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Wir Deutschen hätten merken können, dass etwas nicht stimmt: In den deutsch-französischen Umgang hatten sich Ungeduld und Gleichgültigkeit eingeschlichen. Ihr, liebe Französinnen und liebe Franzosen, habt uns oft gesagt, ihr seid nicht glücklich, irgendwie unzufrieden. Gewöhnliche Abnutzungserscheinungen, dachten wir noch. Und fallen jetzt offen gestanden aus allen Wolken – zu 43 Prozent habt ihr beim ersten Durchgang eurer Präsidentschaftswahl für europaskeptische Kandidaten gestimmt, und das, ihr könnt es ruhig zugeben, geht auch gegen uns Deutsche.
Ihr, liebe Franzosen, wollt uns also verlassen. Ja, so muss man es nennen, denn eine Präsidentin Le Pen würde den Frexit – den Austritt aus der EU – vorantreiben. Und das wäre das Ende jeder gemeinsamen Politik. Le Pen wird sich von jenen Werten verabschieden, die bisher die Grundlage unserer Freundschaft und Zusammenarbeit sind. Konkret meinen wir zum Beispiel ihr Vorhaben, die Verfassung so zu ändern, dass Franzosen bei der Arbeits- und Wohnungssuche ein Vorrecht gegenüber Ausländern erhalten sollen, was gegen das europäische Recht auf Freizügigkeit verstößt. Liebe Franzosen, wenn das Wirklichkeit wird, wie sollen wir uns dann noch vertrauen?
So weit ist es gekommen mit uns, euch und uns, aber jetzt erst begreifen wir es: Wir können nicht ohne euch. Bitte geht nicht. Verlasst uns nicht. Wir brauchen euch.
Wir – das ist natürlich nicht jeder einzelne von uns Deutschen, denn unter uns gibt es viele, denen Frankreich vollkommen egal ist oder die das Nachbarland sogar blöd finden, diese manchmal etwas hochnäsige Art, die umständliche Küche, den leicht schrulligen Nationalstolz. Das ist Geschmackssache. Die deutsch-französische Freundschaft aber ist keine Frage des Geschmacks. Noch nicht einmal der Sympathie. Der Frieden zwischen unseren Ländern ist der Beweis, dass Frieden unter Erzfeinden überhaupt möglich ist – trotz allem, was zwischen uns geschehen ist. Entschuldigung, wenn das pathetisch klingt, aber das geht uns wirklich an die Seele. In Diskussionen, die hier über Syrien und den unmöglich scheinenden Frieden im Nahen Osten geführt werden, sagt früher oder später immer jemand: Europa hat es doch auch geschafft, die Feindseligkeiten zu überwinden.
Dürfen wir also noch einen Moment lang dabei bleiben und euch beschreiben, wie wir uns gerade fühlen in diesen Wochen, in denen ihr – ohne uns – eure Entscheidung trefft? Wir haben natürlich auch ein paar sachliche Argumente, die wir euch hoffentlich verständlich machen können, dazu kommen wir gleich.
In vielen Ländern, auch in Europa, gewinnen autoritäre Politiker derzeit an Macht. Wie sollen wir uns gegen sie zur Wehr setzen ohne euch? Ihr seid das Land der Aufklärung und der Menschenrechte. Ihr habt die Parole "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" geprägt. Euer Land war der Zufluchtsort für Heinrich Heine und Kurt Tucholsky, für Paul Celan und Milan Kundera. Noch im heutigen Paris sind die Spuren des russischen, rumänischen, armenischen und polnischen Exils zu sehen. Des jüdischen erst recht. Ja, wir geben es zu, es macht uns Angst, dass jetzt eine Frau Präsidentin werden kann, die ihren Gegner Emmanuel Macron als wurzellosen Rothschild-Bankier attackiert, als Feind des Volkes. Eine Frau, die antisemitische Klischees verwendet, als hätte Europa keine Vergangenheit.
Natürlich, Frankreich ist auch das Land des Kolonialismus und der Kollaboration mit den deutschen Besatzern. Eine Präsidentin Marine Le Pen würde verfügen, dass über diese dunklen Kapitel der französischen Geschichte in den Schulen nicht mehr gesprochen würde. Vielleicht ist es ihre Rache dafür, dass französische Schriftsteller und Intellektuelle wie Jean-Paul Sartre dem Antikolonialismus, dem Antirassismus und dem Antifaschismus eine Stimme gaben, die weltweit gehört wurde. Wir Deutschen haben euch dafür immer bewundert – ihr seid so anders als wir. Eure Polemiken sind schärfer. Während wir verhandeln, treibt ihr die Konflikte auf die Spitze. Eure Revolution von 1789 war die Modellrevolution der Neuzeit. Und im Jahr 2017 ist die Alternative in Frankreich wieder einmal deutlicher gezeichnet als anderswo: Offenheit oder Abschließung. Darum geht’s. Die große Frage, wie mit der Globalisierung umzugehen sei, wird bei euch erstmals in dieser Klarheit zur Wahl gestellt.
Alles wirklich sehr spannend. Großartig. Nur – bitte denkt auch an uns. Wir sind gerade erst von unserem großen Bruder Amerika schlimm enttäuscht worden, jetzt nicht auch noch ihr. Ihr kennt uns: Wir brauchen jemanden, zu dem wir ein bisschen aufblicken können.
Kommentare
>>Ihr, liebe Franzosen, wollt uns also verlassen.<<
Niemand will irgendwen verlassen.
2/3 der Franzosen will in der EU bleiben. Das ist nichts Neues. Also bitte nicht übertreiben mit der Dramaturgie
http://eurojournalist.eu/die-franzosen-wollen-wieder-mehr-europa/
>>Eine Frau, die antisemitische Klischees verwendet, als hätte Europa keine Vergangenheit. <<
Ich bin kein Fan von Marine Le Pen. Ihr Wahlprogramm ist ökonomisch ein Witz und rechtlich wackelig.
Aber ihr völlig haltlos Antisemitismus vorzuwerfen, grenzt an Verleumdung.
Es gibt gute Argumente gegen den FN. Da braucht man keine Diffamierungen.
Glauben Sie nicht, daß nach so einem Artikel mal Stille statt Erbsenzählerei angebracht wäre?
>> Und fallen jetzt offen gestanden aus allen Wolken – zu 43 Prozent habt ihr beim ersten Durchgang eurer Präsidentschaftswahl für europaskeptische Kandidaten gestimmt, und das, ihr könnt es ruhig zugeben, geht auch gegen uns Deutsche. <<
Nein, diesen Eindruck hatte ich in Frankreich wirklich nie. Ich war allerdings auch nicht mit dem Kopf im Wolkenkuckucksheim unterwegs, aus dem ich jetzt ganz plötzlich und erschrocken herausfallen würde. Gegen unsere Regierung, ja und mit gutem Recht. Aber nicht gegen uns.
Schon lange mein Reden: die wichtigste Wahl für die Zukunft Europas findet im Herbst in Deutschland statt, und wieder Merkel ist keine gute Idee, wenn wir die EU erhalten wollen. Mein Eindruck ist aber, dass viele hierlande Europa nur wollen, wenn es nach "unserer" Pfeife - oder eben der unserer Regierung - tanzt.
"für europaskeptische Kandidaten gestimmt", so werden wieder alle, die die EU in ihrer aktuellen Form kritisieren aus den verschiedensten Gründen in einen Topf geworfen.
Ich bin mir sehr sicher dass wir bei dieser Wahl nochmal mit einem blauen Auge davon kommen werden.
Ich hoffe auf einen Sieg Macron aber einen knappen, so knapp das er den Entscheidungsträgern in Brüssel und Berlin klar macht wie ernst die Lage in der EU ist. Gerade in Berlin muss endlich verstanden werden das es so nicht weiter gehen darf!
Paare, die sich trennen, sind ohnehin nervig für die Freunde. Wenn dann ein Partner nicht loslassen kann, Blumen und Geschenke schickt, ständig anruft, kurz zum Stalker wird, dann wird es auch noch peinlich.
Zumal nach dem Coup von heute Nacht nun wirklich fast nichts mehr zu befürchten ist, Deutschland und Frankreich werden zusammen bleiben bis sie alt und grau und irgendwann tot sind.
Dabei hatten wir doch schon so viel gemeinsam: zuletzt haben so gar die Franzosen im deutsch-französischen Korps mit Nazi-Symbole gemalt.
Gut gemeint! Aber in den Diskussionen auf französischen Fernsehsendern wird in letzter Zeit immer wieder betont, dass Wahlkampfhilfe aus Deutschland als eher nicht hilfreich angesehen werden kann.
Der "ras le bol" vieler Franzosen richtet sich auch gegen das Gespann Merkel - Schäuble, von denen sich Holland - so der Eindruck - hat unterbuttern lassen.
Die Frage an die deutsche Politik heißt jetzt also, ob sie weiterhin auf der Beibehaltung der eigenen Linie besteht (sozusagen "alternativlos"), oder ob auch auf andere Stimmen in Europa gehört werden, und Europa sich endlich aus einem großem Markt für deutsche Produkte in einen marktsozialen Wirtschaftsraum wandelt.
Dies ist die letzte Chance, wenn auch Macron wieder nur ausgebremst wird, haben wir nächstes Mal auf jeden Fall Le Pen.
'Der Frieden zwischen unseren Ländern ist der Beweis, dass Frieden unter Erzfeinden überhaupt möglich ist – trotz allem, was zwischen uns geschehen ist.'
DIE grosse Errungenschaft unserer Völker!
@Blues Man #4
Seit vielen Jahrzehnten bin ich jedes Jahr in Frankreich viele Wochen und von
Anfang an vor über 50 Jahren haben sich mit vielen Familien Freundschaften aufgebaut.
Man spricht über alles. Die Menschen der Länder verstehen sich, man freut sich und trinkt Champus und spielt Boule in Eintracht und Freude, nicht in besonderen Kreisen,
nein Anfang der 60er auf Campingplätzen später auch etwas gemütlicher aber volksnah.
Und die allermeisten Freundschaften bestehen bis der Tod es beendet.
Meine Meinung: Das Problem sind immer die Politiker und Machtstrebenden mit
ihren Parteien, wie wir es überall feststellen in allen Ländern.
Toleranz ist immer gefragt, leider suchen die Medien gewisser Blätter immer
Schlagzeilen, die vergiften.