Nehmen wir einmal an, die Bundeskanzlerin hätte den Deutschen schon im Herbst 2014, als sie jeden Abend die Bilder von panischen Kindern in den rauchenden Ruinen von Homs oder Aleppo in den Nachrichten sahen, folgende Frage vorgelegt: "Hunderttausenden von Syrern brennt das Haus über dem Kopf. Uns geht es gut. Wie wäre es, wenn wir in einer geordneten Aktion, mit Fingerabdrücken, Sicherheitscheck und allem Drum und Dran, 800.000 von ihnen nach Deutschland holten? Es wird hart, teuer und riskant – ist aber zu bewältigen, und in vielen Fällen werden beide Seiten etwas davon haben." Eine mindestens solide Mehrheit wäre Angela Merkel vermutlich sicher gewesen.
Aber bekanntermaßen ist es bei dem, was ein Jahr später zur "Flüchtlingskrise" herangewachsen war, nie zu einer solchen Konfrontation mit dem Souverän gekommen. Was stattdessen geschah, schildert Robin Alexander, Hauptstadt-Korrespondent der Welt, in atemberaubender Dichte und Unmittelbarkeit zu den Protagonisten in seinem Buch Die Getriebenen. Es ist an die Spitze der Bestsellerlisten geschnellt und binnen kürzester Zeit in die fünfte Auflage gegangen; offenkundig trifft es auf einen Durst nach Erklärung, nach Begründung und Legitimation – der jedes Mitglied der Bundesregierung nervös machen sollte.
Die Versicherung des Autors, "weder eine Heiligengeschichte noch ein Schurkenstück" erzählen zu wollen, sich also seinem Gegenstand – speziell der Person der Kanzlerin – mit chirurgischer Neutralität genähert zu haben, darf man schon nach wenigen Seiten höflich beiseitewischen. Die Getriebenen zu lesen ist ein bisschen, wie an der Autobahn zu wohnen: Man sieht das Tempo – und spürt tief in den Knochen das Vibrieren. In diesem Fall vibriert ein ungeheurer Rochus auf die Regierungschefin.
So schildert Alexander eine Schlüsselszene aus der Frühphase der Flüchtlingskrise, als Merkel am Tag vor der sogenannten Grenzöffnung in der Schweiz mit Bürgern ins Gespräch kam. Eine Frau erzählt von der "großen Angst vor der Islamisierung" und fragt die Kanzlerin, wie sie "Europa und unsere Kultur schützen" wolle? Merkel weist die Fragerin einigermaßen kühl zurück. Wenn man in Deutschland frage, was es mit Pfingsten auf sich habe, seien die Ergebnisse nicht so doll. Sich dann zu beschweren, dass Muslime "sich im Koran gut auskennten", das finde sie komisch. Europa habe angesichts seiner Konflikte auch keinen Grund zu Hochmut. Eine in der Tat bizarre Antwort auf eine völlig legitime Frage. Alexander: "Merkel hat nie wieder so offen ausgesprochen, was sie denkt: Sie hält Islamkritiker für ungebildete, unhistorisch denkende Feiglinge (...) Dann geht doch in die Kirche! – das ist die schroffe Antwort der Pastorentochter Merkel an die Anti-Islam-Bewegung. Ein Wunder, dass bald auf vielen Plätzen der Republik 'Merkel muss weg' gebrüllt wird?"
Dass einer in Rage schreibt, macht seine Argumente noch nicht ungültig. Mit angemessener Rücksichtslosigkeit legt Alexander, der mit der Rezensentin aus diversen journalistischen Zusammenhängen bekannt ist, dar, wie unfreiwillig Merkel in die Rolle der "Flüchtlingskanzlerin" gestolpert ist. Lange Zeit habe sie Flüchtlinge und deren Unterbringungen weiträumig umfahren: kein Gewinnerthema. Und bevor die Flüchtlinge an der deutschen Grenze anlandeten, waren es Merkels Kabinette, die sich energisch gegen jede Form der europäischen Solidarität und Umverteilung von Flüchtlingen zur Wehr setzten. Das Dublin-System, nach dem Flüchtlinge in dem Staat Asyl beantragen müssen, in dem sie zuerst europäischen Boden betreten haben, hatte keine glühenderen Verteidiger als die Deutschen – solange sich die Mittelmeer-Anrainer mit den Problemen herumschlagen mussten. Merkel wollte nie die Flüchtlingskanzlerin sein. Aber als sie es einmal war, so Alexander, "wäre jede Kursänderung nicht weniger als ein totales Scheitern" gewesen.
Plausibel ist auch Alexanders Wut über die immer neuen Begründungen für die "Grenzöffnung" (Schlagbäume wurden nicht geöffnet, nur das Dublin-Abkommen wurde ausgesetzt) vom 4. September, mithin für die Ausnahme, die fast sechs Monate lang die Regel bildete und in deren Verlauf Hunderttausende von Menschen zum Teil unerkannt nach Deutschland kamen. Fakten würden geschaffen, Begründungen peu à peu nachgeliefert, so wie Merkel es schon mit der Wehrpflicht oder dem Ausstieg aus der Kernkraft gehalten habe. Erst war von einem humanitären Imperativ die Rede, dann davon, dass man Grenzen schlicht nicht schließen könne (obwohl zwischen hermetischer Abdichtung und dem Kontrollverlust vieles möglich gewesen wäre), auch von der deutschen Vergangenheit, von Flüchtlingen als Rettungsanker gegen die demografische Überalterung und schließlich davon, dass Merkel lediglich versucht habe, der handlungsunfähigen EU Zeit zu verschaffen, um das Schengen-Abkommen zu retten.
Kommentare
Die tapfere Kanzlerin, im Ruderboot, im Sturm, die jede einzelne Welle nimmt wie sie gerade kommt, um dann am Ende Gegen die Klippen geschleudert zu werden. . .
Um dann doch durch das Glück eines Wetterumschwungs ein Meile vor der Küste im nur noch kabbeligen Wasser zu treiben.
Das ist es was die Verfasserin im Auge hat.
Und der böse Buchautor setzt ein 100.000BRT Küstenmotorschiff voraus das mit nur Stunden Verspätung sicher den angestrebten Hafen erreicht?
Pfui schämen soll er sich der Buchautor.
Für die herausgeforderten: das war Satire gegen die Verfasserin.
Der Autor, Robin Alexander, erzählt ja nur die halbe, teilweise unterschlägt er sogar die Wahrheit.
In der Schweiz wurde im Sommer jeden Tag über die katastrophale Lage der Flüchtlinge in Österreich geschrieben. Man bereitete sich dort auf einen massiven Grenzübertritt vor, sowohl aus Österreich als auch aus Italien, da der Stau offensichtlich war.
Das privatisierte Flüchtlingsbetreuungssystem in Österreich wurde in der Schweizer Presse wesentlich kritisiert, durchaus mit dem Hinweis, dass der beauftrage Konzern in der Schweiz seinen Sitz hat.
In Folge wurden in der Schweiz auf die Einwohner umgerechnet täglich genauso viele vor allem syrische Flüchtlinge aufgenommen wie in Deutschland. Das Zitat über den gefährlichen Islam stammt dann auch aus dem Munde einer SVP-Anhängerin, vergleichbar mit Seehofer-CSU und AfD. Genaus wie in Deutschland gab es im Unterschied zu Österreich eine große private Hilfsbereitschaft.
In den deutschen Medien aber las ich erst etwas über die Problem mit Flüchtlingen, als in der Schweiz jeden Tag etwa 100 Grenzübertritte längst verzeichnet wurden und in Österreich tausende Flüchtlinge schon über Wochen wild in den Parks der Großstädte campierten.
Das alles unterschlägt Herr Alexander. Er selbst gehört zu denjenigen, die bis heute das Thema weder objektiv noch lösungsorientiert anpacken. Er jammert nur, dass die Regierung nicht das getan hat, was er für einzig richtig bis heute hält. Dann hieße der Bundespräsident in Österreich aber heute Hofer.
"Nehmen wir einmal an, (...)" - so beginnen Märchen. Und es endet sogar prophetisch: "(...) für Europa eine Botschaft, und die lautet: Nach uns die Sintflut." - Ein Narrativum infantium. (Gen. Obj.).
Die Wahrheit: die PR-Leute der Kanzlerin hatten gehofft, ihr kühles Image aufzuwärmen. Nach dem TV-Gau mit den Palästinensermädel. Das ist schon alles. Dafür zahlen wir nun 20 Milliarden pro Jahr.
So, so, da hat also der Autor einen Rochus auf Frau Merkel, so mutmaßt und bewertet Frau Lau das Buch von Robin Alexander, was ja schon quasi einer Majestätsbeleidigung gleicht, wenn man Merkel wegen ihrer aus dem Bauch geborenen und im Alleingang praktizierten desolaten Flüchtlingspolitik kritisiert.
"Lavieren, jonglieren, taktieren", besser hätte es Herr Alexander nicht auf den Punkt gebracht, dass war die Methode 'trial and error', die je nach Ergebnis angepasst wurde, und man mit dem 'humanitären Imperativ' die eigene Hilflosigkeit übertüncht hat. Moralisieren hat schon immer geholfen, wenn man mit seinem Latein am Ende war.
In der Tat, Merkel und ihre Regierung waren (sind) Getriebene ihrer erratischen Flüchtlingspolitik, zu der es sehr wohl Alternativen gegeben hätte, wobei allerdings Merkel ihr Gesicht verloren hätte, was wiederum als 'No Go' galt und weiterhin gilt. So der Autor höchstpersönlich vor kurzem im ZDF bei Markus Lanz.
Die Frage auf wen Frau Lau einen Rochus entwickelt hat, beantwortet sich durch ihren Bericht von alleine... .
"Merkel und ihre Regierung waren (sind) Getriebene ihrer erratischen Flüchtlingspolitik, zu der es sehr wohl Alternativen gegeben hätte [...]"
Welche Alternativen meinen Sie? Frau Lau beschreibt im Artikel die - aus meiner Sicht einzige - Alternative:
"Der Einsatz von Gewalt gegen Verzweifelte, auch Frauen und Kinder, die Überforderung Österreichs, das Ende von Schengen und damit des europäischen Zusammenhalts schlechthin".
"Das beklagt Alexander, als habe es sich um einen Akt der Feigheit gehandelt."
Hm. Ich kenne das Buch nicht, aber mein Eindruck ist, dass es hier womöglich um etwas anderes gehen könnte - nämlich darum, dass ja Frau Merkel, wie die Autorin auch schreibt, jahrelang alles blockiert hat, was eine solche Zuspitzung hätte verhindern können. Nur um dann - wieder einmal - so zu tun, als sei das alles alternativlos. Regieren durch Nichtregieren, quasi.
Möglicherweise ist das nur meine Projektion, aber jedenfalls ist das der zentrale Vorwurf, den ich Merkel und der Bundesregierung mache. Hinzu kommt, dass sich Merkel dann noch lange Zeit als Schutzheilige der Humanität feiern ließ, die sie nie war, nicht ist und wohl auch nicht werden wird.
"Regieren durch Nichtregieren, quasi."
Ich würde es noch etwas zuspitzen: reAgieren statt regieren. Regieren beinhaltet Regie. Bei der derzeitigen Lage kann ich keinen Regisseur erkennen. Das wäre Fr. M's Aufgabe, die sie leider seit Jahren nicht wahrnimmt.