Stephan Weil muss sich manchmal vorkommen, als sei er in einer Zeitschleife gefangen. Die Bundestagswahl ist gelaufen, doch der Ministerpräsident Weil, ein Sozialdemokrat, muss weiterhin jeden Tag die immer gleichen Interviews geben, die immer gleichen Bürgerfragen beantworten.
Kleine Unterschiede zur Zeit vor dem 24. September gibt es dennoch. Die blonde Moderatorin, die durch die Veranstaltungen führt, fragt nach den Nöten der Menschen in Verden und nicht nach Donald Trump. Und wenn die Soul-Funk-Band den SPD-Anhängern mit dem Pharrell-Williams-Hit Happy einheizt, kann einem das, wie unlängst in Cuxhaven, eher unglücklich erscheinen, weil direkt danach Martin Schulz auftritt.
An diesem Sonntag dürfen die Niedersachsen schon wieder ihre Stimme abgeben, diesmal bei der Landtagswahl. Geplant war das eigentlich nicht. Als die grüne Landtagsabgeordnete Elke Twesten im August zur CDU-Fraktion rübermachte, verlor die rot-grüne Landesregierung ihre Ein-Stimmen-Mehrheit im Parlament. In der Folge musste die für den 14. Januar 2018 geplante Landtagswahl um drei Monate vorverlegt werden.
Das schien ganz im Sinne der CDU zu sein, versprach sie sich doch durch eine enge Anbindung an die Bundestagswahl und die populäre Kanzlerin einen beträchtlichen Mitnahmeeffekt für ihren wenig bekannten Spitzenmann Bernd Althusmann. Doch Twestens aparte Austrittsbegründung, die Grünen hätten sie für den nächsten Landtag nicht mehr aufgestellt, sowie ein gemeinsamer Presseauftritt mit dem CDU-Fraktionschef Björn Thümler kamen beim Wahlvolk gar nicht gut an. Eine karrierefixierte Grüne und eine CDU, die sofort ihre Reihen für sie öffnet, nur um drei Monate vor der Zeit an die Fleischtöpfe zu kommen: Diese Kombination fanden die Bürger ziemlich unappetitlich; sie ließen einen Neun-Punkte-Vorsprung der CDU vor der SPD in den Umfragen kontinuierlich abschmelzen, bis zu Wochenbeginn die Sozial- erstmals vor den Christdemokraten lagen. Zum gleichen Zeitpunkt haute der Landespolizeipräsident auf die große Pauke: Er kündigte seinen Austritt aus der CDU an – und lobte den SPD-Innenminister Boris Pistorius über den grünen Klee.
Der zweite Effekt der CDU-Werdung Elke Twestens ist die Neuerfindung des Stephan Weil. Aus dem Büroklammer-Politiker, der noch im vergangenen Sommer seinem Verschwinden aus der Politik entgegendämmerte, wurde über Nacht ein mitreißender Wahlkämpfer. Während der Wahlkampferöffnung in Cuxhaven hielt Weil vor 750 staunenden Leuten 45 Minuten lang eine so feurige und so pointensichere freie Rede, dass sich Weil-Vertraute hinterher gegenseitig anstießen: "So gut war der Stephan ja noch nie." Und weil der Stephan nun so gut ist wie noch nie, könnte am Sonntag seine SPD vor der CDU landen. Das wäre das erste Mal, seitdem Gerhard Schröder die niedersächsische Landtagswahl 1998 in ein Plebiszit über die SPD-Kanzlerkandidatur verwandelte und 47,9 Prozent holte.
Weils unerwartete Stärke scheint seinen Herausforderer Althusmann dermaßen zu verwirren, dass der CDU-Mann, als er unlängst zu einer NDR-Sendung nach Hamburg fahren sollte, vor dem NDR-Studio Hannover ankam. Ein Möchtegern-Ministerpräsident, der sich im Land verirrt, das ist nicht das beste aller Omen.
Gewinnt Weil am Sonntag, wird sich ein anderer mindestens so freuen wie er selbst: Martin Schulz. Seine Niederlagenserie bei drei Landtagswahlen und einer Bundestagswahl wäre gestoppt und seine Wiederwahl als SPD-Chef auf dem Parteitag im Dezember wohl gesichert. Für das kleine Wunder, der SPD drei Wochen nach einer historischen Schlappe einen unerwarteten Sieg beschert zu haben, dürfte Weil mit dem Posten eines stellvertretenden Parteivorsitzenden belohnt werden.
Für die Kanzlerin ist das alles bitter. Bei der Bundestagswahl abgestürzt, Niedersachsen verzockt. Und während Angela Merkel in Berlin mit Grünen und FDP Jamaika sondiert, checkt in Hannover die SPD mit Grünen und FDP eine Ampel. In der Union schlägt dann wieder einmal die Stunde der Nörgler.
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Kommentare
Niedersachsen ist eben nicht Berlin und auch nicht der Bund.
Die AfD vergleichsweise schwach, die Grünen punkten schwer im tiefschwarzen Westen, weil eben auch aufrechten Konservativen die Gülle in der Nase näher ist, als abstrakte Ängste vor der Zuwanderung.
Der Osten ist traditionell sehr rot, und die Union personell schwach.
Konnte man gut schon bei der BTW beobachten, wo die Roten mehrere Wahlkreise direkt holten, obwohl die Zweitstimmenmehrheit an die Union ging.
Einen Wahlkampf zu führen, der Schulpolitik ins Zentrum rückt (nur weils ein typisches Landes-Thema ist), aber übersieht, das Althusmann selbst vor 5 Jahren noch Kultusminister war und die unzweifelhat vorhandenen Probleme mitzuverantworten hat, setzt darauf, daß Wähler ein sehr kurzes Gedächtnis haben.
Die Wahlplakate der BTW teilweise gar nicht auszutauschen, sondern nur mit "15.Oktober" Buttons zu ergänzen: noch besser kann kein politischer Gegner die austauschbare Inhaltsleere der Unionskogans offenlegen.
Dazu fünf Jahre lang eine Oppositionspolitik zu betreiben, die mit Inhaltskritik wenig, mit Tiefschlägen auf persönlicher Ebene und Verfahrenstricks dagegen sehr viel zu tun hatte (und hier ist Twesen nur ein letzer Mosaikstein) mögen auch auf Anstand bedachte Konservative nicht sehr.
Dazu ein unerträglich arroganter Habitus, der das Wahlergebnis vor 5 Jahren eher als "Betriebsunfall" abhakte - und nichts daraus lernte.
Die Union hat sich wirklich viel Mühe gegeben nicht zu gewinnen.
„Der Osten ist traditionell sehr rot...“
Dafür ist der Westen sehr schwarz.
Meine Frau kommt aus dem Emsland und als wir noch nicht zusammen waren fragte ich sie mal, wie ihre Heimat denn so ist.
„Bei der letzten Wahl kam die CDU auf 67%, das sagt eigentlich schon alles aus.“
Und ich dachte immer ich als Nordfriese wohne in einer CDU Hochburg.
Ich las heute eine Umfrage, bei der die CDU in Niedersachsen bei 30% liegt, die SPD bei 34,5%. Für beide das schlechteste Ergebnis dort seit 1959.
Eigentlich wünsche ich der SPD wegen der Agenda 2010 die Pest an den Hals, aber möglicherweise könnte es sogar sinnvoll sein, wenn die CDU die Landtagswahl verliert, denn dann steigt der Druck auf Merkel endlich eine halbwegs realistische Flüchtlingspolitik zu machen, anstatt fast jeden reinzulassen.
Ach ja, im Bund liegt die CDU aktuell beim Negativrekord von 31%, die SPD bei 21%. Bald würde es nicht mal mehr für eine große Koalition reichen.
http://www.wahlrecht.de/u...
"Bald würde es nicht mal mehr für eine große Koalition reichen."
Im Moment reicht die Sitzverteilung im Bundestag nicht mal für CDU+SPD (ohne CSU)
Weil macht seine Sache besser als Althusmann. Das kann man auch wie ich als politischer Gegner anerkennen.
Die Frage ist nur, welche Koalition daraus wird. RRG wäre wohl das vorzeitige Ende niedersächsischer Zukunftsfähigkeit.
Wäre doch schade drum...
Wegen der GRÜNEN?
"Huch, die SPD führt"
Sie hatte ja auch genug Schützenhilfe aus Berlin.
Zuletzt von Schäuble. Davor von Merkel.