. Aber hätte das der diensthabende Arzt in der Notaufnahme nicht erkennen müssen? Es sei "nicht nachvollziehbar", dass "keine Röntgenaufnahme der gesamten Wirbelsäule angefertigt wurde", heißt es in einem Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen, auf dessen Grundlage Polenskis Anwalt Joachim Laux nun Schadenersatz fordert. Der Vivantes-Konzern, zu dem das Humboldt-Klinikum gehört, will sich "vor dem Hintergrund einer noch laufenden Klärung" nicht zu den Vorwürfen äußern.
Viele Rettungsstellen sind chronisch unterbesetzt
Immer wieder werden in deutschen Notaufnahmen bedrohliche Leiden falsch oder zu spät diagnostiziert. Viele Rettungsstellen sind unterbesetzt. Junge Ärzte, die oft gerade erst von der Universität kommen, schieben 24-Stunden-Schichten, manche berichten gar von 36 Stunden Arbeit nonstop. Weil Patienten keinen Termin beim niedergelassenen Arzt bekommen, gehen sie ins nächstgelegene Krankenhaus, etwa 20 Millionen sind es pro Jahr. Zudem sind die Ambulanzen nach Angaben der Deutschen Gesellschaft Interdisziplinäre Notaufnahme (DGINA) massiv unterfinanziert, anfallende Behandlungskosten von rund 120 Euro pro Patient werden von gesetzlichen Krankenkassen nur zu einem Viertel erstattet. In deutschen Notaufnahmen prallen so Unerfahrenheit und Hektik auf extrem zeitkritische Krankheitsfälle. Es ist an vielen Stellen ein Organisationsversagen. Aber Fälle wie der von Dagmar Polenski zeigen auch ein weiteres Problem auf, das noch gar nicht so im Bewusstsein der Öffentlichkeit angekommen ist: unzureichende Ausbildung.
So kommt es, dass sich Woche für Woche Gerichte zwischen Freiburg und Stralsund mit Klagen von Patienten befassen müssen, die den Krankenhäusern schwere Versäumnisse vorwerfen; Schätzungen gehen von 190.000 Behandlungsfehlern in Kliniken insgesamt aus – pro Jahr.
Nicht selten enden diese juristischen Auseinandersetzungen nach mehreren Jahren des Streits mit einem Vergleich. Wie bei Anja Rettig*. Sie verständigte sich vor wenigen Monaten mit einem Klinikum in Norddeutschland auf eine Wiedergutmachung von 135.000 Euro. Das klingt nach viel, aber wie viel Geld ist ein Leben wert?
Es geschah an einem Wochenende im Frühsommer. Anja Rettig schlief mit ihrem Mann, da spürte der einen dumpfen Schmerz im Hinterkopf. In der Notaufnahme erkennen die Ärzte nur eine Muskelverspannung im Nacken, führen den Schmerz auf eine Blockade im Halswirbelbereich zurück und ordnen weder eine Sonografie noch eine Computertomografie an, die angebracht gewesen wären. Sie schicken Markus Rettig* mit Halskrause und Schmerzmittel nach Hause.
Die darauffolgenden Tage plagen Rettig heftige Kopfschmerzen. Als plötzlich Schwindel hinzukommt und er nicht mehr richtig sprechen kann, stellt er sich wieder in der Notaufnahme vor – und landet auf der Intensivstation. Dort diagnostizieren die Ärzte eine Blutung im Zentralnervensystem. Im Entlassungsbericht der Klinik ist die Rede von einer "verspätet diagnostizierten Subarachnoidalblutung". Einer Hirnblutung. In seinem Kopf war ein Aneurysma gerissen, eine Gefäßaussackung. Zwei Tage später stirbt Markus Rettig.
Was läuft falsch in den Notaufnahmen deutscher Krankenhäuser? Rajan Somasundaram, leitender Notarzt an der Berliner Charité, treibt diese Frage seit Jahren um. "Wir haben eindeutig ein Qualitätsdefizit", sagt er, "wir haben zwar gute Ärzte. Aber in Sachen Ausbildung von Notfallmedizinern ist Deutschland ein Entwicklungsland."
Kommentare
Es fehlt das Geld....
Sollten alle Ambulanzen und Stationen ausschließlich mit Fachärzten besetzt werden, würde dies ein rundes Sümmchen kosten. Dies ist den Billigheimern in den Krankenkassen und wohl auch dem Gesetzgeber zu teuer.
Der aktuelle Vorschlag des Gesetzgebers, ich glaube Herr Lauterbach steht dahinter, dass jeder in eine Ambulanz gehen kann, wenn er keinen Facharzttermin in 4 Wochen bekommt, wird die Sache nicht verbessern.
Also fordern wir: Gute Ausstattung mit ausgebildetem Personal für Ambulanzen und Krankenhäuser und die dazugehörigen Gelder.
Übrigens, was man auch bedenken sollte: Ausgebildete Fachärzte machen gerne die Biege ins Ausland und in die Industrie. Wer schiebt schon gerne 24h-Schichten mit hoher Verantwortung bei geringeren Verdienstchancen als im umliegenden Ausland?
Medizinisches Personal arbeitet schon seit Jahren am Limit
Völlig unabhängig von der Frage, ob es sich um Pfleger/Krankenschwestern oder Ärzte/Ärztinnen handelt - in den Spitälern herrscht zum Leidwesen aller Betroffenen akute Personalnot.
Wenn Leute nach 24-Stunden Dienst und wenig Erholungszeit nicht mehr fehlerfrei arbeiten können - wen soll man da anklagen? Wohl eher das System und nicht den/die Einzelne, denn das könnte jedem von uns auch passieren.
Es braucht mehr Geld, mehr Personal, aber kurioserweise wird besonders gerne im medizinischen Bereich an der absoluten falschen Stelle gespart. Die 2-Klassen-Medizin ist somit längst Realität, denn wer es sich leisten kann, kann zu den weitaus weniger überlasteten Privatspitälern und -ärzten wechseln (wobei auch das keine Garantie für das Ausbleiben von Fehlern oder gar Heilung ist).
extrem polemisch und gefährlich
Liebe Redakteure,
als "junger Arzt" in der Notaufnahme bin ich sehr enttäuscht von diesem Artikel und finde ihn nicht der ZEIT würdig. Beide beschriebenen Fälle sind extrem polemisch formuliert. Sie sind keine Fälle "unzureichender Ausbildung", sondern mangelnder CT-Diagnostik und diese ist wiederum finanziellen und strahlenschutztechnischen Gründen geschuldet. Und wo steht eigentlich geschrieben, dass Therapie und Diagnostik in beiden Fällen nicht von Fachärzten vidiert worden sind? Sie bestärken mit diesem Artikel die zunehmende Grundhaltung in der Gesellschaft das Medizin eine Dienstleistung darstellt und zu jederzeit, in jedem Maß abgerufen werden kann. Und erzeugen damit in einem extrem gefährlichen Circulus vitiosus die unzureichenden Therapie von wirklichen Notfällen, weil die Notaufnahmen überrannt werden von Trivialitäten. Weiterhin finde ich es eine Anmaßung, wie alle Ärzte in Weiterbildung und die Notfallpflege von ihnen diskreditiert werden. Ja, wir machen Fehler und übersehen auch schwerwiegende Probleme (was übrigens auch einem Facharzt für Notfallmedizin passieren wird), aber dass wir ebenso mit der Schuld leben müssen und dennoch weitermachen und dazulernen, ist nicht erwähnenswert. Denn die wahre Herausforderung in der Medizin ist, zu ertragen, dass man, egal wie weit und erfahren man ist, immer wieder an seine Grenzen stoßen und Menschen Leid zufügen wird. Wir sind somit stetig in Ausbildung. Sie betreiben hiermit keine Aufklärung sondern Randgruppenpolitik.
Doppelposting. Die Redaktion/dj