Noch immer sind Arbeiterkinder an deutschen Universitäten eine Minderheit. Warum entscheiden sich so wenige für ein Studium?
Ein Herbstvormittag in München, wenige Tage vor Beginn des neuen
Semesters. Jessica Feichtmayr, 23 Jahre alt, sitzt auf einem Pappkartonhocker in einem
Studentencafé.
"Dreams may happen"
prangt in weißen Buchstaben auf ihrem Shirt.
Feichtmayr trinkt von ihrem Cappuccino und schaut dabei aus dem Fenster. Schräg gegenüber
steht das imposante Hauptgebäude der Ludwig-Maximilians-Universität. Feichtmayr sagt:
"Manchmal muss ich mir noch immer die Augen reiben." Sie, das Arbeiterkind, hat es dort nicht
nur in den Hörsaal geschafft. Sie ist auch dringeblieben, Pädagogik, bald fünftes Semester. In
einem Jahr wird sie ihren Bachelorabschluss haben. "In Deutschland ist das ja absurderweise
immer noch eine Sensation."
Die Studentin mit dem wachen Blick kennt die Zahlen: Von 100 Kindern, deren Eltern nicht studiert haben, gehen 21 an eine Hochschule, schaffen 15 einen Bachelor, machen acht den Master, und nur einer promoviert. Das zeigt der Hochschul-Bildungs-Report, eine Studie des Stifterverbands und der Unternehmensberatung McKinsey. Jeder zweite junge Mensch studiert; nur sind Arbeiterkinder in der krassen Minderheit. Zum Vergleich: Von 100 Kindern mit mindestens einem studierten Elternteil gehen 74 an eine Hochschule, schaffen 63 einen Bachelor, machen 45 den Master und promovieren zehn. Und die Studie vergleicht dabei 100 Arbeiterkinder mit 100 Akademikerkindern. In der Realität gibt es aber wesentlich mehr Familien, in denen die Eltern nicht studiert haben. Berücksichtigt man das, ist das Verhältnis fünf zu eins.
Dass bereits in der Grundschule gesiebt wird, ist bekannt. "Meine Lehrerin sagte in der dritten Klasse zu meiner Mutter, ich sei dumm", erinnert sich Feichtmayr. Die Mutter, alleinerziehend, Anfang dreißig, Hauptschulabschluss, konnte dem nichts entgegensetzen. Dass in Deutschland die Bildungschancen noch immer stark von der sozialen Herkunft abhängen, zeigt auch der Chancenspiegel, eine Studie der Bertelsmann Stiftung. Die Chancengerechtigkeit macht zwar stetige, aber nur sehr langsame Fortschritte.
"Was, wenn ich länger brauche?"
Was weniger bekannt ist: Für Arbeiterkinder wie Jessica Feichtmayr hört das Aussieben an der Hochschultür nicht auf, und es scheint fast eine Art Selbstselektion zu sein. Nicht einmal jeder zweite Abiturient aus einer Arbeiterfamilie geht an die Uni, bei Akademikerkindern mit Hochschulreife sind es 95 Prozent. Warum das so ist, versucht Ludger Wößmann, Leiter des ifo Zentrums für Bildungsökonomik und Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität, herauszufinden; seit Beginn des Jahres verantwortet er gemeinsam mit Kollegen am Wissenschaftszentrum Berlin dazu ein Forschungsprojekt. Eins ist bereits klar: Es sind sowohl finanzielle als auch psychologische Barrieren, die Arbeiterkinder mit Abitur von den Hochschulen fernhalten.
Ersteres verwundert zunächst, denn dank Bafög und einer Null-Studiengebühren-Politik ist ein Studium in kaum einem Land so kostengünstig wie in Deutschland. Warum Geld trotzdem ein Faktor bleibt, zeigt das Beispiel von Patrick Schnitzer, 27 Jahre. Ab dem Wintersemester wird er Jura und Informatik an der LMU München studieren. Schnitzer ist der Sohn eines Malermeisters, seine Mutter flüchtete während des Balkankrieges aus Bosnien und hat keine Berufsausbildung. Patrick Schnitzer ist gelernter Dachdecker, mit dem Meisterbrief erwarb er auch die Hochschulzugangsberechtigung. Seine Eltern können ihn nicht unterstützen, finanziellen Druck verspürt er schon jetzt, bevor sein Studium überhaupt begonnen hat. Die erste Bafög-Überweisung wird nicht am ersten Semestertag auf seinem Konto landen, sondern wenige Wochen danach. So ist es üblich. Zudem sind die Zahlungen an die Regelstudienzeit gekoppelt, einen Teil muss er nach Ende des Studiums zurückzahlen. "Was, wenn ich länger brauche? Oder das Studium doch nicht schaffe? Oder danach nicht gleich einen Job finde?", fragt sich Schnitzer.
Finanzielle Barrieren kennt auch Jessica Feichtmayr. Aufgewachsen ist sie im Münchner Umland, eine jüngere Schwester, die Mutter gelernte Einzelhandelskauffrau, heute arbeitet sie in einer Wäscherei. Die Kinder zog sie allein groß, zu dem Vater, einem Kfz-Mechaniker, gab es keinen Kontakt; er starb, als Tochter Jessica 16 Jahre alt war. Das Geld war stets knapp. Klamotten gab es auch mal von Aldi. Nach der Hauptschule machte Feichtmayr eine Ausbildung als Zahnarzthelferin. "Das sah meine Mutter als den – sehr, sehr guten! – Endpunkt meiner Bildungskarriere an." Als ihre Tochter überlegte, die gut bezahlte Stelle zu kündigen, das Abitur nachzuholen – die mittlere Reife hatte sie durch die Ausbildung erlangt – und zu studieren, war das für die Mutter absolut unverständlich.
"Das ist eine Haltung, die wir aus der Verhaltensökonomie kennen", sagt Wößmann. "Ein geringeres Einkommen von heute wird dem höheren Einkommen von morgen vorgezogen." Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach. Für ein Studium fallen schließlich zunächst Kosten an, mehr noch: Es werden Schulden gemacht. Wer wie Schnitzer und Feichtmayr weiß, wie sich ein Leben anfühlt, bei dem jeder Cent zweimal umgedreht werden muss, schreckt davor zurück.
Ein weiterer Faktor: Arbeitereltern und -kinder haben keine familiären Vorbilder. Sie kennen die Taube nicht. Gerade die Elterngeneration hat oft falsche Vorstellungen. Jessica Feichtmayr etwa hört noch heute im Familienkreis, sie solle doch parallel zum Studium einen Taxischein machen. "Natürlich tut das weh", sagt sie. Sie weiß, dass es auch anders geht: Ihre beste Freundin kommt aus einer Akademikerfamilie, da gibt es zu Kaffee und Kuchen eine dicke Portion Interesse und Verständnis.
Kommentare
Das Gefühl von Fremdheit und Unverstandenheit kenne ich. Meine Eltern waren beide ohne qualifizierte Ausbildung (beide in Polen geboren). Nach der Hauptschule und einer Lehre habe ich das Abi nachgemacht, später studiert und dann promoviert.
Mir ging es nie um ein höheres Einkommen oder Prestige. Ich wollte Wissen erlangen, um die Welt besser zu verstehen.
Dadurch entfremdete ich mich aber von meiner Familie und meinem Herkunftsmilieu. Niemand verstand dort, dass ich es nicht anstrebte "reich und/oder berühmt" zu werden.
Da ich aber keinen Bildungsrückhalt in der Familie hatte, konnte ich Dinge wie den Zugang z.B. zu klassischer Musik, bildender Kunst oder bestimmten Essgewohnheiten nur mühsam "nachholen". Aber richtig "dazu" gehöre ich bis heute nirgends mehr.
Der Preis des Bildungsaufstieges - trotzdem habe ich den Weg nie bereut.
Entfernt. Bitte beteiligen Sie sich nur, wenn Sie einen konstruktiven Beitrag zur Diskussion leisten möchten. Danke. Die Redaktion/dl
So sehr ich die situation, auch hemmnisse in den geschilderten fällen nachvollziehen kann: es ist jammern auf allerhöchstem niveau.
Natürlich spielt die "psyche" (auch der eltern) eine grosse rolle. Finanzielle gründe finde ich eher an den haaren herbeigezogen. Das ich alsstudent in aller regel keine grossen sprünge machen kann: einverstanden. Schliesslich stehtbdas studium im vordergrund.
Als ich las ".....taxischein....das tat weh..." fragte ich mich wie das wohl weitergeht wenn das studium erfolgreich beendet wurde.
Man kann seinen lebensunterhalt als student sehr wohl selbst verdienen. Wenn man ein pasr grundregeön beachtet und fleissig ist.
Sich dabei die studentenbzu betrachten die " alles geschenkt bekommrn" ( von den eltern zb) ist zwar zutiefst menschlich und daher nachvollziehbar, aber eben auch genauso falsch.
Musste mein studium auch selbst löhnen.MIT studiengebühren.ebenso den lebensunterhalt. Eine frage der disziplin und der organisation. Bzw der kultivierung eigener ansprüche.
Wenn das jammern schon während des studiums losgeht , deutet es auf schwierigkeiten hin die erst noch kommen. Das macht die zahlen des artikels nicht besser, nur taugen diese eben m.e.n. auch kaum als argument.
Hinderungsgrund nr 1 sind aus meiner sicht immer die eigenen glaubenssätze. Die darf man ruhig mal auf den prüfstand stellen.
Es ist eben kein jammern auf höchstem Niveau sondern ein ernsthaftes Problem, nur weil Sie das alles hinbekommen haben, bedeutet das nicht, dass es für andere nur ein triviales Problem ist.
Nur auf das Geld zu schauen und einzufordern, dass die Leute nicht rum jammern bringt ja niemanden weiter. Keinen Bezug mehr zu den eigenen Eltern zu haben, ist aber einfach richtig doof, weil diese nicht in dem Ausmaß wie für manche Kommilitonen als Unterstützung herhalten können und man dadurch einen echten Nachteil hat. Psychologische Probleme sind kein Hokuspokus, die ein Problem der eigenen Haltung sind, sondern echte Probleme, die das Leben massiv beeinflussen können. Die Glaubenssätze zu hinterfragen als Lösung davon anzubieten ist mehr als nur naiv.
Oh, ich hatte mich schon gefragt, warum die ZEIT in den letzten Wochen keinen einzigen 'Arbeiterkinder an der Uni' Artikel gebracht hat.
War ja fast zu schön, um wahr zu sein ...
Mit freundlichen Grüßen,
Erstes Kind der Familie, das studiert, ganz ohne Probleme, ganz, ohne sich ausgegrenzt zu fühlen. Wie jedes andere 'Arbeiterkind', das ich kenne.
Klar kommt man auch als “Arbeiterkind” gut durch, kann ich nur bestätigen.
Aber die Frage ist doch vllt warum spielt der Hintergrund der Eltern eine so starke Rolle wenn es darum geht überhaupt an die Uni zu gehen?
Das einzige was da hilft ist eine Quote für Kinder aus armen Haushalten.
Das würde überhaupt gar nichts verbessern.
Potenzielle Nachwuchsakademiker aus schwierigen sozialen Verhältnissen gehen deshalb seltener an die Hochschulen, weil sie fürchten, ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten zu können.
Eine Quote würde da nada ändern.
Haben Sie den Artikel überhaupt gelesen?