Am 15. Juli letzten Jahres, ich war in Barcelona im Urlaub, kam ein Anruf von meiner Zeitung Cumhuriyet: "Schalte sofort den Fernseher ein!" Das tat ich. Soldaten hatten die Bosporusbrücke gesperrt. "Was ist los?", fragte ich.
"Ein Umsturzversuch", lautete die Antwort.
Das musste ein Scherz sein. Es war 22.00 Uhr. Jeder Bürger meines Alters in der Türkei hat mindestens drei Putsche erlebt, keiner hatte vor Mitternacht stattgefunden. Die ideale Zeit schien immer vier Uhr morgens gewesen zu sein.
Das ist der Reichstagsbrand der Türkei, sagte ich mir. Das war mein erster Eindruck. Keiner von uns erwartete einen Coup vom Militär, das durch die Ermittlungen in den letzten zehn Jahre völlig durcheinandergewirbelt worden war. Doch im Laufe der Stunden nahm die Sache größere Ausmaße an. F-16Kampfjets überflogen strategische Orte, vom Boden aus wurden sie beschossen. Schließlich stürmten die Putschisten gegen Mitternacht den staatlichen Sender und verkündeten, sie hätten die Macht übernommen. Aber Erdoğan rief die Bevölkerung zum Widerstand auf, und der Coup wurde blutig niedergeschlagen.
Seither versucht die Türkei herauszubekommen, was in jener Nacht geschah. Zwei Meinungen herrschen vor: Erstens, die religiöse Gruppe der "Gülenisten" versuchte gemeinsam mit kemalistischen Offizieren in der Armee, Erdoğan zu stürzen. Zweitens, Erdoğan inszenierte einen Umsturzversuch, um die Macht komplett zu übernehmen.
Letzte Woche nun begann der Mammutprozess gegen 221 des Putschversuchs Angeklagte. Nach Anhörung der bisherigen Aussagen kam eine weitere Deutungsoption für den 15. Juli ins Gespräch: der "kontrollierte Putsch".
Demnach handelte es sich ernstlich um einen Umsturzversuch. Aber als die Regierungsseite davon erfuhr, griff sie nicht unverzüglich ein, sondern wartete ab, bis die Akteure erkennbar wurden. Als dann das Volk auf die Straße ging, schlug man politisch Profit aus der Aktion. Diese These stützen auch neue Erkenntnisse über den zeitlichen Ablauf. Ihnen zufolge meldete ein Major um 14.45 Uhr dem Geheimdienst MIT "putschistische Umtriebe". Um 16.20 Uhr gab der Geheimdienst die Information an den Generalstab weiter. Der für den Geheimdienst zuständige Staatssekretär und der Generalstabschef kamen um 18.00 Uhr zusammen. Somit hatte der Staat mindestens 7 Stunden und 15 Minuten vor Sperrung der Brücke Kenntnis von dem Coup.
Warum wartete man ab? Warum wurde der Geheimdienstchef, als er um 18.30 Uhr den Staatspräsidenten anrief, nicht verbunden, sondern mit "Erdoğan ruht gerade" abgespeist? Warum sagte Erdoğan später: "Ich erfuhr gegen 20.00 Uhr durch meinen Schwager von dem Putschversuch"? Warum wurde geduldet, dass die Putschisten um 21.00 Uhr das Generalstabsquartier stürmten und den Generalstabschef als Geisel nahmen? Warum konnte der Premierminister erst um 22.00 Uhr (also 7 Stunden, 15 Minuten nach der ersten Geheimdienstmeldung) mit dem ihm unterstellten MIT-Staatssekretär sprechen?
Über diese 7 Stunden und 15 Minuten verlangt nun das Land Aufklärung. Bei der Anhörung weiterer Aussagen kann sich nur entweder ein entsetzliches Defizit des Staates herausstellen oder eine haarsträubende "Politik des Wegschauens".
Beides sind gleichermaßen desaströse Möglichkeiten. So oder so wurde mit den 240 Menschen, die in jener Nacht ums Leben kamen, ein hoher Preis gezahlt. Aber die Hintermänner der entweder tödlichen Fahrlässigkeit oder listigen Planung sind selbstverständlich nicht unter den Angeklagten.
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
Kommentare
Ich habs von vorneherein gesagt.
1. hat noch Dündars eigene Zeitung Wochen vor dem Putsch berichtet, dass es im Militär rumorte.
2. es ging dabei schon um die wirtschaftlichen Verstrickungen des Militärs und der Generalität, die mittlerweile in Konkurrez zu den 'anatolischen Tigern' steht, die Erdogan die Treue halten.
3. noch in der Woche vor dem Putsch hat die AKP den Druck auf das Wirtschaftsimperium des Militärs weiter erhöht.
Die Putschisten zu weiterer Eile angetrieben.
4. der Loyalität der Ersten Armee, bzw. deren Offizierskorps m/Spitze, um Istanbul, hatte man sich vorher versichert.
Die spielten ein doppeltes Spiel, waren der Zugang für den MIT.
Sie sollten eigentlich den ersten Putschisten zur Hilfe eilen und die Stadt komplett abriegeln.
Taten es dann jedoch nicht, blieben erst in den Kasernen und rückten dann auf Erdogans Befehl gegen die Reste der Putschisten aus, die nicht schon von den Polizeispezieleinheiten und dem wütenden Mob aufgerieben worden waren.
Der 'inszenierte Putsch' war immer schon eine phantasievolle(re) Interpretation.
So ist es halt im (westlichen Blick auf) den Orient.
"So oder so wurde mit den 240 Menschen, die in jener Nacht ums Leben kamen, ein hoher Preis gezahlt. "
Ich kann mich erinnern, dass Erdogan den Putsch ein Geschenk Gottes nannte. Ich denke, dass ihm die 240 Toten weniger wichtig waren als die sich für ihn ergebende Möglichkeit der "Säuberung."
War es ein schlecht organisierter Putsch oder einer, der unter Zeitdruck vorgezogen wurde und zudem ein "begleiteter" Putsch? Aber ist das nicht eigentlich egal? Erdogan nutzt ihn, um ein diktatorisches System zu zu schaffen, dessen Etablierung er der Gülen-Bewegung unterstellt. Aber das scheint mir derzeit nur noch wichtig für Geschichtsbücher. Nach vorne geschaut. Mittelfristig ist der türkische Staatsapparat (Polizei, Justiz, Verwaltung, Bildungswesen) in wesentlichen Bereichen geschwächt. Das Militär hat nach den Säuberungen der letzten Jahre die nächste Amputation von Führungsoffizieren zu verkraften. Ehe Erdogan die "Kurdenfrage" in Syrien und dem Irak lösen kann, muss er das Militär konsolidieren. Gegen die inzwischen gut gerüsteten und ausgebildeten diversen kurdischen "Teilstreitkräfte" (STREIT-Kräfte passt ganz gut, oder?) kann er nicht mit Offizieren erfolgreich sein, bei denen devoter Gehorsam eine militärische Ausbildung ersetzt. Sonst zerdeppern sie ihm schnell die nächsten Leo-Panzer. Der Katar-Beistandspakt dürfte derzeit schon recht hoch gepokert sein. Am wesentlichsten aber scheint mir der Blick auf die Self-fulfilling-prohecy aller Diktatoren: Mit Abschaffung von Demokratie, Minderheitenrechten, Freier Presse, Gewaltenteilung schaffen sie als einzige Option für den politischen Wechsel den Putsch, den Volksaufstand und/oder den Tyrannenmord. Keine ruhigen Zeiten, die da kommen.
Can Dündar labert und labert. Ich meine: er schreibt und schreibt...
Der soll sich mal eine Frage stellen:
Wenn die Menschen in der Türkei sich gegen einen Putsch entschieden und sich vor Panzern gestellt haben (ich war übrgens zu der Zeit dort) und dem Aufruf Erdogans gefolgt sind und auf die Straße gegangen sind, da stellt sich mir eine Frage:
Was würden genau diese Menschen, die sich noch unter den Panzern gelegt haben, tun, wenn sie feststellen, dass das nur inszeniert war?
Wenn sie feststellen, dass dieser Putsch "nur getürkt" war? Dem Erdogan könnte keiner mehr helfen. Der wäre dann Geschichte!
Und das eigene Leben setzt so ein "Machtmensch", wie es manchmal der Can Dündar formuliert, bestimmt nicht aufs Spiel.
Can Dündar sollte sich eher Gedanken machen, dass er bald Deutsch lernt, dann braucht er für seinen Kolumnen keine Dolmetscherin und kann sie direkt auf Deutsch schreiben, damit sie nicht falsch übersetzt werden.
Da stellt sich mir eine Frage an die Redaktion, vielleicht wissen die was:
Nachdem jetzt der Can Dündar nicht mehr in die Türkei kann und hier gestrandet ist: Muss er einen Integrationskurs besuchen? Oder ist er als "Intellektueller" davon ausgenommen? Wenn er denn so ein "Intellektueller" ist, dann hätte er doch schon längst deutsch lernen müssen. Kann mir bitte die Redaktion kurz recherchieren und antworten? Danke.
Ihre Formulierung, dass Herr C.D. "nicht mehr in die Türkei kann und hier gestrandet ist" ist schon cool und lässt mich dann doch etwas ratlos zurück. Sie verstehen wirklich nicht, was da gerade passiert, oder?