Djan Ivson Silva steht mit verschränkten Armen da, ein stämmiger Mann mit zurückgegelten schwarzen Haaren und bequemen Schlabberkleidern. Er fällt ein bisschen auf, an diesem Freitagabend am Platz der Republik: Die anderen hier sehen verwegener aus. Einige Hundert junge Männer in Motorradjacken und Baseballkappen stehen hier in der Innenstadt des brasilianischen São Paulo zusammen. Viele sind aggressiv, high und betrunken; sie johlen, recken ihre Fäuste und brüllen herum.
"Dies ist der zentrale Ort für uns pichadores", sagt Ivson, "hier werden alle Informationen ausgetauscht, alle Pläne gemacht." Die pichadores, so nennen die jungen Männer sich, werden gleich ausschwärmen, so wie fast jede Nacht. Sie werden die Wände der Hochhäuser hinaufklettern und an die Fassaden schreiben – mit Sprühdosen oder Malerrollen.
Mit den pichadores hat São Paulo eine Extremform des Graffiti-Sprühens hervorgebracht. Sie liefern sich in schwindelerregenden Höhen einen gefährlichen Wettlauf mit der Polizei und mit privaten Milizen. "Die Gewalt nimmt ständig zu", sagt Ivson. Wachleute prügelten mit Eisenstangen von Dächern auf die Fassadenmaler ein, Hausbewohner kippten heißes Wasser aus den Fenstern, manchmal komme es zur Schießerei. Jedes Jahr sterben pichadores . Vielleicht sind es zehn oder zwanzig, eine genaue Zahl kann niemand nennen, zumal sie in der Polizeistatistik vor allem als "Einbrecher" auftauchen.
Für die meisten Bewohner von São Paulo ist die Sache nichts als Vandalismus, eine Verschandelung ihrer Stadt. Ivson aber sieht sich in einem politischen Kampf. "Die meisten pichadores schreiben ihr ganzes Leben lang immer nur ein einziges Wort auf diese Wände: ihren eigenen Namen", erklärt er. "Wissen Sie, warum? Weil es für Leute wie uns die einzige Art ist, sich bemerkbar zu machen. Um zu sagen: Wir sind auch noch da!"
Er und seine Freunde fühlen sich von der Gesellschaft im Stich gelassen. Brasilien hat seit 2003 zwar eine linke Regierung, die die Sozialhilfe ausgebaut und große staatliche Investitionsprogramme aufgelegt hat. 20 bis 40 Millionen Brasilianer sind in eine neue untere Mittelschicht aufgestiegen. Doch Ivson sieht es so, dass selbst die bestgemeinten Sozialprogramme das Leben der Ausgeschlossenen in den Randgebieten kaum verändert hätten. "Es gibt keine Partei, die uns repräsentiert", sagt er bitter. Auch nicht die Linke? "Die Linke hat uns verlassen", antwortet er.
Die soziale Spaltung Brasiliens ist in der 20-Millionen-Stadt São Paulo besonders sichtbar. Die wohlhabende Mittelschicht verschanzt sich in schwer bewachten Wohnfestungen. In Autos mit verdunkelten Scheiben pendelt sie zwischen Wohnung, Büro, Einkaufszentren und Vergnügungstempeln hin und her. Die Reichsten fliegen sogar mit Helikoptern durch die Stadt. Die Polizei jagt Obdachlose, die sich in den Wohngebieten des Bürgertums aufhalten. Die Armen werden von der Stadtverwaltung immer weiter in die Vororte gedrängt.
"Wir sind die Klasse der Peripherie", sagt Ivson, "die allerletzten in der Rangordnung dieser Gesellschaft." Er nickt einigen seiner Kumpels zu und deutet mit dem Arm auf seine "Bande": So nennt er diese Männer, mit denen er die Fassaden erklettert und denen er dabei auf Leben und Tod vertraut. Einige leben wie er in den Slums der Außenbezirke, wo es stunden-, manchmal tagelang nicht mal fließendes Wasser gibt. Andere sind obdachlos oder hausen in vergessenen Industriehallen. Hier stehen junge Männer, die nichts schreiben können außer dem eigenen Namen. Sie trinken billigen Schnaps, nehmen Crack und aufputschende Drogen. Ehrliche Arbeit ist selten, die meisten leben von kleinen Gaunereien wie dem Diebstahl von Kupferrohren. Oder auch von größeren: Sie werden von den Drogenkartellen angestellt, zum Dealen oder Töten.
Wenn man sie fragt, warum sie pichadores sind, klingen die Antworten manchmal so politisch wie bei Ivson. Andere Male sind da einfach nur Wut und der Wunsch, beim Extremklettern oder dem Katz-und-Maus-Spiel mit den Sicherheitskräften Dampf abzulassen. "Die pichação ist auch ein Wettlauf mit der Sicherheitstechnik der Reichen", sagt Ivson und zählt auf: "Sensoren, Kameras, Elektrodrähte." Ein erfolgreicher pichador zu sein ist auch eine Art, sich Respekt zu verschaffen – unter den Freunden und bei den Frauen.
Ivson läuft in eine Nachbarstraße, zwei Blocks vom Platz der Republik entfernt. Da steht das alte Polizeirevier, ein 20-stöckiger Turm aus Stahlbeton und grünen Glasfenstern. Er ist von oben bis unten mit weißen Strichen und Halbkreisen bemalt. Den Zeichen der pichadores, ihrer selbst erfundenen Schrift.
Kommentare
Einzwei Bilder der Kunst wären schön gewesen statt bloß einen vermummten Künstler zu zeigen.
http://www.montana-cans.com/…
Den SPRAYERN gewidmet.
Schmierst Du bloß oder sprühst Dir einfach die Seele
aus der Dose ?
Hieroglyphisch die Botschaft.
Fährte für den Begleiter, nach Dir, irgendwohin.
Spuren eines Glaubens auf dem Weg zu gemeinsamem Sinn.
Wie eine Religion
ein Dogma
oder ein Befehl
marschieren Ideologien Wand zu Wand
ob auf Beton, auf Glas oder einfach Blech.
Was zählt ist die SYMBOLIK der FRUST
in Grafik umgesetzt,
selbst wenn die für viele „Uneingeweihte“
nur "Schmierereien" ähneln.
Symbolik des Frusts.
Warum gehen diese Leute nicht arbeiten? Und malen ihre "Kunst" auf Dinge die ihnen selbst gehören?
First World Problems vs. Third World Problems:
Während Ihre einzige Sorge eine saubere Häuserwand zu sein scheint geht es bei vielen Menschen in Brasilien um den Kampf um elementare Bedürfnisse. Armut, Rassismus und fehlende Möglichkeiten zum gesellschaftlichen Aufstieg sind in Brasilien sehr ausgeprägt. Das versteht man am besten wenn man mal selbst hinfährt. Z.B. in die Favela Vidigal in Rio.
ändert das sprayen irgendetwas etwas an den herrschaftsverhältnissen? nein? also, auf geht's jungs: morgen! 12h! revolution!
Brasilien ist keine dritte Welt. Und wenn sich diese Leute zudröhnen und Nachts Vandalismus begehen ist es auch klar dass es mit dem Aufstieg nicht klappt (Junkies in D geht es übrigens nicht viel anders).
Sie steigen nicht auf, da sie sich nicht beteiligen, sie beteiligen sich nicht, da sie nicht aufsteigen. Mit einem platten "geht doch arbeiten!" streichelt man vielleicht die eigene besorgte Seele, nähert sich der Sache aber kein Stück an.
Tut mir Leid aber da liegen Sie komplett falsch. Fahren Sie doch mal selbst nach Brasilien (insbesondere in eine der Metropolregionen) und überzeugen Sie sich selbst. Und glauben Sie mir der Wille zum finazielle und gesellschaftlichen Aufstieg durch ehrliche/anerkannte Arbeit ist dort ausgeprägter als bei uns. Wie würde es Ihnen denn gefallen als letzter Dreck behandelt zu werden, nur weil Sie nicht das Glück hatten als Weißer und/oder in der richtigen Schicht geboren zu sein? Die Chancen zum Aufstieg sind minimal. Alltagsrassismus ist tief verwurzelt. Das staatliche Bildungssystem ist ein schlechter Witz. Und da soll kein Frust/Verzweiflung aufkommen?
Fahren Sie hin und urteilen Sie dann selbst!
Und was wäre Ihr Vorschlag?
Geltungsbedürfnis ist einer der Triebfedern der Menschheit schon immer gewesen.