In der Ölstadt Kirkuk weht jetzt wieder die irakische Fahne. Die kurdische liegt verdreckt im Staub. Hier, im Zentrum des Konflikts zwischen Bagdader Zentralregierung und kurdischer Region, lässt sich das Debakel des Unabhängigkeitreferendums besichtigen. Ihre Peschmerga-Kämpfer haben in der vergangenen Woche einen Großteil jener Gebiete geräumt, welche die verhasste Regierung in Bagdad beansprucht. Der Traum vieler irakischer Kurden vom eigenen Staat ist geplatzt. Nur ein fragiler, demütigender Frieden ist ihnen geblieben. Wie konnte es dazu kommen, dass sie so kurz vor ihrem Ziel scheiterten?
Gäbe es ein internationales Sympathiebarometer für Unabhängigkeitsbewegungen, stünden die Kurden auch im Westen ganz oben, weit vor Schotten oder Katalanen. Mit rund 30 Millionen Menschen – die meisten im Vierländereck Türkei, Syrien, Irak und Iran – sind sie das größte Volk ohne Staat. Die Geschichte ihrer Verfolgung ist lang. Ein eigener Staat, der sie vor der Gewalt anderer hätte schützen können, wurde ihnen nach dem Ersten Weltkrieg in Aussicht gestellt, doch unter den Interessen der Großmächte begraben. Der Traum von Kurdistan überlebte, und nie schien er näher als jetzt, nachdem sich die kurdischen Peschmerga als treueste Bodentruppen des Westens im Krieg gegen den "Islamischen Staat" bewährt haben.
Unabhängigkeit, glaubten viele, müsse der gerechte Lohn sein. Es kam anders.
Die Geschichte der Kurden ist eine Geschichte der gebrochenen Versprechen
"Ihr habt uns verraten!" So lautet ein Slogan der Demonstranten, die dieser Tage vor den Konsulaten westlicher Staaten in der Kurdenhauptstadt Erbil vorbeiziehen. So sieht es auch die dortige Elite um den amtierenden Präsidenten der Kurdischen Region, Massoud Barzani. Er war die treibende Kraft hinter dem Unabhängigkeitsreferendum Ende September.
Womöglich hätte sein Vorstoß funktioniert, wenn das Referendum in den Grenzen der seit 2005 offiziell anerkannten Kurdischen Autonomen Region stattgefunden hätte. Doch Barzani ließ auch in den Gebieten abstimmen, die kurdische Peschmerga erst danach unter ihre Kontrolle gebracht haben, im Krieg gegen den IS. Um 40 Prozent, so Schätzungen, hatten die irakischen Kurden ihr Territorium auf diese Weise vergrößert. Auch das multiethnische Kirkuk fiel darunter – doch mit seinen riesigen Ölfeldern ist es für Bagdads Wirtschaft unverzichtbar.
Die Grenzen des Iraks wurden einst von europäischen Kolonialmächten gezogen; heute gilt er vielen Beobachtern als Staat, der nicht weiterbestehen kann. Mit dem Ende der Diktatur Saddam Husseins 2003, so das Argument, sei auch die Zwangsjacke verschwunden, die Schiiten, Sunniten und Kurden zusammenhielt. Allerdings hat sich über die Jahrzehnte ein irakisches Nationalgefühl entwickelt. Nur so war es möglich, nach Saddams Sturz eine neue Verfassung zu formulieren. Alle Beteiligten, auch der Kurdenführer Massoud Barzani, bekannten sich zum Föderalismus. Mehr Macht für die Provinzen, ein unabhängiger Oberster Gerichtshof und ein Referendum in Kirkuk, in dem die Bewohner selbst entscheiden dürfen, unter welcher Verwaltung sie leben wollten – all das zählte zu den 2005 vereinbarten Verfassungsartikeln.
Die USA sicherten zu, ihre beträchtliche Macht für deren Umsetzung zu nutzen. Doch bald löste sich dieses Versprechen in Luft auf.
Als Barack Obamas entschied, den Fokus der US-Außenpolitik vom Mittleren auf den Fernen Osten zu verschieben, machte er den Weg frei für eine andere Ordnungsmacht. Ungebremst konnte der Iran in der Region expandieren. Erst der Krieg gegen den IS brachte die USA zurück in den Irak. Wahrscheinlich liegt hier Massoud Barzanis folgenschwerste Fehleinschätzung: Er wollte den Unabhängigkeitsprozess einleiten, bevor die USA sich nach der letzten Schlacht gegen den IS mit einem "mission accomplished" erneut verabschieden. Und er glaubte offenbar, dass Washingtons Allianz mit den Kurden die größten Gegner des Referendums – Bagdad und Teheran – von militärischen Schritten abhalten würde.
Kurden im Irak
War das also tatsächlich ein amerikanischer "Verrat"? Sicher nicht.
Sowohl die USA als auch die europäischen Staaten hatten Erbil ausdrücklich davor gewarnt, das Referendum auf umstrittene Gebiete auszudehnen. Im Gegenzug hatte Washington angeboten, eine Verhandlungsrunde über alle Streitpunkte zwischen Bagdad und Erbil einzurichten. Zu spät. Inzwischen sind die USA nicht mehr in der Lage, politische Akteure im Mittleren Osten zu irgendetwas zu zwingen. Diese Rolle hat seit dem kurdischen Referendum der Iran übernommen.
Hinter Teherans Expansion in den Irak und nach Syrien steht Qassem Suleimani, der Befehlshaber der Al-Quds-Einheit, die innerhalb der Revolutionsgarden für spezielle Auslandseinsätze zuständig ist. Es war Suleimani, der in Syrien mehrfach das Assad-Regime vor der militärischen Niederlage bewahrte und beim Blitzvormarsch des IS im Irak 2014 der völlig überforderten irakischen Armee zu Hilfe kam. Und es war offenbar Suleimani, der nach dem Unabhängigkeitsreferendum die wirksamste Waffe gegen die Kurden einsetzte: deren chronische Uneinigkeit.
Kommentare
Der zerstörte Traum eines Kurdenstaates liegt an der Feigheit des Westens inklusive Europa.
Erst die Kurden, also die YPG/Peshmerga feiern und als Kanonenfutter gegen die ISIS mißbrauchen, dann wie eine heiße Kartoffel fallen lassen, wenn sie ein harmloses Referendum durchführen. Ein Referendum, daß laut irakischer Verfassung schon längst hätte durchgeführt werden müssen (§140/Minderheitenrechte).
Die Kurden unter Barzani haben also nur das durchgeführt, was in der irakischen Verfassung steht. Das die Kurden gewagt haben ein Referendum durchzuführen, obwohl sie vom Westen/USA/Europa "gewarnt" wurden, finde ich MUTIG und es ist ihr GUTES RECHT. Der Westen kann nicht ständig von "Menschenrechten" faseln und gleichzeitig die Kurden, ein 40-Millionen-Volk betrügen und in den Rücken fallen. Die gesammelte westliche Welt, inklusive von der Leyen, Gabriel und Konsorten sollten sich für ihre Doppelmoral schämen!
An den Kurden zeigt sich die DOPPELMORAL des Westens in voller Blüte (leider)! Irak/Türkei werden nicht kritisiert, weil die NATO/USA diese Regimes noch braucht. Es sind "unsere" Diktatoren, da können auch gerne ein paar Kurden drauf gehen.
Frau Böhm hat wie viele andere Journalisten schlecht recherchiert. Kirkuk wie Mossul waren vorwiegend KURDISCH besiedelte Städte, bis S. Hussein Massaker beging (Anfal-Operation, 160.000 ermordete Kurden, u.a. mit deutschem Gas getötet).
Saddam hat Städte wie Kirkuk in den 80er arabisiert und Kurden systematisch vertrieben.
https://de.wikipedia.org/wik…
Einfach mal unter den Punkt "Bevölkerung" schauen, wenn ich das kann, kann das Frau Böhm sicher auch:
Kirkuk 1965: ca. 120.000 Einwohner davon
71.000 KURDEN!
Komisch, wie schnell Politiker dabei sind, Kurden in die Ecke zu stellen, obwohl sie die stärkste Kraft gegen ISIS sind und dermaßen gelitten haben.
Ich finde das geradezu erschreckend.
Entfernt. Bitte kommentieren Sie auf Deutsch oder Englisch. Danke, die Redaktion/cj
Man darf nicht auf kurdisch kommentieren?
Na gut, also noch mal auf deutsch: es lebe ein freies Kurdistan!
Wenn es den Kurden weiterhin an den Kragen geht, und der Irak bald auch in die offiziell den Kurden zugesprochenen Gebiete einfallen sollte, dann wird der dortige Widerstand vermutlich stark zunehmen. Es koennte zu einer Einkesselung der irakischen Amee kommen, fall die syrischen Kurden den irakischen Kurden zur Hilfe eilen.
Das Fenster zur Unabhaengigkeit ist noch nicht zu. Sehr viel Dynamik in den Geschehenissen, und das macht das Endergebnis schwer vorhersagbar.
Sehr unwahrscheinliches Szenario. So geeint sind die Kurden dann doch nicht und möchten selber erstmal Ruhe und Frieden.
Es ist schon bezeichnend, und fatal, gewesen, dass nur Israel sich zu einem unabhängigen Kurdistan bekannt hat.
Wer solche Freunde hat in der arabischen Region.
Von den Iranern, und ihrem Verhältnis zu Israel, gar nicht anzufangen.
Die syrischen Kurden sind gut beraten für ihre Gebiete die Formen einer späteren Autonomie innerhalb Syriens vorzubereiten. Soweit ich weiß war die Autonomie in den Astana-Verhandlungen Gegenstand und hat gute Aussichten auf Erfolg.
Das ist doch Unfug - zu so etwas kommt es nur, wenn Erdogan mitmacht. Ohne Nachschub durch die Türkei kann man einen Guerilla Krieg führen, aber keine operativen Umfassungsaktionen - und das auch noch gegen einen Gegner der Jets, Erdkampfflugzeuge, Kampfhubschrauber und Kampfdrohnen hat
"Es ist schon bezeichnend, und fatal, gewesen, dass nur Israel sich zu einem unabhängigen Kurdistan bekannt hat."
Sie sind desinformiert. Es waren Israel und dessen 'temporarily best friends' KSA.
Nur Israel?
Ich bin so stolz auf Israel!
Das wundert keinen wenn man Ihren Schreibstil und Ihre Art interpretiert ...
"Gescheitert" sind die Kurden vor allem an ihrer Maßlosigkeit, aufgestachtelt durch den Willen Washingtons und Tel Avivs, ein Greater Kurdistan als Pufferzone und Startrampe gegen den Iran zu installieren. Folgerichtig muß die Autorin dann auch das transatlantische Lied vom expandierenden supergefährlichen Iran anstimmen.
Daß am Ende dieser Eskalation - wie in Syrien - weitere Migrationsströme stehen, scheint Frau Böhm nicht weiter zu stören. Offenbar übt die "kreative Zerstörung" des Nahen Ostens immer noch große Faszination auf einige Journalisten aus.
Es sollte nicht vergessen werden, dass die kurdische Minderheit im Iran noch ein weiteres, geeignetes operatives Element darstellt, auch den Iran in den nahöstlichen Auflösungsprozess einzubeziehen.