Den neuesten Ermittlungsergebnissen zu den Misshandlungen bei den Regensburger Domspatzen zum Trotz: Mit dem Thema lässt sich in der Flüchtlingskrise kaum mehr ein ARD-Brennpunkt bestreiten. Mag sein, dass die Deutschen des Themas überdrüssig geworden sind seit dem Bekanntwerden der Missbrauchsfälle an katholischen Schulen im Jahr 2010. Mag sein, dass demente oder tote Täter, finanziell ruhiggestellte Opfer und vernichtete Beweise wenig nachrichtentauglich sind. Zudem ist scheinbar viel passiert: Die Bistümer haben Untersuchungskommissionen eingerichtet. Allen ist klar: Seelische Schäden können nicht entschädigt werden, Opfer, die sich nicht abfinden können, können nicht abgefunden werden.
Wo die Öffentlichkeit sich angeödet abwendet, springt dankenswerterweise das Theater in die Bresche: Sowohl im renommierten Berliner Ensemble als auch im Theater Bonn hatten in diesen Tagen Stücke Premiere, die den sexuellen Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen zum Thema machen. Was kann Theater aufarbeiten, das Untersuchungskommissionen, Therapeuten und Gerichte nicht aufklären können? Werden die Opfer nicht vorgeführt, indem sie auf die Bühne gezerrt werden?
Nein! Das Theater ist ein Raum der Vorstellungskraft. Dort können die Charaktere ihre Ambivalenzen ausspielen und auf der Bühne so widersprüchlich wirken, wie ihre Vorbilder in der Realität sind, aber es nicht zeigen dürfen. Da alles nur Spiel ist im Theater, können die verschiedensten Perspektiven durchgespielt werden. Auch die innere. Das Theater sieht in die Seelen der Menschen. Es stellt die Abgründe heraus, die es dort findet.
Das Theater ist eine moralische Anstalt. Das glauben wir zumindest, seit es uns Friedrich Schiller eingeimpft hat. Seitdem tobt der Streit, was unter Moral zu verstehen sei. Ist das Theater, wie Schiller glaubt, eine "Schule der Sitten", eine "Verstärkung für Religion und Gesetze", gerade dort, wo die Macht dieser Institutionen nicht hinreicht? Oder gilt das andere Schiller-Wort von der "Schule der praktischen Weisheit", die durch "Aufklärung des Verstandes die Irrtümer der Erziehung bekämpft"?
Die Bistümer halten sich an den ersten Schiller-Satz und betreiben immer allerhand Aufwand, um Religion und Gesetze zu retten. Das Argument: Einzelne Verfehlungen innerhalb der Kirche besudeln Mutter Kirche nicht. Sie ist heilig. Auch im Bonner Aloisiuskolleg (AKO), wo jahrzehntelang Schüler missbraucht wurden, versuchten ehemalige Schüler mit einem offenen Brief das Renommee ihrer Schule zu retten. Damit fielen sie den Opfern in den Rücken. Laut Untersuchungsbericht hatte der Missbrauch System: 18 Ordensleute und zehn Mitarbeiter wurden als Täter identifiziert.
Der Theaterautor Thomas Melle, einst selbst Schüler am AKO, hat in der Werkstatt des Theaters Bonn sechs Jahre nach dem Skandal sein Stück "Bilder von uns" aufführen lassen. Es ist großes Theater auf kleiner Bühne. Warum? Weil es dort hinblickt, wo das Auge der Medien nicht hinreicht, und keine skandalsüchtige plumpe Nacherzählung der Ereignisse liefert. Melle zeigt vielmehr den inneren Zwiespalt, mit dem sich Opfer herumschlagen müssen. Es wird deutlich, wie schwer es ist, sich sein Opfersein einzugestehen und beim Verdrängen nicht Schuld gegenüber anderen auf sich zu laden. Das nämlich macht im Stück ein ehemaliger Schüler, inzwischen erfolgreicher Talkmaster: Als er Nacktfotos von sich zugespielt bekommt, die sein einstiger Erzieher, ein Pater am Kolleg, aufgenommen hat, denkt der Medienprofi an Erpressung und verhört seine Mitschüler. Mehr noch: Ihn überkommt die Angst, das Stigma des Missbrauchs könnte seinen Ruf beschädigen – wer will schon "du Opfer" genannt werden? Am Ende führt die Rebellion gegen die eigene Betroffenheit zu einem weiteren Toten. Diese Dimension des realen Schreckens kann so eindeutig nur die Fiktion beleuchten.
Ähnlich im Berliner Ensemble. Dort behandelt der musikalische Abend "Schlafe, mein Prinzchen" von Franz Wittenbrink hochaktuell das Thema Missbrauch bei den Regensburger Domspatzen. Er zeigt in seinem Stück die zerrissene Gefühlswelt dieser Knaben zwischen Reinheit und Schmutz, glockenhellem Gesang und sadistischer Gewalt, herrlicher Kirchenmusik und falscher kirchlicher Herrlichkeit. Was für eine Amplitude!
Beide Inszenierungen zeigen: Dem Missbrauch liegt oft ein missbrauchtes Bildungsideal zugrunde. Im Namen einer idealisierten Antike forderte im Aloisiuskolleg etwa ein Lehrer seine Schüler auf, hellenistische Jünglingsposen nachzustellen – das sei Teil der ästhetischen Erziehung! –, um sie anschließend nackt zu fotografieren. Er folgte ihnen in die Duschkabinen und kontrollierte ihre Hygiene: Der gesunde Geist ruhe nicht nur bei den Griechen in einem gesunden Körper. So verloren die Opfer nicht nur den Glauben an die Menschen, sondern auch den an die Kultur, in deren Namen solche Verbrechen verübt wurden.
Das Theater kann möglicherweise einigen Schülern den Glauben an eine Rettung durch Kultur zurückgeben. Aber vielleicht ist das auch nur hehres Ideal.
Kommentare
Warum wird Kunst immer in Frage gestellt? Solange damit niemandem physischer Schaden zugefügt wird, sollte meiner Meinung nach bis auf kleine Ausnahmen alles erlaubt sein.
Das ist richtig.
"Das Theater ist eine moralische Anstalt. Das glauben wir zumindest, seit es uns Friedrich Schiller eingeimpft hat"
Ist auch richtig. Aber: Seit Schiller hat sich viel verändert. Sexuelle Gewalt wird nicht nur in der Pop- sondern auch in der "hohen" Kultur genutzt, um nebenbei erotische Reize durchzuschleusen, weil Sex sich halt verkauft. So lange das nicht passiert, kein Problem, aber oft werden die Attribute "ehrlich" und "plastisch" als Vorwand für Voyeurismus benutzt. Da darf und sollte man kritisch bleiben, sonst wird das Thema verkitscht und die Opfer erneut ausgebeutet.
Kunst darf das. Und sie soll es auch tun - wenn viel andere (vielleicht) schweigen. Nämlich den Missbrauch in katholischen Einrichtungen offentlich machen, Indem sie ihn beispielsweise auf die Bühne bringt. Und so also das Mediem Theater nutzt, um aufmerksam und machen und vielleicht auch, um zu sensibilisieren.
Wenn etwas auf die Bühne gelangt, dann ist es längst bekannt. Die Aufklärung findet im Vorfeld statt.
Theater lebt von einer starken Geschichte, Gegensaetzen, Emotionen, Meinungen und ueberraschenden Wendungen.
Dieser Definition nach, kann Theater sehr wohl zur Aufarbeitung der schrecklichen Geschehnisse beitragen, wobei darauf zu achten sein sollte, dass das Theater nicht zu Voyeurismus beitraegt und damit die Kinder ein zweites Mal missbraucht werden.
Hier besteht eine Zwickmühle: Einerseits muss das Theater aktuelle Probleme ansprechen, um relevant zu bleiben und seinen Zweck zu erfüllen. Andererseits darf dies nicht zur Ausschlachtung oder Glorifizierung schwieriger und sensibler Themen genutzt werden.
Ich finde, es muss im Einzelfall jedes Stücks und jeder Inszenierung entschieden werden, ob ein passender Ort zwischen diesen Polen gefunden wurde.
Gut, dass Theater das macht (wenn es das gut macht).
Denn in der "realen" Welt heißt Opfer sein leider viel zu oft, abstoßend zu wirken. Wer will schon Missbrauchsgeschichten wieder und wieder hören? Man will weghören und wegsehen. Theater kann diese Lücke schließen und Verständnis für Opfer schaffen.
Noch was: "Seelische Schäden können nicht entschädigt werden, Opfer, die sich nicht abfinden können, können nicht abgefunden werden."
Natürlich - und natürlich nicht: Angenommen, jemand erblindet unschuldig durch einen Autounfall (kenne so einen Fall). Der Schadenersatz heilt die Blindheit nicht. Aber er kann das Unrecht als Unrecht festhalten und die finanziellen Folgen abmildern. Die Aussage Opfer "können nicht abgefunden werden" hat etwas von "jetzt ist's eh zu spät, also warum anstrengen". Vielmehr würde ich mir wünschen, dass den Tätern und Täterorganisationen ein angemessener Schadenersatz zugemutet wird. 5000 EUR (Ettal) oder gar nur 1000 EUR (Odenwaldschule) pro Opfer sind eine Frechheit sondergleichen für lebenslang Traumatisierte. Da würde ich mir mehr Engagement der Medien wünschen, statt dieses nur allzu bequemen Satzes.
"Opfer, die sich nicht abfinden können, können nicht abgefunden werden" hat mich auch sauer aufgestoßen.