DIE ZEIT: Herr Oelkers, Sie haben 600 Seiten über den Päderasten Gerold Becker verfasst, der von 1972 bis 1985 Leiter der Odenwaldschule war und dort zahlreiche Schüler sexuell missbraucht hat. War es das wert, diesem abgründigen Menschen so viel Zeit zu schenken?
Jürgen Oelkers: Ich habe gut vier Jahre an diesem Buch gearbeitet, wenngleich nicht durchgehend. In dieser Zeit habe ich mit vielen Menschen gesprochen, die Becker kannten, mit ihm befreundet waren. Auch mit Menschen, die von ihm missbraucht wurden. Ich kannte einige Geschichten aus Dokumentationen und Büchern, aber wenn man den Betroffenen gegenübersitzt und ihnen zuhört, dann ist das anders. Das war oft schwer auszuhalten. Es hat viel Zeit gekostet, die Personen und Quellen überhaupt zu finden. Nicht jeder wollte mit mir sprechen. Und mancher ehemalige Schüler von Becker hat Probleme mit seinen alten Freunden bekommen, weil er mit mir geredet hat. Die alten Netzwerke funktionieren noch.
ZEIT: Warum brauchen wir ein Buch über Becker?
Oelkers: Das, was an der Odenwaldschule geschah, ist aufwühlender als manch anderer Skandal. Mich hat bei dieser Recherche vor allem die Karriere dieses Mannes interessiert, der ohne jegliche pädagogische Ausbildung zu einem gefeierten Experten wurde. Daran lässt sich ein Stück deutscher Bildungs- und sogar Nachkriegsgeschichte erzählen. Auslöser für das Buch war ein Abendessen mit Andreas Huckele in Zürich, der von Becker missbraucht wurde und unter dem Pseudonym Jürgen Dehmers das Buch Wie laut soll ich denn noch schreien? geschrieben hat. Er fragte, ob jemand wisse, warum Becker 1985 die Odenwaldschule verlassen habe. Niemand aus der Runde der Pädagogen hatte eine Antwort. Das fand ich seltsam und begann zu recherchieren, merkte aber schnell: Da findet sich nichts. Es ist wahnsinnig wenig über ihn bekannt. Sein Wikipedia-Eintrag ist bis heute unvollständig und fehlerhaft. Becker hat alles getan, um die Öffentlichkeit über sein Leben im Unklaren zu lassen. Selbst enge Mitarbeiter wussten kaum etwas über seinen Werdegang.
ZEIT: Was hatte er zu verbergen?
Oelkers: Lügen und Lücken. Becker war studierter Theologe. Aber das war schon alles. Sein Vikariat in Linz hat er ganz plötzlich abgebrochen, kam dann zum Pädagogischen Seminar nach Göttingen, danach an die Odenwaldschule, und später war er auch noch Schulentwickler im hessischen Kultusministerium. Das alles, ohne jemals ein Lehramtsstudium oder ein Examen als Lehrer absolviert zu haben. Er wurde mit einer abgebrochenen Dissertation zu einem einflussreichen deutschen Bildungsexperten, den viele für einen bedeutenden Pädagogen hielten. Beckers Karriere war die eines Hochstaplers.
ZEIT: Hochstapler fliegen irgendwann auf, er ist nie aufgeflogen.
Oelkers: Ihn hat niemand gestoppt.
ZEIT: Warum nicht?
Oelkers: Gerold Becker lernte in Göttingen die richtigen Leute kennen, die ihn bis zum Schluss protegiert haben, allen voran der bereits verstorbene Hellmut Becker, in Deutschland bekannt als der "Bildungs-Becker" – der Mitbegründer und erste Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung saß lange im Vorstand der Odenwaldschule. Die beiden waren nicht miteinander verwandt, sondern trafen sich 1964 am Pädagogischen Seminar in Göttingen. Hellmut Becker war die Verbindung in die deutsche Bildungselite, zusammen mit dem Reformpädagogen Hartmut von Hentig, der zu Gerold Beckers engstem Freund werden sollte. Becker lernte schnell, seine Netzwerke zu knüpfen und hatte dadurch immer Verbündete an seiner Seite, die ihn aus jeder Notlage befreiten und immer wieder mühelos irgendwo unterbrachten. Selbst nachdem es im November 1999 die ersten Missbrauchsvorwürfe gegen ihn gab und die hessische Kultusministerin seinen Beratervertrag fristlos kündigte, schadete das seiner Karriere nicht. Er blieb bundesweit bekannt.
ZEIT: Sie zitieren in Ihrem Buch auch aus Vorträgen Beckers, er trat auf großen Kongressen auf. Wie kam er zu seinem Fachwissen?
Oelkers: Er hat sich alles angelesen, war immer über den bildungspolitischen Diskurs informiert, hat die Ideen und Konzepte anderer kopiert und zu seinen eigenen gemacht. Er hielt Vorträge etwa über die Risikogesellschaft und die Bedrohung unserer Kinder. Das kam beim Publikum gut an. Überhaupt sagte er einfach das, was alle hören wollten. Die Moral hatte er sowieso immer auf seiner Seite. In seiner Rhetorik ging es um die schwachen, schwierigen Kinder, um Gerechtigkeit. Becker hatte die Gabe, sehr schnell Vertrauen aufzubauen und sich unverzichtbar zu machen.
Kommentare
Klingt nach den typischen Charakteristika eines Psychopathen.
... und nach den typischen Charakteristika einer dekadenten Gesellschaft.
"Und kein einziger Täter wurde jemals zur Verantwortung gezogen."
Das ist eines der vielen Indizien dafür. Es muss bis zur Verzweiflung demotivierend für Opfer sein, wenn sie sowas lesen.
... und nach den typischen Charakteristika einer dekadenten Gesellschaft.
Ja, die 70er und 80er waren wirklich dekadent. Meinten sie das?
"…mancher ehemalige Schüler von Becker hat Probleme mit seinen alten Freunden bekommen, weil er mit mir geredet hat. Die alten Netzwerke funktionieren noch."
Es wird also wieder passieren. Vielleicht gerade jetzt.
Eher nach bescheidenen Recherchefähigkeiten und reichlich viel phantasievollen Vermutungen.
Es wird wieder passieren. Aber wenn sich Ihr "also" auf das Funktionieren der Netzwerke bezieht - so skandalös diese sind und so sehr auch ich für lückenlose Ermittlungen bis zur endgültigen Zerschlagung derselben bin - , es wird trotzdem passieren. Und sicher, gerade jetzt passiert es irgendwo. Es passiert leider auch ohne Netzwerke, in Familien, Vereinen, "Freundes"kreisen, Hinterzimmern... Es passiert, weil es diese Neigungen gibt, mag man sie Krankheiten oder Verbrechen (oder beides gleichzeitig) nennen. Wo dann noch Machtgefälle und Beziehungsgeflechte bestehen, kommen diese Netzwerke zustande (wie es auch andere Netzwerke des Verbrechens gibt). Die Frage ist, wie geht die Gesellschaft mit diesen "Neigungen" um: Wegschauen? Verdrängen ins Reich des abstrakt-monströsen? Und wenn dann wieder etwas Schreckliches bekannt wird: Schuldzuweisungen, wie in diesem Fall Richtung Pädagogik, in anderen Fällen Richtung Religion und Politik?
Wieso eines?
Das scheint ein Netzwerk (gewesen) zu sein, daß auch heute noch zumindest in Teilen aktiv ist.
Es passierte immer, passiert immer noch und wird weiter passieren. Die Menschen bleiben die gleichen und werden die gleichen Mechanismen zu ihrem Schutz einsetzen. Das Gespräch ist sachlich, kann aber nicht den Schock über das Verhalten des Umfeldes der Betroffenen mildern. M. E. gilt dieses aber grundsätzlich, wenn es um sex. Kindesmissbrauch geht.
Wie bereit ist das Umfeld, Aufmerksamkeit und Hilfe zu gewähren, die die Betroffenen nicht noch tiefer schädigt?
Erwachsene, die wider besseres Wissen schweigen sind Mittäter.
Auffallend finde ich, dass die Odenwaldschule eine absolute Männerdomäne gewesen zu sein scheint? Das lässt vermuten, dass sie auch keine Ausnahmeschule gewesen sein wird. Was geschieht im Vorfeld, um diese Verbrechen zu verhindern?
Das Buch wird dazu beitragen, dass sich niemand mehr so leicht hinter seinem angeblichen Nichtwissen verstecken kann.
@ whale
"Es passiert, weil es diese Neigungen gibt"
Das ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere ist, wie Sie selbst beschreiben, die Gesellschaft, die sich in Schuldzuweisungen ohne weitere Konsequenzen ergibt. Diese Konsequenzen gehen um den Faktor 1000 über die Verbrechensverfolgung hinaus. Eine wirkliche Lösung wird es auch niemals durch Umstrukturierungen des "Außen" geben, wie z.B. kollektive Lebensformen etc.
Eine wirkliche Lösung geht nur durch eine völlige Neu-Ausrichtung der Prioritäten auf gesamtgesellschaftlicher Basis - weg vom mentalen Wissen, und hin zu einer von klein auf angeleiteten emotionalen Innenschau.
Hierzu wären nötig:
1.) drei mal so viele Erzieher und Lehrer
2.) Erziehung findet in der Schule statt, zu Hause klappt es ja nicht
3.) Hauptschwerpunkt in Schulen ist die Erkundung und Befreiung der eigenen Psyche
4.) alle Erzieher und Lehrer durchlaufen parallel zum Studium eine Therapie-Ausbildung mit Eigentherapie
5.) der Bezug von Kindergeld wird vom Besuch einer Elternschule abhängig gemacht.
Ich werde jetzt nicht in eine Diskussion über Finanzierbarkeit gehen. Man muss Prioritäten setzen, sonst passiert nichts. Die oben genannten Punkte wären in meinen Augen die einzige Lösung für alle Probleme.
"2.) Erziehung findet in der Schule statt, zu Hause klappt es ja nicht"
Ihnen ist aber bewusst, dass es im Artikel um eine Schule (!) geht, in der das alles passierte?!
Also klappts ja offensichtlich da auch nicht unbedingt, zumindest in diesem Fall!
Mal davon abgesehen, dass Erziehung Elternrecht ist, welches grundgesetzlich geschützt ist. Schule soll lehren, den Kindern Wissen vermitteln, nicht erziehen. Das darf auch Wissen darüber sein, wie man sich wehren kann, wie man sich verhalten kann, wenn man in komische Situationen kommt etc., aber erziehen ist Elternsache!
Und nein, ein Pflichtbesuch einer 'Elternschule' halte ich für fragwürdig bis inakzeptabel, wer sich Hilfe holen möchte, sollte Angebote bekommen. Möglicherweise auch jenseits von Jugendamt und Schule, aber einen 'Elternführerschein', mit Pflicht wozu auch immer? Nein, danke! Wollen Sie ernsthaft jemandem verbieten, Kinder zu bekommen? Dann haben wir ganz fix Zustände, wie vor rund 70 Jahren, da durften sich nämlich auch nicht alle Menschen sich fortpflanzen. Das ist also pure Naziideologie. Wollen Sie das ernsthaft?!
Mehr Lehrer sind vielleicht nicht ganz verkehrt, aber eben, weil sie sowieso fehlen (bspw. sehr massiv in Berlin), nicht wegen potentieller Missbrauchsbrauchsproblematik.
Ansonsten sollten Lehrer lehren, nicht therapieren o.,ä.!
*kopfschüttelnd*
cassi
"Erwachsene, die wider besseres Wissen schweigen sind Mittäter."
Und Erwachsene, die reden, bekommen Ärger und werden persönlich diskreditiert und mundtotgemacht - vom Chef, von den Kollegen, vom Netzwerk eben. Das ist das Fiese an institutionellem Missbrauch.
Auch das ist Korruption. Die Korruption gemäß der guten Gesinnung. Nach außen vorgetragen, fällt sie beim ehrlichen geneigten Publikum auf Anerkennung und wenn nicht oder die Neigung später entfällt, motiviert der vermeintliche Vorteil oder der drohende Nachteil zum Schweigen. Das ist in der katholischen Kirche und ihrer pädagogischen Einrichtungen nicht anders.
So eine Biographie hätte ich mal gerne über den Bischof von Dublin oder andere Mehrfachtäter. Dass die abgeschlossene Studien hatten, macht keinen Unterschied..
Politik und Pädagogik
Die desaströse Allianz im Falle Becker ist das Extrem einer unguten Situation in Deutschland. Der Einfluss der Politik auf das Bildungssystem - in Deutschland befördert durch den Föderalismus - bekommt letzterem wesentlich schlechter als ersterer. Je nach ideologischer Ausrichtung schneidern sich die jeweiligen Landesregierungen, vor allem nach Neuwahlen, Bildungspläne und Bildungsziele zurecht. Mit entsprechenden Personal-Maßnahmen werden die dafür wichtigen Posten durch Gefolgsleute, welche der jeweiligen pädagogischen Vorstellung entsprechen, besetzt. Ganz gut fügt es sich dann, wenn man noch "Bildungs-Experten" (s. von Hentig, Becker...) findet, welche den Kurs wissenschaftlich bzw. öffentlichkeitswirksam unterstützen. Ein gutes Beispiel für das Gesagte ist die Einführung der Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg. Auf der Strecke bleiben dabei für Bildung und Erziehung unabdingbaren Faktoren wie Kontinuität, Zeit, Augenmaß, Geduld oder Gelassenheit. Leidtragende sind Schülerinnen, Schüler, Eltern und Lehrerinnen und Lehrer. In der Konsequenz gehören Bildung und Erziehung - auch aus anderen Gründen - in die Hand des Bundes.
Moin Moin,
wenn so eine Karriere möglich ist spricht dies auch gegen die Profession. In anderen Wissenschaften fällt mangelndes Wissen auf.
CU
Durch den richtigen Glaube, Gesinnung und die passende Ideologie kann man es zur richtigen Zeit am richtigen Ort in Deutschland sehr weit bringen. Dafür gibt es leider etliche Beispiele . Schauen Sie nur mal in einigen Parteien die Qualifikationen und Berufskarrieren (außerhalb der Partei) an.