Am Anfang waren es noch Ausnahmen. Doch dann, sagt Edwin Ackermann, seien sie immer mehr geworden: Kinder, die auf den Möbeln in seinem Behandlungszimmer herumpoltern. Die mit ihren Milchbrötchen sein Wartezimmer vollkrümeln. Als er vor 30 Jahren seine Kinderarztpraxis am Niederrhein eröffnete, habe es das auch schon gegeben – alle paar Wochen mal. Heute benehme sich mehrmals täglich ein Patient daneben. "Und die Eltern stehen oft hilflos daneben und wissen nicht, was sie tun sollen."
Das ärgert Edwin Ackermann: Eltern, die ihre Kinder nicht ordentlich erziehen. Weil sie dächten, dass das Leben später noch hart genug werde. Weil sie sich nicht durchsetzen könnten. Weil sie zu bequem seien oder einfach zu ausgepowert. Heraus kommen dann: ein Sechsjähriger, der seine Schuhe nicht ausziehen will, schreit und schlägt und nach der Mutter tritt, die ihn unbeirrt weiter zu trösten versucht. Kinder, die unablässig dazwischenquatschen, und Eltern, die sich bereitwillig unterbrechen lassen. Ackermann meint: "In vielen Familien bestimmen die Kinder die Spielregeln."
Haben die Eltern verlernt, wie man Grenzen setzt? Wollen sie es nicht mehr tun? Haben wir ein Erziehungsproblem?
Anruf bei Elms Frank, Sozialpädagoge und Familientherapeut und seit zehn Jahren bei der Immanuel-Beratungsstelle in Berlin-Pankow. Zu ihm kommen Eltern, weil es zu Hause ständig Streit gibt, die Kinder verhaltensauffällig werden oder ihre Beziehung den Bach runtergeht. Elms Frank hat nicht viel Zeit, in dieser Woche gab es besonders viele Neuanmeldungen. "Es gibt eine große Unsicherheit, was man Kindern auch mal zumuten kann." Manche Eltern sprächen sehr umständlich mit ihren Kindern, uneindeutig. "Ich empfehle dann: Sagen Sie Ihren Kindern kurz und klar, was Sie von ihnen verlangen. Wenn Kinder eine sichere Beziehung zu ihren Eltern haben, dann halten die das auch gut aus."
Elms Frank fällt auf, dass viele Eltern ihre Kinder nicht altersgerecht in Haushaltsaufgaben einbeziehen. "Sie wundern sich, dass die Kinder so eine Anspruchshaltung entwickeln, dabei nehmen sie ihnen alles ab. Vom Tischdecken bis zu negativen Gefühlen: Wut, Ärger, Traurigkeit. Dabei wäre Einfühlung und Verständnis besser, als sofort eine Lösung zu präsentieren. Schließlich gibt es immer einen Grund für solche Gefühle." Frank sagt auch, dass hinter alldem ja meist ein guter Wille stehe. "Viele Eltern haben enorm hohe Ansprüche an sich selbst. Sie wollen alles perfekt machen und setzen sich dabei unter Druck. Und wissen oft nicht, wie eine gute Reaktion aussähe."
Dabei gab es noch nie so viel Erziehungswissen wie heute. Experten informieren uns über den Schlafrhythmus von Säuglingen, in Internetforen kann man nachlesen, wie andere mit der Trotzphase umgehen, und für jedes Elterntemperament findet sich ein passender Erziehungsratgeber, der Orientierung in Aussicht stellt. Die Theorie ist also vorhanden. Aber es ist ja immer so eine Sache mit dem Expertenwissen: Je länger man sich damit befasst, desto mehr kann man durcheinanderkommen.
So können sich insbesondere ambitionierte Mütter ganz kleiner Kinder entschließen, "Attachment Parenting" zu praktizieren (zu Deutsch: bindungsorientierte Elternschaft). Dabei geht es darum, die Signale des Kindes aufmerksam zu lesen und seine Bedürfnisse genau zu erfüllen: viel tragen, gemeinsam schlafen, lange stillen. Die Methode verlangt also eine hohe emotionale Investition am Anfang, verspricht dafür aber später kooperationswillige Kinder. Eltern, die auch die eigenen Bedürfnisse im Blick haben, können sich Rat holen bei Annette Kast-Zahn, die zum Beispiel in Jedes Kind kann schlafen lernen einen Fahrplan aufstellt, wie man Babys die umständlichen Einschlafrituale abgewöhnt, damit sie bald allein im eigenen Zimmer nächtigen können.
Wird das Kind größer, muss man wieder entscheiden: Da gibt es den demokratisch-partnerschaftlichen Ansatz des dänischen Familientherapeuten Jesper Juul. In seinen Büchern spielen Grenzen eine große Rolle; allerdings dahingehend, dass man sie nicht verletzten dürfe, weder die eigenen noch die des Kindes. Juul sagt, Eltern müssten ihren Kindern mit Respekt begegnen. Damit bringt er den schwedischen Psychiater David Eberhard auf die Palme, der den Respekt vielmehr von den Kindern einfordert. Einer verweichlichten und ängstlichen Elterngeneration empfiehlt Eberhard in Kinder an der Macht, sich am Riemen zu reißen und ihre Kinder wieder "mit mehr oder weniger fester Hand auf den richtigen Weg zu bringen".
Einig sind sich alle Autoren nur in einem Punkt: Der gesellschaftliche Konsens darüber, wie man Kinder erzieht, ist verloren gegangen.
Schuld, so der Lehrer Axel Becker in Die Toleranzfalle, sind die 68er, deren "naive Mentalität" letztlich zu vollständiger sozialer Verwahrlosung geführt habe. Auch für Eberhard ist eine liberale Erziehung, wie sie Jesper Juul vertritt, schlicht ein Mangel an Erziehung, der unserer Gesellschaft den größten Schaden zuzufügen imstande ist. Deshalb wütet Eberhard so gegen infantilisierte Turnschuh-Eltern, die unbedingt cool sein wollen und sich aus lauter Panik, so zu klingen wie ihre eigenen Eltern, lieber auf der Nase herumtanzen lassen.
Kommentare
"Wird das Kind größer, muss man wieder entscheiden: Da gibt es den demokratisch-partnerschaftlichen Ansatz des dänischen Familientherapeuten Jesper Juul."
Jesper Juul wird meines Erachtens oft missverstanden. Es ist auch nicht ganz leicht, seinen Ansatz zu verstehen.
Jesper Juul vertritt eben *keinen* demokratischen Ansatz. Jesper Juul regt die Eltern an, gemäß eigenen Wertvorstellungen und Grenzen zu führen. Der Erwachsene hat die Verantwortung und Führungsrolle bei allen Dingen, für die das Kind noch keine Verantwortung übernehmen kann.
Dies jedoch ohne das Kind in seiner Würde und Integrität zu verletzen. Das Kind ist dann grundsätzlich Kooperationsbereit, wenn die Eltern die Führung übernehmen.
Man darf und soll Nein sagen, wenn man Nein meint. Das aber ohne Manipulation - ohne Vorwürfe - ohne Schuldzuweisungen. Eigentlich so, wie man auch unter befreundeten Erwachsenen reden sollte - nur noch direkter und klarer.
"Ich will nicht dass Du auf die Möbel kletterst."
"Hör mal - kletter' hier nicht auf die Möbel"
Das wirkt, wenn man es wirklich meint und das Kind nicht durch ständige Verletzung seiner Autonomie und Integrität in eine generelle Trotzhaltung getrieben hat und die Beziehung intakt ist. So ist jedenfalls meine Erfahrung.
Das setzt voraus dass man seine Werte und Grenzen sehr gut kennt. Das ist die eigentliche Herausforderung. Zusagen was man meint und zu meinen was man sagt.
Danke für Ihren kompetent wirkenden Kommentar!
Im Artikel hatte ich mich kurz gewundert, weil ich den Rat von Herrn juul bis dato oft schätzte aber eben kein Fan von Zuviel Demokratie mit zweijährigen bin!
So wie Sie es beschreiben, finde ich es aber wieder gut;-)
Danke!!!
"Die neuen Eltern machen ihre Sache im Grunde ziemlich gut."
Erlebe ich tagtäglich leider ganz anders. Vielen scheint der Wille des Grenzen setzens noch vorhanden, bei der Durchsetzung gegenüber dem Kind mangelt es jedoch nur allzu häufig. Da steigt das Kind eben nicht vom Mobiliar. In dem Alter ist das sicher von den Eltern noch durch herunternehmen lösbar. Sind sie groß braucht man sich nicht zu wundern, wenn scharenweise junge Leute keinen Respekt mehr vor der Staatsgewalt haben. Gesellschaftlich wächst das Problem, der Zusammenhang ist offensichtlich. Ich sehe die Schuld auch bei den 68ern
Entfernt. Bitte verzichten Sie auf Pauschalisierungen. Wir wünschen uns eine differenzierte Diskussion von Argumenten. Danke, die Redaktion/idg
Ich habe drei Jungs (12,11,10) und kann manchmal nur staunen, wie Eltern sich auf der Nase herumtanzen lassen. Mein Eindruck ist, dass viele schlichtweg nicht den Mumm haben, sich dem Nachwuchs gegenüber unbeliebt zu machen und viel androhen, aber die Kinder niemals Konsequenzen spüren lassen. Mir wäre diese ganze Abwägerei "was will das Kind? Was will ich eigentlich ?" viel zu umständlich. Als die Kinder noch kleiner waren, waren wir schon recht autoritär: auf den Möbeln wird nicht herumgeklettert, wer das nicht einsieht, geht mal für ein paar Minuten in sein Zimmer. Basta. Mittlerweile versuchen wir, den Kindern zu erklären, dass das Zusammenleben eben davon geprägt wird, dass es gewisse Grundregeln gibt, die für alle gelten, und zwar auch für uns Eltern. Trotzdem nehmen wir uns das Recht, Verbote auszusprechen und diese nicht immer umfassend zu erläutern. Duckmäuser sind unsere Jungs aber bestimmt nicht, sie dürfen uns auch kritisieren und wenn ich z. B. mal die Nerven verloren habe und wild herumgebrüllt habe (kommt leider auch vor), dann entschuldige ich mich natürlich auch. Wir Eltern sollten weniger auf Experten hören und mehr auf's Bauchgefühl achten!
"Ich habe drei Jungs (12,11,10)"
Wow - Glückwunsch. ;)
Bei Ihnen ist die Situation aber auch noch mal etwas spezieller, durch den sehr kurzen Altersunterschied Ihrer Jungs. Denke schon, hier muss man ganz klare Regeln haben und Grenzen setzen - sonst gehst unter.
In „Erziehen“ steckt das Wort „ziehen“, und das ist Gewaltanwendung.
Das Ziel einer solchen „Erziehung“ ist ein angepasstes Kind, dass die Erwachsenen nicht stört. Denn wenn man angepasst ist und nicht stört, kommt man weit im Leben, glauben viele Erwachsene (oft trotz anderer Lebenserfahrung). Eine solche "Erziehung" ist Dressur. Der junge Mensch lernt, dass wer die Macht hat, recht hat.
Wenn ein Kind oder Jugendlicher lernen soll, Grenzen zu beachten, dann geht das nur mit Liebe. Sie beinhaltet Augenhöhe, Empathie, Vertrauen und Verzeihen. Eltern und Lehrer, die so mit ihren Kindern sind, brauchen sich um Grenzen setzen keine Sorgen zu machen. Sie folgen ihnen … aus Liebe. Das ist meine Erfahrung als Vater von 4 Kindern und seit einigen Jahren als Lehrer.
Was in der „Erziehung“ eigentlich wichtig ist, wird hier an einem Schulbeispiel erklärt.
http://www.kamus-quantum....
Ist das Aufziehen von Pflanzen für Sie eigentlich auch Gewalt?