Stephan Radzanowski beginnt um 6.30 Uhr seinen Notfalldienst im Krankenhaus. Er versorgt Schnittwunden, legt Verbände an, lässt Röntgenbilder erstellen, weist jüngere Kollegen ein, schreibt Berichte – und bleibt bei einem Patientenansturm auch mal bis Mitternacht. Das klingt so anstrengend, wie es ist. Trotzdem ist Radzanowski glücklich. "In Deutschland ist es doch genauso", sagt der 30-Jährige, der Chirurg werden will, "nur schreibt da niemand die Überstunden auf. Hier kann ich sie später wenigstens abfeiern."
Mit "hier" meint der junge Assistenzarzt Zofingen im Kanton Aargau. Das liegt in der Schweiz, seiner neuen Heimat, über die er sagt: "Mir gefällt es super hier." Zurück nach Deutschland will er nicht mehr.
8.000 deutsche Ärzte arbeiten in Schweizer Praxen und Kliniken
Mit dieser Begeisterung ist er nicht allein. 1.187 deutsche Medizinstudenten haben sich im vergangenen Jahr dazu entschieden, an Schweizer Universitäten zu studieren. Dazu kommen laut Bundesamt für Statistik noch einmal 8.000 Ärzte in Praxen und Kliniken.
Ein Verlust für Deutschland und ein Gewinn für das Nachbarland. Medizinische Fachkräfte werden in beiden Ländern gesucht. Die Bundesagentur für Arbeit meldet im vergangenen Jahr 1.943 offene Stellen für Ärzte in Deutschland, 2.050 Ärzte haben das Land im selben Jahr verlassen. Laut der
Ärztestatistik 2016
ging knapp ein Drittel von ihnen in die Schweiz, dem mit Abstand beliebtesten Auswandererland deutscher Mediziner. Ohne die deutschen Ärzte wäre die medizinische Versorgung in der Schweiz inzwischen gefährdet – zu viele Mediziner gehen in Pension, zu wenig Nachwuchs wird ausgebildet. Die Daten des schweizerischen Bundesamts für Gesundheit zeigen: Der Anteil deutscher Ärzte in den Krankenhäusern beträgt inzwischen 25 Prozent.
Ärzte schätzen die guten Arbeitsbedingungen in der Schweiz, die geringere Bürokratie und die höheren Gehälter
Für das deutsche Gesundheitssystem sind das alarmierende Zahlen: Wie schlecht müssen die Bedingungen während des Studiums und später in den Kliniken sein, dass so viele angehende Ärzte in die Schweiz gehen? Allein die Möglichkeit, Überstunden abzufeiern, kann es nicht sein. Ärzte schätzen die guten Arbeitsbedingungen in der Schweiz, die geringere Bürokratie und die höheren Gehälter.
Das gilt schon für das Praktische Jahr am Ende des Studiums. Die Schweiz honoriert die jungen Ärzte, Deutschland dagegen meistens nicht. Von etwa 700 Ausbildungskliniken in Deutschland zahlen laut einer Auswertung der Bundesärztekammer aus dem vergangenen Jahr 112 Einrichtungen den Studenten im Praktischen Jahr kein Gehalt. Das ist vor allem für die Studenten bitter, die keine wohlhabenden Eltern haben. Stephan Radzanowski entschied sich auch deshalb für einen Aufenthalt in der Schweiz: "Meine Eltern sind beide Krankenpfleger, da steht kein Goldesel zu Hause, der das Geld für das Studium druckt."
Studenten, die Bafög bekommen, jobben normalerweise während des Studiums, um sich ihren Lebensunterhalt zu finanzieren. Während des Praktischen Jahres ist das nicht mehr möglich, da "PJler" schon meistens mehr als die regulären 40 Stunden pro Woche arbeiten müssen.
Die Bundesärztekammer fordert, genauso wie die Bundesvertretung der Medizinstudenten, eine bundesweit geregelte Aufwandsentschädigung während des Praktischen Jahres, die dem Bafög-Höchstsatz entspricht. Dieser liegt aktuell bei 735 Euro, das ist nicht einmal die Hälfte des Mindestlohnes. "Angemessen wäre eine Entlohnung in Höhe eines Referendargehalts", sagt der Präsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery. "Wir haben das Dilemma, dass Leute aus wohlhabendem Hause sich das Medizinstudium eher leisten können."
Kommentare
Als Medizinstudent, der das Praktische Jahr direkt vor sich hat, kann ich sagen, dass die Schweiz derzeit mein Favorit für das spätere Arbeiten ist. Ein Tertial meines PJs werde ich dort ebenfalls absolvieren. Die in dem Artikel aufgezählten Vorzüge sind nicht zu verachten: Bessere Bezahlung (weniger Budgetierung), weniger Bürokratie (vielleicht eines der überzeugendsten Argumente) und ein Gesundheitssystem, das sinnvollerweise mehr auf die Selbstverantwortung der Versicherten setzt. Solange hier in Deutschland weder etwas an der Ausbildung, Bezahlung oder den Arbeitsverhältnissen der Ärzte getan wird, werden weiterhin die gut und teuer ausgebildeten Studenten andere Länder für Ihre Zukunft wählen und das mit Recht.
Sind die Gehälter wirklich soviel höher könnte mir vorstellen das ein Artzt der in Schleswig-Hollstein nach TV-Ärzte/VKA arbeitet unterm Strich mehr Kaufkraft hat als in Zürich wo eine Lieferpizza 25 Euro kostet?
Attraktiv ist Deutschland vor allem für schlecht oder gar nicht Ausgebildete, die kommen in großer Zahl.
Die gute Ausgebildeten gehen eher weg, in die Schweiz, nach Österreich, Norwegen, Kanada, USA usw. Aber selbst die Tatsache, dass in Südeuropa Millionen gut gebildeter junger Europäer arbeitslos sind, hat nicht dazu geführt, dass "wir" unseren Fachkräftemangel lösen können. Offenbar ist es für die attraktiver in Südeuropa arbeitslos zu sein, als nach Deutschland zu gehen und einen Job anzunehmen. Woran liegt das?
Deutschland wird auf Verschleiß gefahren, ich neige sogar immer mehr dazu, Sarrazin zuzustimmen wenn er sagt, "Deutschland schafft sich ab".
Ich allein kenne eine Menge Spanier und Italiener, die während der Krisen ihrer Länder hierher gekommen sind und jetzt hier gut qualifizierte Jobs haben, meist im technischen Bereich.
Aber danke für ihre 9 Zeilen Blödsinn.
Ich kenne mittlerweile zwei Ärzte aus Bulgarien und Rumänien, die aus ähnlichen Gründen nach Deutschland gekommen sind. Übrigens gute Ärzte. Die fehlen dann in ihrer Heimat. Der Markt regelt das eben. Und die Schweiz steht da besser als Deutschland. Das wiederum besser als Osteuropa (siehe Demos in Polen). Wir sind in Puncto Medizinbereich nur Mittelmaß.
Unsere Ausbildung ist nach wie vor großartig und wenn man halbwegs fit im Kopf ist und den richtigen Leuten zuhört immer auf dem aktuellen Stand der Medizin. Unser System als Ganzes ist auch noch weit über Mittelmaß aber die Richtung ist die falsche, das stimmt.
Wäre ich nicht schon alt, würde ich mit meiner Praxis sofort in die Schweiz gehen. Wer keine 0,9 im Abi hat oder jahrelang warten kann, muß als junger Deutscher in Österreich oder Ungarn Medizin studieren, mit hohen Kosten, während in deutschen Krankenhäusern (und manchen Praxen) radebrechende ausländische "Ärzte" ihr Werk verrichten. Jede Azubine im ersten Lehrjahr bekommt Lehrlingsvergütung, jeder Flüchtling scheint mehr wert zu sein, Heilpraktiker dürfen praktisch aufwandslos herumquacksalbern - unser Land verkommt zum Irrenhaus.
Sehr praktisch ist der Standort Freiburg. Dort studiert man Medizin, zum PJ dann kurz rüber in die Schweiz.