Im Titel von Hermann Rudolphs Buch ist von einer Wiedergeburt Berlins die Rede, was ein schönes, aber natürlich nicht zutreffendes Bild für die Veränderungen in dieser Stadt ist – selbst dann, wenn ihr derzeitiger Zustand Staunen hervorruft. Seit 25 Jahren ist Berlin prominenter Schauplatz der deutschen Einswerdung, inzwischen auch Migrationslabor, daneben Sitz der Politik, Repräsentationsort eines halb postnationalen Gemeinwesens, das im Mittelschwergewicht antritt, Bühne für VIPs sowie Inkubator für Nerds aller Art. Außerdem eine der heißesten Partymeilen Europas. Zeitgenossenschaft ist das, was die Stadt Bewohnern und Besuchern freigebig spendet. Und so ist, was dort passiert und gerade passierte, erlebt und empfunden, aber gewiss nicht verstanden: zu frisch alles, zu dicht. Das "wiedergeborene" Berlin hat noch keine eigene Erzählung, und einiges spricht dafür, dass es wohl auch ohne letztgültiges Narrativ auskommen könnte.
Das Schlagwort von der Neugeburt ist also ein Ausruf, verrät aber nicht viel übers Kind. Hermann Rudolphs Buch ist ein erster Versuch, zusammenzufassen, was mit der deutschen Hauptstadt im vergangenen Vierteljahrhundert geschah. Der Autor ist ein sorgfältiger und bedachter Chronist der Nachwendezeit. Er ruft vor allem die Hindernisse in Erinnerung, die Berlin nach dem Mauerfall nehmen musste, um zur Hauptstadt zu werden: die knappe Bundestagsentscheidung vom 20. Juni 1991, die Finten und Verzögerungen, die folgten, die endlosen, zuweilen beschämenden Debatten, sei es über die Benennung des Reichstags, über Straßenplanung und Beamtenumzug, über die Bedeutung von Architekturen, Denk- und Mahnmälern. Rudolph erinnert an die Leistungen der beiden Stadtverwaltungen, aber auch an die kleinmütigen, oft glücklosen Entscheidungen der Berliner Landespolitik währenddessen, ihr Schwanken zwischen Provinzialismus und Größenwahn, dabei nicht selten unter dem heftigen Druck des Bundes und seiner neuen Berlin-Gesetzgebung leidend.
Das alles liest sich in der Rückschau interessant, obgleich doch der Punkt, von dem aus heute diese Zeit in den Blick gerät, derjenige einer gelungenen Metropolenwerdung ist. Von dort aus, so hat man beim Lesen den Eindruck, sortieren sich die Dinge irgendwie anders. Wie es im Einzelnen kam, erklärt nicht zureichend, was aus der Stadt wirklich wurde. Neben dem, was eine an der Politik und an den äußeren Ereignissen orientierte Geschichtsschreibung erfasst, müssen noch andere Kräfte gewirkt haben, und zwar starke. Die Logik der urbanen Evolution ist leider nicht das Thema dieses Buchs. Die historische Erzählung schildert das gesamte Phänomen nur halb.
Vielleicht gibt es ja so etwas wie das Phänomen einer metropolitanen Selbstbefreiung, ein gemeinsamer Geist, der sich in der langen Dauer erhält und sich irgendwann aufs Neue artikuliert. Berlin wäre ein Beispiel dafür. Ost- wie West-Berlin waren nach dem Ende des Krieges politische Konstrukte. Die Kapitale von heute aber ist kein solches mehr. Der Übergang vom politisch kontrollierten Entwurf in den Zustand urbaner Autonomie – was bedeutet, dass sich Einflüsse multiplizieren und die Stadt in den Zustand unkalkulierbarer Transformation gerät –, diese Emanzipation stellt wahrscheinlich die wichtigste Zäsur in der jüngeren Stadtgeschichte dar.
Auch "Hauptstadt" ist da nur eine Wegmarke unter anderen und gewiss nicht der Fluchtpunkt der Entwicklungen. Viele Aufregungen von ehedem erweisen sich also als Redundanzen. Der Phantomschmerz der alten Bundesrepublik war notwendig, er hat sich aber erledigt. Weitgehend verschwunden ist auch die DDR-Nostalgie. Land und Hauptstadt betrifft das nicht länger. Klärte sich in den Querelen über die Bebauung des Potsdamer Platzes oder über Christos Verhüllung des Reichstags wirklich etwas Entscheidendes? In den Imagekampagnen Bonns, im westdeutschen Ressentiment? In den Aufgeregtheiten über die Ankunft der Beamten 1998/99?
Solche Um- und Nebenwege schildernd, gelingen Hermann Rudolph trotzdem genaue Beobachtungen. Sein Tableau ist breit, manches liest man amüsiert wieder, anderes lädt zum nachträglichen Fremdschämen ein. Die Geschichte der Stadt seit der Wende war wirklich eine Springprozession. Der Autor hat sich dabei auf den Aspekt der Vereinigung von Ost- und Weststadt konzentriert, ausgehend vom Hauptstadtbeschluss, den die alte Bundesrepublik auch dazu nutzt, um sich an dem Problemgebilde und Subventionsloch West-Berlin zu rächen. So liest es sich bei Hermann Rudolph über Strecken. Sicher hat er zum Teil damit recht, und die Sympathien, die er hegt für den Heroismus beider Stadtteile beim Zusammenwachsen dessen, was nicht zusammengehören sollte, diese Sympathien übertragen sich auf den Leser.
Und doch erklärt ein auf die politische Einheit konzentriertes Erzählen nicht die Metropolitanität der Stadt. Erklärungsbedürftig ist nicht ihre heutige Politik, auch nicht ihre wirtschaftliche Misere, auch nicht dass sie die Hauptstadtfunktion ausfüllt in einem Land, das heute weltpolitisch anders dasteht als noch vor 25 Jahren – und auch mit Bonn eine andere Republik geworden wäre. Die Frage bleibt, warum sich die Bundesrepublik am Ende in Berlin tatsächlich ein Zentrum gesucht hat, auch wenn sie sich der Zentriertheit lange verweigerte. Zentrum meint hier: die Kapitale, in der die maßgeblichen Dinge geschehen, der Ort der Entscheidungen über Regeln, Standards, Moden, die Quelle der Bilder und der Versprechungen realer Präsenz.
Kommentare
"warum sich die Bundesrepublik....
......am Ende in Berlin tatsächlich ein Zentrum gesucht hat, auch wenn sie sich der Zentriertheit lange verweigerte. Zentrum meint hier: die Kapitale, in der die maßgeblichen Dinge geschehen, der Ort der Entscheidungen über Regeln, Standards, Moden, die Quelle der Bilder und der Versprechungen realer Präsenz."
"Die Bundesrepublik" hat sich allenfalls ein Zentrum für's Gemecker gesucht. Berlin wird unausgesetzt geschmäht und ist an allem und jedem schuld (wenn man nicht gerade ein aufregendes Wochenende hier verbringen möchte).
Mir ist kein Land bekannt, in dem eine derartig ausgeprägte Verachtung für die Hauptstadt gepflegt wird. In Westdeutschland wird verdrängt, warum Berlin Schulden hat und es wird negiert, daß Berlin der einzige größere Ort der Republik ist, an dem so etwas wie eine Wiedervereinigung überhaupt stattfindet, vom "Integrationslabor" ganz zu schweigen.
Stattdessen geht es stets um "Ghettos", "rechtsfreie Räume", den überflüssigsten Flughafen der Welt, um gewesene Partybürgermeister, Subventionserschleichung usw.usf. und um die permanente Unterstellung von Faulheit und Unfähigkeit.
Es gibt btw. ziemlich viele Berliner Bürger, die sich nie um den Hauptstadt-Status gerissen haben und mit der "Berliner Republik" überhaupt nicht einverstanden sind.
Berlin ist u.a. deswegen eine Metropole, weil man sich hier nicht besonders für die Eigenartigkeiten seiner Mitbürger (darunter Prominente) interessiert.
Hauptstadt
Berlin betont an jeder Ecke seine wichtige Hauptstadtaufgabe - das machen weder Washington noch Rom. Gleichzeitig kenne ich keine Haupstadt, die auf Kosten der anderen Städte lebt. Eine Stadt, die ihre eigenen Probleme nicht lösen kann oder will. Warum muss der Steuerzahler in Essen eine Opernsanierung oder einen Hollywoodfilm in Berlin bezahlen - und nicht umgekehrt?
Nette Analyse, falsche Schlussfolgerungen
Ich glaube kaum, dass sich die Bundesrepublik ein Zentrum namens "Berlin" gesucht hat. Dazu ist die Wertedifferenz zum beispielsweise Hanseatischen oder Süddeutischen Mentalität dann doch zu groß, deutlich zu groß.
Berlin ist auch nicht mehr deutsch geprägt. Die wirklich interessanten Bereiche der Stadt, Gastronomie, Foodi Szene, Startup Szene, Nightlife ist überwiegend von Ausländern (Amerikaner, Südeuropäern) getrieben und auch teilweise besucht. Als Ausnahme gilt die klassische Kulturszene, zB Theaterszene mit Berliner Ensemble, deutsches Theater und Volksbühne.
Ja, ein Inkubator für Nerds aller Art, aber diese Nerds werden nie Mainstream, sie sind nur bei der Größe und Profil der Stadt als Cluster in Nischen zu bewundern. In anderen Städten Deutschlands sind das schlichtweg weltfremde Aussenseiter.
Berlin hat außerhalb der Gastronomie und Internet Branche kaum Industrie. Auch das ist nicht auf andere deutsche Städte übertragbar. Auch fehlt der Stadt jeglicher Geschäftssinn. Dieser wird auch nicht von internationalen Publikum reingebracht, beispielsweise Asiaten oder Indern, die in Berlin kaum zu finden sind.
Die Regierung? Bekomt man nur durch Fahrzeugkollonen mit. Keine Einbindung in die Stadt.
Als einziges kann Restdeutschland von Berliner BoBos lernen. So kann sich das gesamtdeutsche Bürgertum einrichten, wenn es durch sinkende Realeinkommen keine Kohle mehr hat.
Gruss aus Islington
Gute Analyse, so sehe ich Berlin auch. Die grosse, kleine Stadt. Gross mit seinen 3.5 Milionen aber in kleinstaedtischen Denkmustern festgehalten. Nicht willens sich der internationalitaet zu oeffnen.
"Wiedergeburt"? Lachhaft!
Berlin ist eine sehr wandlungsfähige Stadt, ob zum Guten oder Schlechten liegt nur im Auge des Betrachters. Aber für eine "Wiedergeburt" hätte das dicke B oben an der Spree erst mal sterben müssen, was sich wohl mancher wünschen würde...
Berlin könnte mal erwachsen werden
Und wie jeder Erwachsener mal selbst Verantwortung für die eigenen Finanzen übernehmen. Ich lese hier wieder nur das übliche, stumpfsinnige Berlin Blah-Blah von einer Stadt die immer sein will, aber niemals ist.
Während richtige Metropolen, wie London oder Paris Motoren ihrer Länder sind und diese finanziell und kreativ befruchten, ist dies bei Berlin umgekehrt: Eine Senke, die nur Energie zieht. Wie ein Stück Brennholz, dass einfach nicht brennen will, egal was für Brandbeschleuniger man verwendet.
Metropolen
Berlin wird nie eine zu Paris oder London vergleichbare Rolle einnehmen, dazu müsste sich die Struktur von Deutschland völlig ändern.
Berlin hat zwar 3,4 Mio. Einwohner, allerdings hat Brandenburg selbst jedoch nur 2,5 Mio.
In der Region leben also einfach unterdurchschnittlich viele Menschen.
Berlin ist zwar Hip, aber allein aufgrund der Verteilung der Bevölkerung in Deutschland kaum in der Lage, ein kulturelles oder wirtschaftliches Zentrum zu werden.
Das ist auch nicht so schlimm, ein Land braucht nicht unbedingt eine kulturell und wirtschaftlich dominante Hauptstadt. Es gibt genügend Länder, bei denen der Regierungssitz nicht das einzige oder bedeutendste Zentrum ist.
Man sollte nur nicht versuchen, es zu lasten der anderen Städte und Metropolregionen von Deutschland künstlich dazu zu machen.