Sollte Emmanuel Macron am 7. Mai zum französischen Präsidenten gewählt werden, was nicht unwahrscheinlich ist, werden ihn viele Menschen als Retter Europas feiern. Als den Mann, der einen Wahlsieg der rechtsextremen Marine Le Pen verhinderte – und den Zerfall der europäischen Nachkriegsordnung gleich mit.
Es wird dann allerlei Deutungen seines Erfolgs geben, etwa dass die Skandale seines konservativen Gegenkandidaten François Fillon ihm geholfen haben und dass er den Gegensatz von links und rechts mit dem Versprechen von Erneuerung überwunden habe. Das wäre auch richtig.
Es würde aber nicht erklären, wie ein Außenseiter binnen Monaten Hunderttausende Menschen mobilisierte – ganz ohne Parteiapparat. Das ist zu erklären durch die wundersame Karriere des Pariser Start-ups Liegey Muller Pons (LMP). Macrons Bewegung En Marche! wäre ohne dessen Idee, moderne Datenanalyse mit altmodischem Haustürwahlkampf zu verbinden, niemals so erfolgreich geworden.
Das Pariser Büro von LMP liegt in einem Hinterhof im 11. Arrondissement, der Eingang versteckt hinter Topfpflanzen. Durch eine Terrassentür betritt man ein kleines Loft. Natursteinwände, Fabriklampen, Sitzbälle. Ein Start-up-Büro wie aus einem Silicon-Valley-Reisekatalog. Nur die alten Wahlplakate an der Wand geben einen Hinweis darauf, dass hier nicht der zehntausendste Lieferdienst entsteht oder Klamotten im Internet verkauft werden. Nein, LMP macht Politik, oder besser: optimiert Wahlkämpfe. Deshalb hängt Jacques Chiracs Foto an der einen Wand, François Mitterrands an der anderen. Auf eine Pappmaske von Präsident François Hollande hat jemand "Changement" geschrieben, Wandel.
Der digitale Wandel hat die Art und Weise revolutioniert, wie Wahlkämpfe geführt werden. Und längst geht es dabei nicht mehr darum, ob Politiker selbst twittern oder twittern lassen. Big Data, Microtargeting, Profiling – so lauten die Schlüsselwörter für den Wahlkampf 4.0. Dahinter verbirgt sich nichts anderes als die totale Vermessung des Wählers. Untrennbar damit verbunden ist der Name eines Unternehmens: Cambridge Analytica. Die britische Datenfirma behauptet, sie habe im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf Persönlichkeitsprofile von 220 Millionen Bürgern erstellt und für die gezielte Ansprache von Wählern über Facebook genutzt. Trump habe auch ihretwegen gewonnen, sagt Cambridge Analytica. Das ist zweifelhaft, sagen die Kritiker.
Der Gründer lernte in Amerika, dass der Wahlkampf an Haustüren gewonnen wird
Guillaume Liegey ist einer dieser Kritiker. Der Chef von LMP setzt zwar ebenso auf den Nutzen von Daten und Algorithmen für eine gezielte Wähleransprache. Aber die Annahme, dass darauf basierende Nachrichten in sozialen Medien allein eine Wahl entscheiden können, hält er für übertrieben. Menschen ließen sich am besten von Menschen überzeugen, sagt Liegey. "Ohne richtig gute Leute bringt einer Partei die beste Technik nichts." Seine digitale Revolution heißt: Haustürwahlkampf.
Liegey, 36, Jeans, Hemd, Sakko mit Ellenbogen-Patches, empfängt Besucher des Hinterhofbüros direkt an der Tür, sein Schreibtisch steht mitten im Eingangsbereich. "Das ist nicht der große CEO-Desk, den ich verdient hätte", sagt er zur Begrüßung und lächelt schelmisch. Liegey versteht sich als Pionier. LMP sei das erste Digital-Start-up für Wahlstrategie in Europa. Emmanuel Macron ist der bisher prominenteste Kunde, aber auch Kommunalpolitiker nutzen die Software. Etwa 3.200 Euro zahlen sie für die Nutzung in einem Bezirk mit 100.000 Einwohnern.
Die Geschichte von LMP beginnt ganz unfranzösisch mit einem Amerikaner: Barack Obama. 2008, während der ersten Kampagne des späteren US-Präsidenten, studiert Liegey Politik und Management in Harvard. Es ist die Zeit des "Yes we can", in der Facebook und Twitter als politisches Handwerkszeug relevant werden. Auch Liegey lässt sich begeistern, registriert sich online als Wahlhelfer der Demokraten – und erlebt eine Überraschung. "Alle redeten davon, wie Social Media den Wahlkampf verändere. Aber was machten die Freiwilligen der Obama-Kampagne? Sie gingen von Haustür zu Haustür und klopften."
Liegey lernt, Bürger je nach Situation auf zwei Arten anzusprechen, manche eher sachlich-theoretisch, andere lieber persönlich-appellierend. Seine Erfahrungen diskutiert er mit zwei Freunden: Arthur Muller und Vincent Pons, beide wie Liegey aufgewachsen in Straßburg, auch sie studieren in Cambridge, der eine in Harvard, der andere am MIT. Sie wollen den Haustürwahlkampf wissenschaftlich untersuchen, prüfen, ob sich ein Effekt messen lässt. Zurück in Frankreich, bei den Regionalwahlen 2010, bekommen sie ihre Chance. In einem Vorort von Paris organisieren sie für die Sozialisten einen Haustürwahlkampf. Nach der Wahl stellen sie fest: In den Vierteln, wo sie aktiv waren, ist die Wahlbeteiligung höher als in den übrigen.
Liegey, Muller und Pons machen sich einen Namen unter den Sozialisten. 2012 verantworten sie den Haustürwahlkampf für François Hollande. Sie schreiben ein Buch darüber. 2013 schließlich gründen sie ihre Firma. Was aber haben Hausbesuche mit Digitalisierung zu tun?
Kommentare
Was ist denn eine Datenanalye?
Vereinfacht gesagt die Suche nach Mustern in gesammelten Informationen.
Am Anfang steht üblicherweise eine Forschungsfrage (in diesem Fall etwa: "In welchen Regionen Frankreichs wohnen Wechselwähler, die wir potenziell mit dem Macron-Programm überzeugen können?") und dann wird alles an Informationen gesammelt, was irgendwie Rückschlüsse bei der Beantwortung der Forschungsfrage zulassen könnte (also etwa: Wie stehen die Leute zu einzelnen Maßnahmen in der Sozial- und Wirtschaftspolitik? Wie alt sind die Befragten, welchen Bildungsstand haben sie?).
Anschließend werden diese Informationen miteinander verknüpft und damit Wählerprofile erstellt (Beispielhaft: Wer mittleren Alters ist, weiblich und Teilzeit arbeitet, spricht sich häufig für ein höheres Kindergeld aus. -> Logisch, da diese Frauen überproportional oft Mütter kleiner Kinder sind;). Will man nun mittelalte Teilzeitarbeiterinnen für ein Wahlprogramm begeistern, das ein höheres Kindergeld beinhaltet, lohnt es sich, die Route der Haustürwerber durch ein Gebiet zu legen, in dem viele Mütter leben.
In Deutschland würde ein solcher Kandidat entsprechend in Berlin Prenzlauer Berg hausieren gehen;)
Daran sieht man, dass "En Marche" eine synthetische Simulation einer politischen Bewegung ist. Wer eine Agentur engagieren muss, die für einen die Wahlkämpfer schult und Hausbesuche organisiert, hat man schon gezeigt, dass man keine eigene Identität hat. So kann man sich vielleicht kurzfristig einen Wahlerfolg kaufen. Eine dauerhafte Bindung schafft man so nicht.
Nichts gegen Hausbesuche. Das ist eine gute Methode, um mit Wählern ins Gespräch zu kommen. Aber wozu eine solche Agentur? Sollte ein Politiker nicht Kontakte zu Aktivisten haben, die wissen, wie die Leute in ihrer Gegend ticken? Oder noch besser vielleicht selbst einen guten Riecher dafür haben, was die Wähler umtreibt?
Ich weiß nicht recht, ich bin sehr skeptisch. Diese ganze Analysiererei erscheint mir sehr windig. Facebook-Intensivnutzer kann man vielleicht ganz gut durchanalysieren und in grobe Gruppen einteilen, aber nicht jeder ist einer. Und wie kommt man an die Adressen der Leute und verknüpft die Daten? Ich glaube nicht recht an Firlefanz wie diese Routenoptimierung und wundere mich über die Gewissheit, die politische Einstellungen ganzer Wählergruppen bis hin zum einzelnen Haushalt einschätzen zu können. Entweder es stimmt (das wäre datenschutzrechtlich beunruhigend) oder es stimmt nicht (dann sind diese Unternehmer nichts als die nächste Generation von DotCom-Betrügern).
Ich finde, diese Art Unternehmen hat Deutschland gerade noch gefehlt. Es ist das Gegenteil von dem, was politische Parteien brauchen.
"Ich glaube nicht recht an Firlefanz wie diese Routenoptimierung und wundere mich über die Gewissheit, die politische Einstellungen ganzer Wählergruppen bis hin zum einzelnen Haushalt einschätzen zu können. Entweder es stimmt (das wäre datenschutzrechtlich beunruhigend) oder es stimmt nicht (dann sind diese Unternehmer nichts als die nächste Generation von DotCom-Betrügern)."
Das ist alles nichts neues - der Mensch ist ein hochkommunikatives Wesen, und so tauscht er sich laufend und jederzeit über viele Kanäle mit anderen aus , Gestik, Mimik, Bewegung , Sprache, Bewegungen Kleidung, Bestimmter Sprachschatz , vorlieben zu bestimmten dingen egal ob Musik oder Essen.
Wir haben schon immer sowas mit "Sag mir mit wem du umgehst und ich sage dir wer du bist" umschrieben, und daran hat sich nichts geändert, es ist nur detaillierter und erfaßbarer Geworden!
Wir übernehmen Ansichten von anderen Menschen, und geben sie weiter - so ist jedermann eingebunden in ein gigantisches Netz von sozialen und gruppenkontexten .. den Menschen als Einzellebewesen gibt es nicht , so ist unser Denksystem einfach nicht gebaut!
Und was soll daran Datenschutzrechlich relevant sein? Das andere sie sehen und beurteilen wie sie sind? Was denken sie warum andere Personen überhaupt mit ihnen kommunizieren -einfach blind und ohne ihre Einstellung mit der der anderen abzugleichen?
Alles wird synthetisch und virtuell.
Nur die Probleme der ganz normalen Bürger bleiben real.
Ob das auf Dauer gut geht?
Big-Data, Microtargeting, Profiling – Wahlkampf 4.0 - die totale Vermessung des Wählers.
Mir wird einfach nur schlecht. Nein, ich bin sehr wohl Technik affin, aber alles, wo „Smart“ draufsteht, werde ich so lange es geht meiden, wie der Teufel Löschteiche. Die immer a-sozialeren
Netze ebenso.
Werbung gleich welcher Art registriere ich nicht, auch wenn überall die Leuchtreklamen blinken, ist es für mich nur zusätzliche Beleuchtung.
Parteiwerbung gehört abgeschafft; angefangen bei Wahlplakaten. Kostet Unsummen und produziert nur Müll.
Das persönliche Gespräch von Mensch zu Mensch und die etablierten Medien, die ich für vertrauenswürdig erachte als Informationsquelle. Dann Debatten verfolgen und Politikern zuhören. Das reicht zur Meinungsbildung.
Wahlprogramme oder knackiger Wahl-Slogan interessieren mich ebenso wenig. Nur heiße Luft. Da halte ich es mit Franz Müntefehring, der da meinte, es sei unfair die Partei am Wahlversprechen zu messen. Wer will schon unfair sein. Außerdem gibt es Wahlversprechen nur unter Finanzierbarkeitsvorbehalt und noch schöneren Wortquasten, die das Versprechen beim Aufblasen schon platzen lassen ...
Wenn ein Start-Up mit solchen Programmen Geld verdient – nur zu. Mich kauft ihr nicht! Auch latent bin ich nicht erreichbar. Gegen Hausbesuche habe ich nichts. Oder doch, einen Hund ;)
Und weil niemand genaue Zahlen hat, behauptet man, den Wahlsieg hätte eine Software herbeigeführt. Wer beweist das? Mein Zweifel ist grenzenlos.