Die Gedichte Paulus Böhmers sprengen jeden Begriff: flussartige Gebilde in einem Umfang, der sonst ganzen Bänden vorbehalten ist; das aktuelle Langgedicht umfasst 236 Seiten im A4-Format. Man muss weit zurückgehen, um auf Vergleichbares zu stoßen, vielleicht bei den Visionen des Propheten Jesaja, den Prophezeiungen Nostradamus’, den Psalmen Walt Whitmans. Vielleicht sollte man auch Hieronymus Bosch, den Apokalyptiker, Dalí, den großen Masturbator, die Orgelkaskaden Bachs, die Riffs von Hendrix erwähnen, um Böhmer begreifbar zu machen.
Neben dem Schreiben hat Paulus Böhmer, Jahrgang 1936, stets gemalt, aber mehr als das: Er war Stauden- und Ziergraszüchter, Werbetexter, Bohemien im Umkreis von Walter Höllerer, Johannes Bobrowski, Uwe Johnson, Günter Bruno Fuchs. Seit 1973 lebt der Sohn einer oberhessischen Prinzessin und eines in Russland gefallenen Architekten, der das Posener Schloss zur "Führerresidenz" umgestalten sollte, in Frankfurt am Main; von 1983 bis 2003 leitete er das Literaturbüro im Mousonturm. Es überrascht, dass Böhmer mit seinen monolithisch in der Literaturlandschaft stehenden Langgedichten ein Geheimtipp geblieben ist. Kürzlich wurden ihm zwei Goethe-Medaillen, der Hölty-Preis und der Gernhardt-Preis verliehen. Sein Hauptwerk Kaddish, ein 600-seitiges Memorial, ist bei Schöffling vergriffen. 2011 ging Böhmer mit Am Meer. An Land. Bei mir zum Verlag Peter Engstler in der Rhön, wo inzwischen auch die ihn bewundernden Avantgardisten wie Monika Rinck und Ulf Stolterfoht veröffentlichen. Engstler ist die verlegerische Großtat anzurechnen – schließlich ist Böhmer ein Dichter, der noch einmal, nach Rimbaud, Lautréamont und Apollinaire, poetisches Neuland betritt: Böhmers Gedichte sind keine bequeme Lektüre, sondern eine körperliche Erfahrung, der man sich aussetzen muss.
Sosehr die Gedichte auf der einen Seite Zumutung an ästhetische Gewohnheiten sind – bei Böhmer paart sich Erhabenes mit Urkomischem, die Kindheitsfragen nach Gott, Welt und Universum sind konterkariert durch skurrile Sentenzen, absurde Vergleiche –, so sehr hat die Lektüre etwas Befreiendes: Da ist eine Form, die sich organisch mit dem Atem einstellt und alle gewohnten Formen als Verschleierung einer Wahrnehmung erscheinen lässt, die hier wieder zu sich selbst findet.
In drei Spielfiguren seiner selbst – "Wasserkopf", "Schöps" und "Saul" – umkreist Böhmer das Ich. Man könnte es auch als mit rauschhaft entriegelten Sinnen geschriebene Autobiografie bezeichnen; Autobiografie eines Ich, das durch die Flüsse Nordhessens und die Säfte des Körpers gleitet, als flöge es nach Haus.
Sicher lassen sich die drei Partien des Langgedichts auf Kriegs- und Nachkriegskindheit, auf wilde 68er-Ära und Alterskontemplation über Frankfurter Hinterhöfe zurückführen. Das Besondere ist der Sog der Sprache: Der Lyriker ist erst bei sich, wenn er ganz in diesem Wasser fließt. Wenn Montaigne, der als Erster eine Sprache für die Peristaltik der inneren Organe und ihr Mitwirken am Ich gefunden hat, schreibt, dass wir alle nur "aus buntscheckigen Fetzen bestehen, die so locker und lose aneinanderhängen, dass jeder von ihnen jeden Augenblick flattert, wie er will", so führt eine direkte Linie zu Paulus Böhmers sich im eignen Zerfließen aus dem Wasser lesenden Ich: "Mein Balkan / war die Kupferfarbe der Jauche in den Ablaßbecken, / die Beeteinfassungen aus leeren Steinhägerflaschen, / die fernen Entzückungen der Tiere, ihr Erstaunen, / wenn sie nachts durch die Fenster auf die Schlafenden schauten, / war das Gewinsel der Gläubigen, das Gejohle der Heimkehrer, / das Absacken der Eismassen zwischen Ohmwiesen und Ukh, / das Ausbluten der Farben, der Schaum / in Mäulern, in Schnuten, in Pfützen, / waren die kristallinen Präterrita / zwischen den Beinen der Frauen, die haarigen Bussarde, die Fleisch-Erde-Verwerfungen, die Mechanika der Glutäen, / waren Rübenmieten, Ohrenkratz, Zementgeruch, Bienen, / die vor aller Augen verreckten." Erkenntnis vermag bei diesem Wort- und Bilderstrom nur noch im Zündfunken singulärer Momente aufzuschießen.
Kommentare
...einige Gedanken dazu
Ein Gedicht etabliert sich als ein übergeordnetes Kunst-Ding, wenn sich
darin das Unverständliche im zu Verstehenden spiegelt.
Was einmal war, trägt verschiedene Intensitäten in sich; je stärker
Vergangenes uns berührt hat, desto präsenter verbleibt es in uns - nicht
als ein seiender Inhalt, sondern als ein Leuchten, das uns den Weg weist
und den nötigen Halt gibt, das Jetzt zu ertragen und die Kraft,
Zukünftiges zu empfangen.
Die große Frage bleibt bestehen : "....in was bewegen wir uns hinein ?"
Neue Quellen
Verwandelt reich ich dir die Tage,
die sich aus Übersteigung speisen,
die jenseits jeder Daseinswaage
in tragende Gebilde weisen.
Was diese Landschaft in sich birgt,
lässt versiegte Wasser aufersteh'n;
o, wie überfüllend Wandlung wirkt :
schau, wie sie in neuen Quellen gehn.
Ist denn 'Avantgarde' daran ausgerichtet, was einmal war?
Ich verstehe die Sprache des Rezensenten nicht: "Noch einmal Avantgarde". Ist denn 'Avantgarde' daran ausgerichtet, was einmal war? Ich kann hingegen verstehen, dass man die beispielhaft präsentierten Aufzählungen reizvoll findet, wenn auch nicht nachvollziehen. Aber das ist unwichtig. Offen bleibt jedoch, wie 'Avantgarde' etwas von gestern sein könnte. Doch nur, wenn man damit konkrete Ausprägungen verbindet, die alles andere als 'Avantgarde' wären.