Im Rheinland ist die Flyeritis ausgebrochen: Handzettel und Broschüren in arabischer, englischer und französischer Sprache werden an Flüchtlinge verteilt, um ihnen den Karneval zu erklären. Von Brauchtum und Schunkeln ist da die Rede, von singenden, kostümierten Menschen, vom Rosenmontagszug.
Das klingt alles ziemlich bieder für das, was mit einigen Teilen der Republik passiert, wenn dort die Narren los sind. Dabei verrät der Karneval viel über das, was wir den Menschen, die zu uns kommen, nahebringen wollen, wenn wir von Integration reden: wie wir sind und wie wir in diesem Land miteinander umgehen. Die Karnevalstage sind extreme Tage, daher führen sie auch an die extremen Fragen unseres Zusammenlebens: Wie weit gehen wir, wenn wir uns gehen lassen? Was treiben wir, wenn wir es bunt treiben wollen?
An Weiberfastnacht steht vor einer Düsseldorfer Kneipe ein Trupp junger Männer in Hasenkostümen (niedliche Tiere gehen immer, nicht nur in YouTube-Videos) und spricht zwei vorbeilaufende Frauen im Minnie-Maus-Dress an (wie gesagt, Tiere gehen immer). "Wir haben die dicksten Möhren, wollt ihr mal sehen?" Was sonst aufschreitauglich ist, löst ein entzücktes Mäusekichern aus und endet mit einem gemeinsamen Abend am Tresen.
Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker hatte für ihren Eine-Armlänge-Abstand-Tipp als Schutz vor sexuellen Übergriffen einen Shitstorm geerntet. Kurz danach steht sie auf der Bühne einer Kölner Karnevalssitzung und singt ins Mikrofon: "Denn mer sin kölsche Mädcher, han Spitzebötzjer aan. Mir lassen uns nit dran fummele..." (Denn wir sind kölsche Mädchen, haben Spitzenunterhosen an. Wir lassen uns nicht daran fummeln). Die Reaktion im Saal: fröhliches Klatschen und Schunkeln.
Das Verrückte am Karneval ist: Der kontrollierte Exzess schlägt die aufgeregte Korrektheit. Dieses kollektive Ausbrechen wird auch rheinischer Frohsinn genannt. Das Motto: Was an Karneval passiert, zählt nicht. Männer und Frauen ziehen getrennt los, flirten und küssen (auch die Vergebenen), erwachsene Menschen betrinken sich mit Ansage und bieten ihre Möhren feil. Ja, Karneval hat etwas Sexuelles, und das macht es nicht nur für traditionsbewusste Araber schwierig, sondern auch für manch aufgeklärten Deutschen.
Über den sexuellen Aspekt steht in den Flyern jedoch nichts. Allenfalls das Bützen (Küssen) wird als karnevalistisches Brauchtum erwähnt. Das hat ungefähr so viel Aufklärungscharakter, wie die menschliche Fortpflanzung anhand von Bienen und Blüten zu beschreiben. Närrisches Treiben und närrische Triebe zu erklären ist nichts für Verklemmte. Denn durch belanglose Biederkeit bleibt auch das eigentlich Entscheidende ungesagt.
Was wie ein "Alles ist erlaubt" wirkt, ist tatsächlich nur ein "Alles ist möglich". (Zugegeben, das klingt jetzt nach Swinger-Club.) Dieses Versprechen endet in dem Moment, in dem einer nicht mitmacht (oder nicht mehr mitmachen will). Obwohl es hierfür keine Gesetzmäßigkeit gibt, obwohl an den tollen Tagen außer Kraft tritt, was sonst die Regel ist, funktioniert diese Grenze.
Warum das so ist? Weil an Karneval die Werte, auf die wir uns verständigt haben, ihre Gültigkeit nicht verlieren. Weil das Unanständige nur Kostüm ist, das uns erlaubt, verwegener, ja vielleicht auch hemmungsloser zu sein. Unter diesem Kostüm aber steckt immer noch der Mensch, der wir die restlichen 364 Tage des Jahres sind. Und er ist es, der uns Grenzen setzt und Grenzen erkennen lässt. 365 Tage im Jahr.
Das mag jetzt für den ein oder anderen eine Armlänge zu viel Pathos sein für Schunkeln, Trinken und Bützen. Doch der Karneval hat Pathos verdient. Er zeigt, wie wunderbar vernünftig dieses Land ist: Selbst wenn wir uns gehen lassen, kommt nicht mehr als zivilisierter Ungehorsam heraus.
Kommentare
Warum glauben wir eigentlich immer, man müsste da irgendwas erklären etc. Die jungen Männer sind doch nicht doofer als unsereiner - die wissen schon genau, dass das bei uns nicht erlaubt ist... aber solange sie nicht mit Strafe rechnen müssen, machen sie es eben... ist doch verständlich, oder?
Da machen Sie es sich vielleicht ein bisschen zu leicht. Ich denke durchaus, dass das für manche Menschen etwas verwirrend ist. Und ich denke, dass da auch durchaus der ein oder andere Deutsche, die ein oder andere Grenze überschreitet.
Naja, es gibt einen Unterschied zwischen derber Sexualität, Obszönitäten und plumpen Annäherungsversuchen einerseits - oder aber Sexismus als Mittel zur pauschalen Erniedrigung von Frauen, zur männlichen kollektiven Machtdemostration oder gar, um Portemonnaies und Smartphones zu klauen.
Ersteres geschieht, im Großen und Ganzen, in beiderseitigem Einverständnis zwischen Mann und Frau, das Zweite ist ein Übergriff.
Der Unterschied klingt zwar theoretisch und im Detail kompliziert, ist aber in der Lebenspraxis eigentlich ganz einfach zu beherzigen und unschwer zu begreifen.
In der Silvesternacht waren es böse "nordafrikanisch aussehende Männer". Auf der Wiesn sind das "kecke Burschen, die es Spaß machen". Es kommt eben immer darauf an, wie das Gegenüber das empfindet.
Aber wenn es wirklich so einfach ist, schreiben Sie ein Buch: "So einfach kommen Sie zum Einverständnis mit einer Frau" - wird bestimmt ein Bestseller. Schließlich suchen Männer landauf landab nach einer einfachen Vorgehensweise, bei der sie weder als Schwächling noch als Monster dargestellt werden.
Das Unanständige im (Kölner) Karneval ist nicht immer nur das Kostüm. Die Stadt ist gerade an Weiberfastnacht voll von Sturzbetrunkenen, die Straßen von deren Mageninhalt und beim einfachen Bützen ist bei vielen noch lange nicht Schluss. Das alles und angemessene Verhaltensregeln einem Fremden zu erklären, ist sicherlich extrem schwierig, egal ob der aus dem Irak oder Island stammt.
Meines Erachtens sind hier zwei Regeln wichtig: Respektvoller Umgang und ein Nein bedeutet Nein.
"Das Unanständige im (Kölner) Karneval" ist nicht nur einem Fremden sondern auch einem Einheimischen "extrem schwierig" zu erklären. Und das selbstvergewissernde Bemühen des Artikels, den Karneval als allein "zivilisierten Ungehorsam" zu erläutern gehen gründlich daneben. Im Karneval ist ein Nein eben keineswegs immer ein ein Nein, sei dies dem Karneval oder nur dem Alkohol geschuldet. Schon das männliche "Nein" zum harmlosen Abschneiden der Krawatte scheitert früh, aber auch Anfassen über Bützchen hinaus ist in beiderlei Geschlechts übliches Treiben. Der rheinische Karneval ist ein durch und durch sexualisiertes Treiben, das gerade seinen Reiz aus der Enthemmung zieht. Von der Zivilisation bleibt da nicht mehr viel. Außer: dass man sich - unter Alkohol zuweilen erfolglos - bemüht, die Gesetze nicht zu brechen. Angesichts der Kölner Bahnhofsvorplatzereignisse mag das schon ein Wert sein. Andererseits führen minderjährige Mädchen, denen man unterjährig die vorsichtige Furcht vor sexuellen Übergriffen nahelegt, im Karneval beinschwingend unterhöschenblitzende Tänze auf. Vor u.a. älteren Herren, zumeist im Beisein ihrer begeisterten Mütter. Das ist tatsächlich schwer zu verstehen.
An Fasnacht sollten sich aus solidarität alle männer möglichst echt als frauen verkleiden.
sollte sich dann jemand "vergreifen" hat er sehr schnellt genug davon, wenn er erstmal ein gemächt in der hand hatte ;-)
>>"An Fasnacht sollten sich aus solidarität alle männer möglichst echt als frauen verkleiden.
sollte sich dann jemand "vergreifen" hat er sehr schnellt genug davon, wenn er erstmal ein gemächt in der hand hatte ;-)"
Ja, machen Sie das mal! Sie werden staunen wie viele (Frauen)Hände sie am Po oder im Schritt haben. Wie da Frauen das Bedürfnis verspüren den Rock zu heben und zu prüfen ob er kecke Bursche "unten ohne" ist...
:-)