Am Wochenende haben Grenzschutzbeamte der Europäischen Union einen Jungen erschossen. Der Junge war 17 Jahre alt. Er kam aus dem Irak. Er wollte nach Europa. In der Türkei hatte er Schlepper bezahlt, die ihn und etwa 70 andere Flüchtlinge mit einem Boot nach Griechenland bringen sollten. Kurz vor der griechischen Küste wurde das Boot von Beamten der europäischen Grenzschutzagentur Frontex gestoppt. Die Schlepper eröffneten das Feuer. Die Beamten schossen zurück. Irgendwie muss der Junge in die Schusslinie geraten sein. Jetzt ist er tot.
Er ist nur einer von Dutzenden Menschen, die in der vergangenen Woche im Mittelmeer starben. Sein Tod aber zeigt besonders deutlich, was schiefläuft beim Kampf der Europäischen Union gegen den kriminellen Menschenschmuggel: Die EU zielt auf die Schlepper. Aber sie trifft die Flüchtlinge.
Weil es für Asylbewerber nach wie vor kaum Möglichkeiten gibt, legal in die EU einzureisen, sind viele von ihnen auf Menschenschmuggler angewiesen. Deshalb ist in den vergangenen Jahren nicht nur die Zahl der Flüchtlinge gestiegen, sondern auch die Zahl der Schlepper. Einige Schlepper sind eher Fluchthelfer als Kriminelle; sie ermöglichen die Flucht, für einen angemessenen Preis. Viele Schlepper aber verdienen an den Flüchtlingen Millionen und misshandeln sie. Sie sind in transnationalen Netzwerken organisiert, sie sind über die Jahre professioneller geworden – und immer skrupelloser. So skrupellos, dass sie Menschen in schlaffen Gummibooten aufs offene Meer schicken: ohne Wasser, ohne Navigationsgerät. Dass sie Flüchtlinge in Lastwagen sperren und darin ersticken lassen.
Wann immer Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken oder ihre Leichen auf der Ladefläche eines Lasters gefunden werden, hört man dieselbe Forderung: Man müsse die Schlepper jagen. Und ihnen das Handwerk legen.
Als im Frühjahr dieses Jahres in einer einzigen Woche fast tausend Flüchtlinge im Mittelmeer ertranken und erfroren, sagte Innenminister Thomas de Maizière: "Wir dürfen und werden es nicht dulden, dass diese Verbrecher aus bloßer Profitgier massenhaft Menschenleben opfern." Als in der vergangenen Woche auf dem Seitenstreifen einer Autobahn im Burgenland ein Transporter mit 71 toten Flüchtlingen gefunden wurde, rief die österreichische Innenministerin den Schleppern zu: "Ihr könnt euch in Österreich nicht sicher fühlen." Kurz darauf ließ sie die Kontrollen an den österreichischen Staatsgrenzen verschärfen.
Mittlerweile wurden die mutmaßlichen Schlepper gefasst. Doch langfristig trocknen schärfere Grenzkontrollen das Geschäft der Schlepper nicht aus. Sie beleben es. Mit dem Menschenschmuggel ist es wie mit dem Drogenschmuggel: Er lebt vom Risiko. Je größer die Wahrscheinlichkeit, dass ein Schmuggler auffliegt, umso mehr Geld kann er für seine Dienstleistung verlangen.
Gleichzeitig sorgt die EU dafür, dass nicht nur der Wert seiner Dienstleistung steigt, sondern auch die Nachfrage. In Ungarn wurde am Wochenende ein neuer Grenzzaun fertiggestellt, 175 Kilometer lang, 4 Meter hoch. Wo Flüchtlinge früher auf eigene Faust durch Grenzflüsse waten oder durch die Wälder der Grenzgebiete laufen konnten, müssen sie sich heute verstecken: in Containern und Kofferräumen, in Kühltanks und auf Ladeflächen. Fast immer müssen sie sich dabei Schleppern anvertrauen. Schleppern, die sie im schlimmsten Fall ersticken oder verdursten lassen.
Viele Polizisten und Strafverfolger, die ihr Berufsleben dem Kampf gegen den Drogenschmuggel gewidmet haben, sind zu dem Schluss gekommen, dass gegen den Schmuggel nur eines hilft: die Eliminierung des Gewinnfaktors Risiko. Die Legalisierung der Schmuggelware.
Eine Legalisierung der Schmuggelware Mensch hieße, aus illegalen Einwanderern Flüchtlinge zu machen, die nicht nur das Recht haben, in der EU Asyl zu beantragen, sondern auch, in die EU einzureisen. Wollte man sämtliche Flüchtlinge zu legalen Einwanderern erklären, käme das einer Öffnung der EU-Außengrenzen gleich. Die ist im politischen Klima der Europäischen Union ungefähr so wahrscheinlich wie die Legalisierung von Heroin im politischen Klima des Freistaats Bayern.
Realistischer wäre es, legale Fluchtkorridore für ausgewählte Flüchtlinge einzurichten, passgenau zugeschnittene Schlupflöcher. Etwa für Menschen, die mit großer Wahrscheinlichkeit ohnehin nach Europa kämen und gute Chancen haben, hier als Flüchtlinge anerkannt zu werden: Syrer und Iraker zum Beispiel.
Den juristischen Rahmen für solche Schlupflöcher gibt es seit Langem, er wird nur kaum genutzt. So darf jeder EU-Staat Flüchtlinge legal einfliegen und als sogenannte Kontingentflüchtlinge aufnehmen. Zum Beispiel Syrer, die in den überfüllten Flüchtlingslagern im Libanon auf eine Weiterreise nach Europa warten. Resettlement nennt sich diese Art der legalen Flucht. In den nächsten zwei Jahren will die EU auf diese Weise 20.000 Menschen einreisen lassen. Gemessen an der Bevölkerung, sind das 0,004 Flüchtlinge pro 100 EU-Bürger. Da ginge noch mehr.
Neben den Flüchtlingskontingenten ließe sich die Zahl der Stipendien für Studenten aus Krisenregionen erhöhen, auch die Familienzusammenführung könnte erleichtert werden. Ist etwa ein syrischer Vater in Deutschland einmal als Flüchtling anerkannt, darf er seine Frau und seine minderjährigen Kinder nachholen – theoretisch. In der Praxis aber dauert die Bearbeitung der Anträge oft Jahre. Die zuständigen deutschen Konsulate und Botschaften in Erbil, Beirut oder Amman sind unterbesetzt. Viele Familien wollen so lange nicht warten. Und vertrauen sich in der Zwischenzeit lieber Schleppern an. Nach Europa kommen sie so oder so.
Gäbe es mehr legale Schlupflöcher, wäre der Junge aus dem Irak, der vor der griechischen Küste erschossen wurde, vielleicht noch am Leben. Vielleicht wären die mutmaßlich syrischen Flüchtlinge, deren Leichen in Österreich geborgen wurden, niemals in den Lkw ihrer Schlepper gestiegen.
Noch aber sind die Schlupflöcher winzig. Solange das so bleibt, ist der Kampf gegen die Schlepper vor allem eines: ein Kampf gegen die Flüchtlinge.
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Das Video fasst zusammen, wie Schleuser über die zentrale Mittelmeer-Route und die Westbalkan-Route Menschen nach Europa bringen.
Kommentare
Entschuldigung
ich habe einiges erwartet .. aber nicht so einen ..sorry KÄSE. weil es keine legalen möglichkeiten gibt, darf man nichtsgegen verbrecher unternehmen, die den tod der menschen denen sie zu flucht verhelfen, billigend in kauf nehmen. mehr noch..die schon durch die wahl z.bsp. der schiffe erst die grundlage legen das die menschen sterben können. alter, unsichere boote mit zu vielen menschen übers meer schicken..auf see dann die menschen bedrohen um noch mehr geld zu bekommen..um sie dann alleine auf offener see sich selbst zu überlassen. dagegen darf man nichts machen..labber labber..weil es keine legalen wege gibt. ach ja nur mal zu auf der zunge zegehen lassen um wieviel geld es das geht..ein boot mit 800 menschen bringt den schleppern ca 4.000.000 €. da frage ich mich ... in was für einer welt leben sie denn ??dann müssen sie auch drogendealer verteidigen die gepanschten,vergifteten stoff verkaufen...denn nach ihrer logik muss das dann so sein..weil es keine legalen wege gibt an den stoff zu kommen. sie sagen man kann es nicht vergleichen ?? kann man doch..in beiden fällen wird die not von menschen ausgenutzt...und deren tod in kauf genommen..und das alles weil es keine legalen wege gibt.
"Entschuldigung" (@coolray)
Mit Ihrem Beispiel des Drogenhandels haben Sie ein gutes Beispiel gewählt. Die richtigen Lösungen sind in beiden Fällen die gleichen: Konsum legalisieren und damit den illegalen Markt automatisch beiseitigen. Das hat bei Alkohol und Zigaretten auch ganz gut funktioniert.
Andersherum: wenn man die afrikanischen Küsten leerfischt, den Kontinent mit Waffen beliefert und sich dann über Kriminaliät und Flucht wundert, hat man nicht nachgedacht.
Massenhafte Fluchtbewegungen ist nicht zu verhindern
Jedenfalls nicht kurzfristig, solange derart kastrophale Verhältnisse in den Heimatländern der Vertriebenen herrschen. Neben einer fairen Verteilung sind Fährsysteme über das Mittelmeer und legale Fluchtkorridore über den Landweg wahrscheinlich effektiver und bestimmt humaner, als Abschottung, Illegalisierung und damit ein Abdrängen von Flucht- und Migrationsbewegungen in eine kriminelle Schattenwelt.
@ 2 Das ist wohl wahr
"Massenhafte Fluchtbewegungen sind nicht zu verhindern.
Jedenfalls nicht kurzfristig, solange derart kastrophale Verhältnisse in den Heimatländern der Vertriebenen herrschen."
Nur, diese "katastrophalen Verhältnisse" kommen nicht aus heiterem Himmel, es sei, aus den Bombenschächten der Hüter von Demokratie und Menschenrechten.
Ich habe Menschen aus Syrien, Marokko, USA, Frankreich, Spanien, den Niederlanden, Ghana hier in D€ kennengelernt, Palästinenser, Briten, Italiener, Yugoslawen, Polen, Chinesen, Inder, Südafrikaner, Thailänder, Türken und Russen.
All diese Menschen hatten ganz individuelle Gründe für ihre Strandung/Landung in D€. Sie haben ihr Land aus je spezifischen Gründen verlassen, sie waren nicht gezwungen dazu.
Die Flüchtlinge heute sind dazu gezwungen, eine Frage des Überlebens.
Syrien, Irak, Tunesien, Libyen, Afghanistan, Afrikaner verschiedenster Nationen, wer zwingt sie dazu?
Wer zwingt die Ukrainer dazu, massenhaft in die Russische Förderation bzw, nach Polen zu flüchten?
Betrachten Sie einfach die Rolle der USA. Angriffskriege, wo das schwerer zu vermitteln ist eben über (übrigens völkerrechtlich verbotene) 'Regime-Changes haben ganze Staaten in die Katatrophe gebombt.
Immer mit dabei: die €U, insbesondere D€.
Das muß der Ansatzpunkt sein.
Es ist Irrsinn, im Schatten der mittlerweile totalitären USA an einer 'neuen deutschen FührungsRolle in der Welt' zu basteln.
Frau Lobenstein, wenn Sie legale Fluchtkorridore
für Kriegsflüchtlinge nach Europa erschaffen löst das das problem auch nicht, denn diejenigen die davon nicht erfasst werden und trotzdem nach Europa/Deutschland wollen werden es weiterhin versuchen.
Ich gehe davon aus, dass Ihnen diese Problematik nicht entgangen ist - wie Sie damit umgehen möchten würde mich dringend interessieren.
Die Schlepper eröffneten das Feuer.
Welchen Grund hätten die dazu haben können?
"Die Beamten schossen zurück." Aha. Kein Beamte würde das Gegenfeuer eröffnen, wenn er mit hoher Wahrscheinlichkeit Unschuldige treffen könnte - da würde nie ein Beamter zurückschießen.
"Irgendwie muss der Junge in die Schusslinie geraten sein. Jetzt ist er tot." Naja - man hat eben nicht immer Glück....Das hätte man mal unter das Foto von dem Kleinkind schreiben müssen, das angeblich nach dem Kentern eines Bootes ertrank: "Irgendwie muss der Junge über die Reling und ins Wasser gestolpert sein. Jetzt ist er tot."
Frontex. Ihr erschießt einfach so einen 17-jährigen Flüchtling. Was seid ihr nur für Menschen.
Erst recherchieren, dann poltern!
Bevor sie den Tod des kleinen Jungen ebenfalls auf abenteuerliche Art und Weise der vermeintlich inhumanen oder besser gesagt ohnehin kaum vorhandenen Grenzpolitik der EU in die Schuhe schieben und damit weiter instrumentalisieren, sollten sich sich lieber mal etwas mehr mit den Hintergründen dieser Tragödie auseinandersetzen. Die Familie des Jungen lebte bereits seit 2012 in der Türkei, von einer überstürzten Flucht kann also gar nicht die Rede sein. Auslöser für das riskante Aufbrechen der Familie war tatsächlich die Hoffnung des Vaters in Europa eine ziemlich teuere Zahnbehandlung erstatten zu bekommen. Zumindest behauptet das seine in Kanada lebende Schwester:
https://www.youtube.com/w...
Die Schuldigen in diesem Falle sind also wohl eher jene scheinheiligen Gutmenschen, die ständig weltweit Botschaften a la "das Boot ist noch lange nicht voll" grölen und mit Blick auf Europa suggerieren, dass hier Milch und Honig in Hülle und Fülle fließen. Es ist dieses Schaffen von eben jenen überzogenen und falschen Anreizen, dass die Flüchtlingswelle in jüngster Zeit vollkommen eskalieren lässt. Auch ich als vermeintlich reicher Europäer bekomme nicht einfach so neue Zähne gezahlt. Entweder ich muss die sehr hohen Kosten dafür selber tragen oder ich muss eine recht teure Zusatzversicherung abschließen. Weniger selbstgefälliges Pathos und dafür mehr Realitätsnähe und Augenmaß würden Ihnen sicher guttun!