Man kann sie an den Umschlägen erkennen. Menschen, die sperrige grüne oder braune Papierhüllen herumtragen, sind höchstwahrscheinlich Patienten. Und sie sind ein denkbar altertümlicher Daten-Träger: Im Zeitalter von Gigabit-Datenleitungen und Massenspeichern in der Datenwolke müssen Kranke ihre Röntgenaufnahmen oder Kernspintomografien noch immer selbst von einem Arzt zum anderen tragen!
Dieser archaische Datentransfer ist langsam und störanfällig. Wie nützlich wäre da ein elektronisches Archiv mit allen Befunden, die jemals angefallen sind und auf das alle Beteiligten Zugriff hätten. Keine unnötigen Doppeluntersuchungen mehr, kein Risiko, weil ein Arzt nicht überblickt, welche Medikamente ein anderer verschrieben hat. Vorbei wäre auch die Geheimniskrämerei von Medizinern, die Krankenakten bis heute oft nur ungern herausrücken. So eine offene elektronische Patientenakte würde die vollständige – und aus vielen Gründen notwendige – Transparenz medizinischer Daten herstellen. Wo bleibt sie nur?
Schon im Jahr 2003 hatte das Bundesgesundheitsministerium einen Vorstoß in Richtung Digitalisierung von Krankendaten gewagt. Bereits 2006 sollte es so weit sein. Doch diskutiert wurden vor allem die Risiken, die Chancen gerieten aus dem Blickfeld. Ein ergebnisloses Jahrzehnt später erhöht die Politik den Druck. Mit dem E-Health-Gesetz steht nun ein Zeitplan für die Einführung der elektronischen Patientenakte fest: 2018 sollen Patienten in Deutschland Zugriff auf ihre Daten erhalten, hoffentlich. Es ist ein Schritt in die richtige Richtung – aber wie sich noch zeigen wird, doch nicht genug.
In anderen Ländern ist das digitale Utopia längst Wirklichkeit. Zum Beispiel in Schweden, hier fließen seit acht Jahren alle medizinischen Daten in digitale Krankenakten, sogenannte Journale. Alte Befunde wurden sogar nachträglich digitalisiert. Jetzt kann ein Kardiologe in Umeå ein EKG von einem Urlauber aus Stockholm mit Herzinfarkt abrufen. "Für den Arzt ist das fantastisch", sagt der deutsch-schwedische Kardiologe Jörg Carlsson. Für den Patienten ebenfalls. Er muss dem Datenzugriff jeweils zustimmen, aber der ist meist ganz in seinem Sinne. Im Notfall kann jede Information – etwa über Allergien – überlebenswichtig sein. Jeder Vorbefund kann entscheidende Hinweise für eine effektivere Behandlung geben. Und der Informationsfluss ist nicht nur einseitig. Seit dem vergangenen Jahr dürfen die Schweden sogar eigene Kommentare in ihren Journalen hinterlassen.
In den USA, dem zweiten wichtigen Beispielland, war es eine Non-Profit-Organisation, die den Datentransfer vorantrieb: 2012 startete OpenNotes. An drei renommierten Medizinzentren öffneten 100 Hausärzte ihren 22.000 Patienten die elektronischen Aktenschränke – zunächst für eine Testphase. Einige Ärzte befürchteten, dass ihre Klienten durch die ungefilterten Befunde verängstigt und verwirrt würden. Aber nichts dergleichen geschah. Aus dem Test wurde Alltag. Heute haben sechs Millionen Menschen per OpenNotes Zugriff auf ihre medizinischen Unterlagen.
Weil aber Heimlichtuerei unter Ärzten Tradition hat, bedeutet die transparente Akte für Mediziner eine erhebliche Umstellung. Schon die antiken hippokratischen Schriften empfahlen, "die meisten Dinge vor dem Kranken zu verbergen ... und ihm nichts anzudeuten von dem, was kommen wird oder ihn bedroht". Die Patientenakte war die papiergewordene Manifestation dieses Denkens. Für den Arzt waren seine Aufzeichnungen Gedächtnisstütze, Beweismittel und Instrument zur Kommunikation mit Kollegen. Darin verbarg er eine ungeschönte Beschreibung des Patienten samt Mutmaßungen über dessen Lebensweise ("raucht noch immer"). Nach Gutdünken offenbarte der Arzt seinem Patienten aus diesem Dossier nur das, was erträglich und nützlich erschien.
"Gebt dem Patienten seine medizinische Akte!", forderten dann vor vierzig Jahren zwei Yale-Mediziner. Vor einigen Jahren holte Barack Obama zum großen Befreiungsschlag aus: Heute können unter dem Label Blue Button in den USA mehr als einhundert Millionen Patienten ihre medizinischen Unterlagen jederzeit über das Netz herunterladen.
Kommentare
"Patientenakten waren lange Zeit ein Herrschaftsinstrument der Ärzte".
Wie das?! Haben sie die Befürchtung, dass ihr Arzt da heimlich etwas reinschreibt was nicht stimmt?! Bitte lassen Sie mich an ihrer Berschwörungstheorie teilhaben!
Ich selbst habe ein Vetrauensverhältnis zu meinem Arzt. Ich hatte noch keine Grund in meine Akte zu sehen, warum sollte ich? Da wird auch nichts anderes drinne stehen, was wir besprechen.
Na ja.
Per Rechnung bekam ich den Hinweis, dass meine Zunge amputiert wurde.
Bei einer Rechnung stand eine Diagnose darüber so daß ich die Rechnung unter Hinweis auf die Fehldiagnose nicht bezahlte.
Ich könnte ihnen noch viele Beispiele über Fehlbehandlungeen auf Grund von Fehldiagnosen im Familienkreis mitteilen.
Controlleo, ergo sum.
Ich kontrolliere, also bin ich.
Kontrollwahn ist eine Seite, totale Überwachung eine andere. Es ist nicht unbedingt super, wenn meine Gesundheitsdaten im Netz verteilt werden. Es mag als sicher gelten, bis sich entsprechende Gruppen Zugriff verschaffen.
Es muss nur die rechte Gruppe an die Macht kommen. Solange man nichts zu verbergen hat....
so abwegig sind ja die Hacks auch (!!) auf Gesundheitsdaten absolut nicht:
http://www.spiegel.de/sport/…
http://www.zdnet.de/88273227…
http://www.itbusiness.ch/new…
http://www.handelsblatt.com/…
Was passiert, wenn Patienten den so genannten "geheimen Schlüssel" verlieren oder vergessen?
Sind die gespeicherten Daten dann verloren? In Deutschland ist dies bei der elektronischen Gesundheitskarte(in der aktuellen Version) nicht so. Es kann ein neuer Schlüssel vergeben werden, mit dem wieder auf die Daten zugegriffen werden kann.
Und genau an der Stelle befindet sich ein Schwachpunkt, wer diese neuen Schlüssel vergeben kann, hat es relativ leicht, sich Zugang zu verschaffen.
In Notfällen wäre der Schlüssel ja auch nicht vorhanden. Sollten also z.b. die Notaufnahmen einen "Zentralschlüssel" erhalten stünde ein gewaltiges Einfallstor offen.
Auch einen permanenten Schlüssel sehe ich kritisch, es hat ja seinen Grund das TANs nur einmal verwendet werden. Wenn der Arzt nun aber für jeden Eintrag erstmal einen neuen Schlüssel erfragen muss wäre das sicher auch nicht so praktikabel.
Eine entsprechende Datenbank wäre jedenfalls für einige Gruppen sehr interessant. Dementsprechend viel Aufwand dürfte betrieben werden, um an den Inhalt zu gelangen.
Früher oder später gelangen solche Daten auf den "Schwarzmarkt" und sind dann vllt irgendwann sogar öffentlich einsehbar. Eine Seite um die Krankheiten des Nachbarn oder Arbeitskollegen herauszufinden wäre sicher nicht ganz uninteressant.
"Wie nützlich wäre da ein elektronisches Archiv mit allen Befunden, die jemals angefallen sind und auf das alle Beteiligten Zugriff hätten."
Genau das werden jetzt auch jede Menge Leute denken, die meine Patientenakten nichts angeht. Und sie werden meine Daten bekommen, früher oder später. Und sie werden damit Profile von mir erstellen und sie werden Geld damit verdienen und sie werden darüber entscheiden, welchen Job ich bekomme und welchen nicht. Und welche Versicherung mich als Kunden haben will. Ich sehe die elektronischen Datenverarbeitungssysteme weitaus weniger euphorisch als der Autor, weil ich denen, die sie erschaffen nicht ein Stück vertrauen entgegenbringen kann. Und die Zeit wird mir Recht geben.