Was ist bloß los mit der SPD? Seit Jahren klingt diese Frage nach Depression und Niedergang. Eigentlich war die SPD schon nicht mehr zu retten. Das galt, bis Martin Schulz erklärte: "Ich will Kanzler der Bundesrepublik Deutschland werden", und keiner lachte.
Seit je ist die SPD die Manisch-Depressive unter den deutschen Parteien. Wie keine andere lässt sie sich vom Scheitern, auch vom Scheitern an den eigenen Ansprüchen, nach unten ziehen. Aber ebenso schafft sie es, sich mit Euphorie aufzuladen und ihre kommenden Siege zu feiern. So wie in diesen Tagen. Die Partei steht kopf, und Tausende wollen Genosse werden. Die SPD erlebt einen spektakulären Neustart.
Das ist nicht nur erfreulich für die Sozialdemokratie, sondern für die deutsche Politik insgesamt. Die schien eben noch wie hypnotisiert vom Auftrieb der Rechtspopulisten. Seit wieder mit der SPD zu rechnen ist, lässt die Fixierung deutlich nach. Plötzlich ist die Auseinandersetzung zwischen den Volksparteien, die klassische Polarisierung innerhalb des Systems, wieder interessant.
Dabei sagt Schulz noch nichts Neues, er sagt es nur so, dass es neu klingt, selbstbewusst, kämpferisch, geradeheraus. Allein dass es sich wieder lohnen könnte zu kämpfen, wirkt auf die SPD, die so gerne kämpft und in jüngerer Zeit so wenig Gelegenheit dazu hatte, befreiend.
Derzeit ist die SPD eine Art emotionales Perpetuum mobile. Die Begeisterung steckt an, sie steigert die Umfragewerte, und die Umfragewerte steigern die Begeisterung. Noch ist das alles eher Psychologie als Politik. Aber Stimmungen, das haben die vergangenen Jahre gezeigt, sind auch Fakten. Der Hype könnte tragen. Wofür es bis vor Kurzem keine Anhaltspunkte gab, ist nun in den Bereich des Möglichen gerückt: Die SPD ist wieder im Spiel. Merkel wirkt nicht mehr unbesiegbar.
Erstaunlicher noch als der Stimmungswandel bei den Sozialdemokraten ist der Stimmungswandel darüber hinaus. Die Genossen sind im Schulz-Fieber, die Republik fiebert mit. Dass eine Partei wie die SPD sich mit all ihren autosuggestiven Energien aus dem Schlamassel ziehen will, ist klar. Dass die Öffentlichkeit ihr darin folgt, nicht unbedingt. Schulz hat bislang keine großartigen politischen Aussagen gemacht, er bewegt sich im Bereich des sozialdemokratisch Gewohnten. Wenn er dennoch die Republik elektrisiert, liegt es an einem Angebot, das grundlegender ist als jedes konkrete Wahlversprechen.
Das Angebot ist die SPD selbst – nicht in dem niedergeschlagenen Zustand, in dem wir sie kennen, sondern als ernst zu nehmende Bewerberin auf der politischen Bühne. Das Phänomen Schulz signalisiert, es könnte demnächst wieder zwei annähernd gleich starke Volksparteien geben, die um die politische Führung konkurrieren. Die Wiederbelebung der SPD ginge dann einher mit der Wiederbelebung der deutschen Parteienlandschaft. Darauf haben viele gewartet. Darin liegt das eigentliche Geheimnis des Hypes, den Schulz ausgelöst hat.
In der Bereitschaft, sich von den neuen Perspektiven der SPD fesseln zu lassen, zeigt sich zugleich, wie viel Frustration im politischen Normalvollzug der vergangenen Jahre aufgestaut wurde. In Zeiten von Transparenz und Teilhabe hat es die repräsentative Demokratie ohnehin nicht leicht, sich als zeitgemäße Form zu präsentieren, in der die öffentlichen Dinge verhandelt und entschieden werden. Wenn dann auch noch die Wahlen etwas Scheinhaftes bekommen, weil entweder klar ist, wer gewinnt, oder weil sich die politische Richtung nicht ändert, egal wer gewinnt, gerät die Demokratie schleichend in Verruf.
Acht der vergangenen zwölf Jahre haben die beiden Volksparteien in einer großen Koalition regiert. Aber auch wenn sie nicht zusammen regierten, herrschte immer mehr Gemeinsamkeit und immer weniger Wechsel. Gerhard Schröder beschloss Sozialreformen wie aus dem schwarzen Lehrbuch, Angela Merkel setzte einen Atomausstieg durch, wie ihn sich Rot und Grün nicht erträumt hätten. Und immer häufiger wurden die wichtigen Fragen der deutschen Politik – Kriegsbeteiligungen, Konjunkturprogramme, Schuldenbremse oder Euro-Rettung – im Einvernehmen aller staatstragenden Kräfte beantwortet.
Das spricht nicht gegen die Vernunft der Entscheidungen – aber eben auch nicht für den politischen Wettbewerb. Wenn alle irgendwie mitregieren und Opposition nicht mehr stattfindet, ist der Parlamentarismus irgendwann am Ende. In der Schulz-Euphorie steckt nicht nur spontaner Genossenstolz, sondern auch die Erwartung, das lasse sich ändern.
Wenn Schulz die SPD wieder zur politischen Alternative machen kann, bedeutet das zugleich einen Schlag gegen den Rechtspopulismus. Die Verächter des "Systems" konnten sich in den zurückliegenden Jahren auch deshalb als "Alternative für Deutschland" gerieren, weil die etablierten Parteien immer weniger in der Lage waren, Alternativen anzubieten. Schulz schwächt die AfD weniger mit seinen harschen Attacken als mit der Aussicht, die SPD wieder wettbewerbsfähig zu machen. Ein demokratisches System, in dem die Volksparteien miteinander kämpfen, lässt sich weniger leicht als Machtkartell denunzieren. Allein die Emotionen, die diese Perspektive entfacht, mindern die Resonanz des rechtspopulistischen Spektakels.
Seit Schulz wirkt die SPD wie verwandelt. Einer allein kann das nicht schaffen. Der künftige Vorsitzende profitiert davon, dass seine Partei seit Jahren dramatisch unterbewertet ist. Gemessen an ihrer tragenden Rolle in der ersten großen Koalition, wirkten schon die 23 Prozent, die Steinmeier als Spitzenkandidat 2009 für die SPD einfuhr, wie eine krasse Missachtung durch die Wähler. Vier Jahre später, 2013, konnte die SPD gegen eine desaströse Regierungskoalition gerade einmal zwei Prozent Zugewinn feiern. Danach ging der Trend weiter nach unten.
Kommentare
Welche Regierungserfahrung hat Herr Schulz eigentlich? Bürgermeister von einer 30 000 Seelen-Gemeide ist wohl etwas wenig in diesen turbulenten Zeiten.
Aber im Versprechen von allem Möglichen ist er bereits unschlagbar.
"Welche Regierungserfahrung hat Herr Schulz eigentlich? Bürgermeister von einer 30 000 Seelen-Gemeide ist wohl etwas wenig in diesen turbulenten Zeiten."
Ich würde sagen, Schulz kann auf weit, weit mehr politischer Erfahrung zurückblicken als Angela Merkel zu Beginn ihrer ersten Kanzlerkandidatur...
http://www.tagesspiegel.de/p…
Und er war nicht gerade eine Bombe als solcher.
Nach dem ganzen künsrtlichen Hype macht sich bei mir schon Überdruß breit. Das liegt vermutlich an den typischen Wahversprechen. Irgendwie traue ich Herrn Schulz nicht zu, wirklich etwas zu verändern zum Wohle der unteren Einkommensschichten. Dafür stand die SPD ja mal....
Sicher glaubt kaum einer, dass der Zuspruch wirklich anhält.
Die große Neverosität und die noch unsinnigeren Sprüche der Rechten zu lesen macht allerdings großes Vergnügen.
Ich traue Merkel, Schulz sogar Lindner Bundeskanzler zu.
"Überdruß" nach so kurzer Zeit. Schade, wirklich sehr schade.
Frau Merkel hatte Regierungserfahrung als Ministerin im Bundeskabinett und Regierungserfahrung ist etwas anders als politische Erfahrung. Sich politisch zu verhalten ist etwas anderes als zu regieren, wie man z.B. an einem gewissen Herr Trump gut erkennen kann.
Martin Schulz hat noch gar nichts versprochen, allenfalls vage Andeutungen gemacht. Die SPD wird´s schon richten, mit wichtigen Vorschlägen wie die Arbeitsagenturen umzubenennen.
Alter Wein in neuen Schläuchen - oder neuer Wein in alten Schläuchen? Jedenfalls mit dem "alten Personal"!
Eigentlich ist das eine entblößende Frage. Nicht nur, weil auch Merkel keine Erfahrung hatte, sondern weil jeder, der ein neues Amt übernimmt keinen Wechsel, sondern einen weiteren wichtigen Erfahrungsschritt machen muss! Was denn sonst?
Das ist natürlich nicht mit Trump vergleichbar, dem Tausendsassa!
Und sonst gilt, wer nichts verspricht, braucht auch nichts zu halten. Auch dafür ist die hoffentlich scheidende Kanzlerin nicht unbedingt mustergültig. Einfach nur nachzuplappern, ohne eigenen Elan, ist in einem Amt mit Richtlinienkompetenz eher keine beeindruckende Referenz!
Schulz verspricht in seiner Haltung Offenheit und Gesprächsbereitschaft und ein selbstverständlich sozialdemokratisches Programmgebot der sozialen Gerechtigkeit, für die er sich einsetzen will. Entsprechend seiner Lebens- u. Politikerfahrung wird er sich bewußt sein, dass er nicht allein entscheiden u. regieren kann, und wünscht sich "wir gemeinsam". Das Godesbergerprogramm der SPD kann sich noch immer zeigen.
Wir haben alles Recht, alle KandidatenInnen fair u. kritisch zu beachten, um uns in der Lage zu sehen, mitzugehen oder auch nicht.
Schulz' persönliches Kapital ist, dass er sich als Mensch aus Fleisch u. Blut vorstellt. Er nennt Begriffe, die Frau Merkel nicht in ihrem Sprachkästchen hat: Wir, gemeinsam, sozial, gerecht. Populismus, dann im positiven Sinn. Warum nicht? Was wäre das Gegenteil?
Vielleicht ist das gerade das Gute an Schulz, er wirkt unverbraucht.
Und ach, sehen wir uns weiter um, bei den Kameraden von der AfD haben die meisten nicht mal Politikerfahrung, geschweige denn Erfahrungen mit der modernen Gesellschaft und Demokratie.
Ja, "unverbraucht"! Aber er ist der Einzige innerhalb der SPD, der "unverbraucht wirkt ...
Überdruß?
Dann klicken sie doch einfach weiter.
Als ich würde das EU-Parlament durchaus zählen.
Er war nicht Bürgermeister wie Sie es verstehen. Er war Bürgermeister nach altem Recht, also Ratsvorsitzender und sonst nichts.Er hatte keine Verantwortung für die Stadt, denn die hatte allein der vom Rat gewählte Stadtdirektor. Er war allerdings verantwortlich für Freibier für alle!
" Er war allerdings verantwortlich für Freibier für alle!"
- Immerhin ;)
Schulz ist nicht der Macher sondern nur der Verkäufer und den Rest sollen die Kollegen machen und das wird wie immer schief gehen.
Zitat Artikel:
Erstaunlicher noch als der Stimmungswandel bei den Sozialdemokraten ist der Stimmungswandel darüber hinaus. Die Genossen sind im Schulz-Fieber, die Republik fiebert mit. Zitat Ende.
Bei jeder Wahl wurde beklagt, dass immer mehr Bürger zu Nichtwählern werden. Da tritt jetzt einer auf, der die Menschen begeistern kann, dies wird auch Nichtwähler begeistern, zumindest aufmerksam machen.
Es wird im vorgeworfen, dass er Versprechungen macht, nun viel hat er noch nicht versprochen, doch er liefert zu den aufgeworfenen Probleme auch Vorschläge.
Zitat SZ Online: "Schulz entwickelt die SPD weiter."
Nur eines kann man der SPD im Allgemeinen und Schulz im Besonderen nun nicht mehr vorwerfen: dass sie wolkig blieben, dass sie die Konkretisierung ihrer Forderung scheuten. Der konstruktive Streit darum, wie man Menschen in Not hilft, kann beginnen. Dazu ist ein Wahlkampf übrigens da - und die SPD hat nun Material dafür geliefert. Zitat Ende.
Wir haben wieder einen konstruktiven Streit. Super! Das ist Demokratie, im Gegensatz zu , "sie kennen mich doch".
Da wird im, MS auch noch vorgeworfen, dass er keine politische Erfahrung hat. Ein Greenhorn ist er nicht, er hat 6 Sprachen gelernt, er kann auch sicher Wirtschaft lernen, nur nicht nur von den Neoliberalen.
Frau Merkel ist Kanzlerin geworden weil, die CDU in einen unsäglichen Parteispendenskandal, keine Kandidaten mehr gefunden hat, der nicht beteiligt waren. Aus der Not geboren, nicht weil Sie große Erfahrung hatte.
"Der neu entfachte Wettbewerb ist ein Segen für die Demokratie."
Das ist wohl war.
Und falls sich in den kommenden Monaten abzeichnen sollte, dass RRG eine realistische Chance darauf hat, zu regieren, werden wir alle miteinander erleben, wie die Wirtschaft, ihr sämtlichen Lobbyorganisationen und die Union/FDP einen Wahlkampf der Angst inszenieren werden. Die werden Himmel und Hölle in Bewegung setzen und ein Szenario des Untergangs an die Wand malen, bloß um zu verhindern, dass es in Deutschland endlich wieder ein bisschen sozialer und gerechter zugeht.
Also ob wirtschaftliches Wohlergehen und eine faire Verteilung von Wohlstand sich gegenseitig ausschließend würde. Was für ein Bullshit.
Schulz hat zumindest die Lobby der Neoliberalen (INSM) -> https://lobbypedia.de/wiki/I… schon gegen sich aufgebracht, wenn sie derart scharf schießen und ganzseitige Propagandaanzeigen schalten. -> http://www.l-iz.de/wirtschaf… Ein gutes Zeichen.
'Plötzlich ist die Auseinandersetzung zwischen den Volksparteien, die klassische Polarisierung innerhalb des Systems, wieder interessant.'
Für die Parteien selbst vielleicht. Für mich überhaupt nicht. Auch mit seinen Agenda-2010-Sprüchen unterscheidet den Herrn zu wenig von Frau Merkel, als dass ich ihn als Alternative verstehen könnte. Er hat ohnehin während seiner EU-Zeit konstant am selben Strang gezogen wie sie.
Entfernt. Bitte belegen Sie Ihre Behauptungen mit entsprechenden Quellen und Argumenten. Danke, die Redaktion/idg
Am Ende gehen sie womöglich doch wieder mit der CDU ins Bett. Die Politiker aller Parteien haben in der Vergangenheit hart dran gearbeitet, dass man ihren Aussagen keinen Glauben mehr schenken kann. Das ist sehr schade für die Demokratie.
"Am Ende gehen sie womöglich doch wieder mit der CDU ins Bett."
Womöglich - rofl! Nein, die SPD wird bestimmt die absolute Mehrheit einfahren. Wobei, wenn man das da oben so liest, könnte man bald dran glauben. Werde das Gefühl nicht los, dass die Leute hinter den Medien allerspätestens seit der sog. Flüchtlingskrise einfach komplett am Rad drehen. Es hat seit Schulz' Wundersichtung noch nicht mal eine Wahl gegeben, alles Kaffeesatzleserei, und hier wird zum x'ten Mal ein Fass aufgemacht, also wirklich.