DIE ZEIT: Westliche Gesellschaften machen die ernüchternde Erfahrung, dass ihre Grundlagen nicht mehr sonderlich geschätzt werden – Freiheitsrechte, Gewaltenteilung, Demokratie. Neigt sich die Epoche des Liberalismus dem Ende zu? Oder ist es nur eine vorübergehende Krise?
Christoph Menke: Es ist die Natur von Krisen, dass man nicht weiß, ob sie eine vorübergehende Erscheinung sind oder eine tiefer gehende Veränderung hervorbringen. Was man aber sagen kann, ist, dass sich die bestehende liberale Ordnung auf Veränderungen einstellen muss, die wahrscheinlich nicht mehr rückgängig zu machen sind. Wir beobachten, dass die Balance aus Kapitalismus, Rechtsstaat und Demokratie aus dem Lot geraten ist. Seit den bürgerlichen Revolutionen war der Nationalstaat der Versuch, die Spannung zwischen diesen drei Elementen in einem Kompromiss aufzuheben. Dieser Kompromiss ist aufgesprengt worden. Auch wenn die Lafontaine-Linke oder der Soziologe Wolfgang Streeck es nicht wahrhaben wollen: Der nationalstaatliche Kompromiss wird sich nicht mehr herstellen lassen.
ZEIT: Und warum zerbricht der Nationalstaat?
Menke: Die Gründe sind vielfältig, es ist eben nicht nur die Globalisierung in einem äußerlichen Sinn, es betrifft nicht nur, wie viele annehmen, die Vernetzung der Ökonomien. Die Prozesse gehen tiefer – es sind Veränderungen der Produktionsweise, die Digitalisierung, es sind neue Formen der Technik.
ZEIT: Als die Mauer fiel, triumphierte der Westen und glaubte, alle Länder würden den liberalen Kompromiss übernehmen. Francis Fukuyama hoffte das ganz besonders.
Menke: Fukuyama ist ein getreuer Hegelianer und glaubte, dass Kapitalismus, Demokratie und Rechtsstaat nicht nur äußerlich balanciert sind, sondern von sich aus zusammenpassen und eine Synthese bilden können. Aber Karl Marx hat schon 1840 erkannt, dass dies eine Illusion ist.
ZEIT: Die größte Spannung besteht zwischen ...
Menke: Kapital und Demokratie, während der Rechtsstaat sie zusammenhalten soll. Der Rechtsstaat gründet in Gesetzgebungsverfahren, sein Grund ist Demokratie und sein Effekt die Ermächtigung von genau den Handlungsweisen, die das kapitalistische Wirtschaften ermöglichen. Doch weil der Rechtsstaat die Spannung zwischen Kapitalismus und Demokratie nicht aufheben, sondern nur äußerlich und daher vorübergehend ausgleichen kann, braucht die liberale Ordnung noch ein viertes Moment: Sie braucht die Kultur.
ZEIT: Warum lässt sich der Ausgleich nicht auf europäischer Ebene wiederherstellen? Weil jede Kultur national ist?
Menke: Der Nationalstaat sorgte für die kulturelle Homogenität, die für die Kompromissbildung zwischen Kapitalismus und Demokratie nötig war. So eine Homogenitätskonstruktion steht auf europäischer Ebene aber nicht zur Verfügung, es müsste dafür ein Ersatz gefunden werden. Welcher sollte das sein? Aus welchen Quellen sollte er schöpfen?
ZEIT: Aus den Quellen der jüdisch-christlichen Tradition.
Menke: Von der schon Gershom Scholem sagte, sie habe nie existiert. Seltsam auch, dass nun das Christentum beschworen wird, das bis vor Kurzem mit dem liberalen Staat nichts zu tun haben wollte. Die integrative Kraft solcher Traditionen scheint mir auf europäischer Ebene arg begrenzt zu sein.
ZEIT: Sie werfen dem Liberalismus vor, dass sein Privatrecht den Egoismus prämiert. Was stört Sie daran?
Menke: Das klassische Recht wollte die Antriebe des Eigennutzes in die Schranken weisen. So begründete das griechische und römische Recht subjektive Ansprüche aus der gerechten Verteilung von Gütern. Diese Bindung gibt das bürgerliche Privatrecht auf – und erlaubt nun etwas ganz Neues: Es erlaubt, dass der Einzelne nach seinem eigenen Belieben, nach seinen bloßen Interessen handelt – gleichgültig, ob sie gut oder schlecht, gerecht oder eigennützig sind. Es legalisiert gleichsam das Natürliche, den privaten Willen. Die Freiheit, die der liberale Staat erlaubt, ist bloß die Freiheit der Willkür oder der Wahl.
Kommentare
"Frankreich, USA, Ungarn, Polen – überall kehrt ein Teil der Bürger der pluralen Demokratie den Rücken zu. "
Bedeutet plurale Demokratie unbedingt "Liberlismus"? Pluralismus bedeutet doch, dass im Rahmen der Demokratie kann etwas anderes als Liberalismus gewählt werden.
Ja, es kann etwas anderes gewählt werden. Aber geht das danach auch noch? Also bei der nächsten Wahl, so es denn eine gibt?
Traurig.
Ein so langes Interview, und deutlich wird nur, dass Herr Menke nicht weiß, wovon er sprich.
"Der Liberalismus"...
Spätestens seit der von Isaiah Berlin 'popularisierten' Unterscheidung von "positiver Freiheit" und "negativer Freiheit" sollte jedem klar sein, dass man nur von "Klassischem Liberalismus" und "Neo-Liberalismus" sprechen sollte.
Beim Klassischen Liberalismus stehen "Kapitalismus, Demokratie und Rechtsstaat" im Einklang.
Die Vertreter des Klassischen Liberalismus haben verstanden, dass die Zivilgesellschaft soviel wie möglich regeln soll, dass so auch Individualinteressen und Kollektivinteressen ausgewogen sein können - und dass der Staat nur dann eingreifen soll, wenn Kriminelle den gesellschaftlichen Frieden stören.
Aber denn Weg des Klassischen Liberalismus hat der Westen spätesten 1914 verlassen.
Seitdem hat im Westen die Idee des 'Dritten Weges" die Überhand genommen - das was heute als 'Neo-Liberalismus' bekannt ist.
Hier soll der Staat für gesellschaftlichen Ausgleich sorgen, die Wirtschaft untersteht dem Willen der Regierung, das Geld wird vom Staat bewirtschaftet, und um dies zu erreichen, werden Unmengen von Gesetzen und Verordnungen erlassen.
Der Parteien-, Lobbyisten- und Bürokratenstaat blüht und gedeiht.
Nur: "Kapitalismus, Demokratie und Rechtsstaat" stehen so natürlich nicht mehr im Einklang.
Vertreter des Klassischen Liberalismus findet man noch bei den "Libertarians" in den USA.
Sonst sind alle Parteien neo-liberal.
++ Beim Klassischen Liberalismus stehen "Kapitalismus, Demokratie und Rechtsstaat" im Einklang.
Die Vertreter des Klassischen Liberalismus haben verstanden, dass die Zivilgesellschaft soviel wie möglich regeln soll, dass so auch Individualinteressen und Kollektivinteressen ausgewogen sein können - und dass der Staat nur dann eingreifen soll, wenn Kriminelle den gesellschaftlichen Frieden stören. ++
Nö, die Liberalen haben echt garnichts verstanden (bzw. wahrscheinlicher: sie lügen einfach) weil sich der Kapitalismus über Demokratie und Rechtsstaat hinwegsetzt bzw. diesen den eigenen Willen aufdrückt.
Sehen Sie sich doch einfach an, wie die Lebensverhältnisse im "klassischen Liberalismus" in den USA vor Roosevelt und dem New Deal waren...die Oligarchie im Palast und die Arbeiter in den Ghettos und wenn letzte gegen die Ausbeutung erster rebellierten kam Armee und Polizei und schoss sie zusammen...dass war die genuine Aufgabe des "schlanken Staates" der Liberalen: Pfründewahrung der Oberschicht.
Das Interessante ist doch, die Vergangenheit wird niemals die Zukunft sein. Ja, ich weiß, nicht sehr originell, aber so weit so fatal.
Die Neofaschisten in Europa versprechen, wie der Islamismus, eine Restauration. Die kann es aber so oder so nicht geben, weder mit noch ohne Europa.Es isnd einfach andere, wandelbarere Zeiten. In jeder Hinsicht schlägt das Pendel schneller aus.
Statt sich dem zu stellen, werden Ruhe und Stabilität verlangt, für ganze Jahrzehnte. Unmöglich. Und dem sollte sich die Politik viel offener stellen. Sagen, wir können nicht wissen was in zwei oder drei Jahren sein wird, aber wir versuchen eine Agenda zu haben für das was wir wissen. Also Grundpfeiler, wie eine gesamteuropäische Steuer- und Sozialpolitik.
Am Thema vorbei wie auch oben das Interview! Wir erleben nicht das Abwenden von Teilen der Bürger von der pluralen Demokratie, sondern eine Legitimationskrise der repräsentativen Demokratie - der minimalistischen Form der Demokratie, die sich auf die Selektion der Machteliten beschränkt. Die Bürger fragen sich: Wem ist unsere von Minderheitenmeinungen befreite Repräsentanz eigentlich mehr verpflichtet, dem einzelnen Bürger, dem, der gleicher ist als andere Bürger, oder einfach nur sehr reichen Menschen, wobei es egal ist, ob sie überhaupt Mitbürger sind? Die Menschen wollen mehr Demokratie und retten sich in ihrer Verzweiflung in den Fatalismus. Dies als Abwenden von der pluralen Demokratie zu bezeichnen, ist schon deswegen eine Nebelkerze, weil wir gar keine plurale Demokratie haben.
"Seltsam auch, dass nun das Christentum beschworen wird, dass [sic!] bis vor Kurzem mit dem liberalen Staat nichts zu tun haben wollte."
Haben Sie keinen Lektor mehr?
Sorry, war heute krank...