Auf der Bahre der Ermittlerin Kim Fallon lag wieder einmal eine nackte weiße Frau von Anfang vierzig. Fallon hatte schon die Angehörigen befragt und erfahren, dass die Frau bis vor Kurzem als Verkäuferin gearbeitet hatte. Ihr Freund hatte sie in ihrer Wohnung gefunden. Nun streifte sich die Ermittlerin Gummihandschuhe über, sah sich die Arme der Toten an, die Fußgelenke, die Zähne, aber nichts Auffälliges war zu erkennen. Der Körper machte einen sauberen, gesunden Eindruck. Eine kleine Tätowierung, die schmale Narbe einer Rückenoperation. Alles sah unverdächtig aus. Und wenn alles unverdächtig aussieht, hat Kim Fallon einen Verdacht.
Seit zwölf Jahren arbeitet Fallon, 61, als forensische Ermittlerin in der Gerichtsmedizin des Bundesstaates New Hampshire, ganz im Nordosten Amerikas. Im vergangenen Jahr hat sie 485 Drogentote untersucht, und es hört nicht auf: Um 140 Prozent ist die Zahl der Drogenopfer in New Hampshire seit 2011 gestiegen – seit jenem Jahr, in dem Fallon begann, jedes einzelne Opfer in eine Statistik einzutragen.
Auch nach der Obduktion der toten Verkäuferin, als das Ergebnis der Blut- und der Haarprobe eingetroffen war, öffnete Kim Fallon am Computer ihre Statistik und vermerkte den neuen Fall in ihrer Tabelle. Wieder einmal hatte ihr Gefühl nicht getrogen: Auch diese Frau war an der Überdosis eines opiumähnlichen Mittels gestorben.
Wenige Tage nach der Obduktion der Verkäuferin hat der Bürgermeister von Nashua die Ermittlerin Kim Fallon, die Chronistin der Drogenepidemie, zu einem Krisentreffen eingeladen. Vertreter von Polizei und Feuerwehr, Ärzte und Sozialarbeiter sollen auch da sein.
Als Schauplatz einer solchen Krisensitzung würde man eine amerikanische Großstadt vermuten. Man kennt das ja: Kriminalität, Gewalt, Drogen. Doch das Treffen findet in einer idyllischen Kleinstadt statt, die sanft zwischen grünen Hügeln und zwei Flüssen eingebettet ist.
Nashua war einmal ein wichtiger Standort für die amerikanische Textilindustrie. Nach der Abwanderung der Stofffirmen und Nähereien hat sich der Ort als Schlafstadt neu erfunden, vor allem für Angestellte der Technologie-Industrie im 70 Kilometer entfernten Boston. 1987 und 1997 wurde Nashua vom Magazin Money zum lebenswertesten Ort der USA gekürt – die einzige Stadt Amerikas, der diese Ehrung zweimal zuteilwurde. Die Arbeitslosenrate liegt zurzeit bei nur 2,7 Prozent, Immobilien sind vergleichsweise preiswert, die Steuern niedrig, die Schulen gut. Es gibt Restaurants für anspruchsvolle Gäste und eine große Kunstszene. Trotzdem ist Nashua auf der Liste der lebenswertesten Orte zuletzt auf Platz 16 abgerutscht. Der Grund: die Toten der Ermittlerin Kim Fallon. Und die Geschichten dahinter.
Nashua ist zum Symbol einer Epidemie geworden, die mit dem herkömmlichen Bild eines Drogenproblems nicht viel zu tun hat. Sie macht weder vor Wohlstand noch vor Bildung halt und hat längst ganz Amerika befallen. 64.000 Tote zählten Ermittler wie Kim Fallon 2016 in den USA, zwischen 2000 und 2015 ist eine halbe Million Amerikaner an einer Überdosis von Opioiden gestorben. Das sind mehr Menschen, als durch Autounfälle ums Leben kamen. Während in den meisten westlichen Nationen die durchschnittliche Lebenserwartung steigt, sinkt sie in den Vereinigten Staaten.
Donald Trump glaubt, dass an alldem mexikanische Drogendealer schuld sind sowie die Schwäche jedes einzelnen Abhängigen. Im Herbst hat der Präsident den Gesundheitsnotstand ausgerufen und eine große Werbekampagne angekündigt, die den Menschen helfen soll, Nein zu Drogen zu sagen.
Bisher ist von der Kampagne nichts zu sehen. Aber Kim Fallon glaubt ohnehin nicht an Trumps Erklärungen. So wenig, wie sie daran glaubt, dass man den Toten die Schuld an ihrem Schicksal geben kann.
Sie sagt, die meisten Drogenopfer, deren Tod sie untersucht habe, hätten ihre Opioide beim ersten Mal überhaupt nicht bei einem Dealer gekauft. Es ist nicht so, dass sie verführt wurden, jedenfalls nicht auf die klassische, klischeebeladene Art, in einer Disco oder dunklen Gasse. Die Menschen haben die Drogen von ihrem Hausarzt verschrieben bekommen, als Schmerzmittel. Weil ein Knie wehtat oder eine Schulter. Oder der Rücken, wie bei der toten Verkäuferin mit der Operationsnarbe. So fing es an. Und irgendwann konnten sie nicht mehr aufhören.
Opioide sind Arzneimittel. Substanzen, die Schmerz lindern, dämpfen, beruhigen. Nimmt man viel davon, entfalten sie eine morphiumähnliche Rauschwirkung: auf Euphorie folgt ein Gefühl des inneren Friedens. Bei einer Überdosierung kann es zu Atemlähmung und Ersticken kommen. Deshalb fallen opioidhaltige Schmerzmittel unter das Betäubungsmittelgesetz. Die Gefahr der Abhängigkeit ist hoch. In New Hampshire werden dennoch pro 100 Einwohner jedes Jahr 72 Rezepte für opioidhaltige Schmerzmittel verschrieben. 97,5 Millionen Amerikaner konsumieren solche Mittel laut der staatlichen Suchtbehörde regelmäßig. Das sind mehr Menschen, als es in den USA Raucher gibt.
Wie kann das sein – erträgt die amerikanische Gesellschaft keine Schmerzen mehr? Warum betäubt sie sich? Aus Bequemlichkeit? Verzweiflung?
Kommentare
Moin,
danke für den interessanten Artikel!
"Eine wissenschaftliche Studie musste Purdue dazu nicht vorlegen. Die Pharmavertreter machten aus der Theorie eine Gewissheit."
Dazu zwei Anmerkungen, in meinen Augen müsste ein Hersteller für solche Werbungen Belege vorlegen. Das deutsche Arzneimittelgesetz ist da afaik auch deutlich härter als das US amerikanische ob sowas abgedeckt ist weiss ich aber nicht. Die andere, ich bin mir nicht sicher ob man da von Theorie sprechen oder nicht eher Arbeitshypothese nutzen sollte. ;-)
"Das Opioid, von dem in den Vorträgen die Rede war, heißt Targin. Es wird von Mundipharma hergestellt. Die Firma war Hauptsponsor des Projektes "Schmerzfreie Stadt Münster". "
Ich hab immer gerne für die Pharmariesen gearbeitet aber deren Lobbyismus und korruptionsähnliches Benehmen ist manchmal einfach nur zum Kotzen. Warum lassen die Ärzte sich eigentlich schon wieder mit dem gleichen Dreck an der Nase rumführen? Haben die alle die Skandale nicht mitbekommen?
Ich behandle seit 25 Jahren opiatabhängige Patienten mit Methadon und anderen Substitutionsmitteln. Dadurch kenne ich hunderte von solchen Biografien - und keine einziger (!) wurde durch verschriebene Schmerzmittel abhängig.
Richtig indiziert, nur in der notwendigen Menge verordnet und nicht "nach Bedarf" eingenommen, machen Opioide möglicherweise körperlich abhängig, aber nicht "süchtig".
In den USA kostet jeder Arztbesuch sehr viel Geld - und die Medikamente sind auch sehr teuer. Die zur Suchtvermeidung wichtige regelmäßige Einnahme ist für US-Bürger schlicht unerschwinglich.
Und noch etwas: Die ungezählten Herz-Kreislauf-Todesfälle durch konventionelle Schmerzmittel wie Ibuprofen, Diclofenac etc. bei uns halten den Opiattoten in den USA sicher die Waage. Vor 800.000 Sterbefällen in Deutschland entfällt jeder zweite auf Herz-Kreislaufkrankheiten - wenn nur jeder 10. davon im Zusammenhang mit der Einnahme von NSAR steht, sterben an den zum Teil rezeptfrei erhältlichen Schmerzmitteln bei uns mehr Menschen als in den USA an Opioiden... und dort sind die meisten NSAR nicht erhältlich oder werden nicht verschrieben.
Eh... was?! Ist das Ihr Ernst?
Also was heisst "machen Opioide möglicherweise körperlich abhängig, aber nicht "süchtig"." -- bitte was ist denn koerperliche Abhaengigkeit dann? Und nach meinem Wissen ist eine koerperliche Abhaengigkeit bei Oxycontin und Co. schnell so schlimm, dass ein ploetzliches Absetzen zum Tod fuehren kann. Selbst bei den uns verschriebenen Medikamenten (die in der Palliativmedizin benutzt werden) steht in der Packungsbeilage, dass selbst bei den vorgeschriebenen, niedrigen Dosen eine Abhaengigkeit nicht auszuschliessen ist.
Und als letztes (ich kann nichts zu den von Ihnen genannten Zahlen sagen, ausser das mir "sterben an den zum Teil rezeptfrei erhältlichen Schmerzmitteln bei uns mehr Menschen als in den USA an Opioiden" sehr falsch vorkommt) - was ist das fuer ein Quatsch, dass es die meisten NSARs nicht erhaeltlich seien?! Natuerlich werden sie nicht verschrieben, da sie alle nicht rezeptpflichtig sind. Und waren Sie schonmal in einem amerikanischem Drug Store und haben die Packungsgroessen von Ibuprofen und Aspirin gesehen? Packungsgroessen von 200 - 1000 Stueck (!) sind da normal und hat oft jeder zu Hause herumstehen.
Ich habe mit Schmerzmitteln praktisch nichts zu tun (bis auf vielleicht 1-2 Paracetamol im Monat) und ich bin sicher, dass was Sie schreiben stimmt. So wie ich den Text verstehe, war das in den USA bis vor 20 Jahren auch so (also kaum Drogenkarrieren ausgehend von verschriebenen Medikamenten). Dann kam das Marketing, das insbesondere den Respekt vor den Opioiden abbaute und sie wurden nicht mit der noetigen Sorgfalt eingesetzt und waren so verbreitet, dass Teenager in Krisen sie ihren Verwandten klauen und so in eine Opiatsucht rutschen konnten.
Ich glaube kaum jemand bezweifelt ernsthaft, dass Opioide bei korrekter Verwendung und mit entsprechendem Respekt ein Segen sind. Vielleicht koennen wir uns darauf einigen, dass kein Schmerzmittel (weder Opioide noch "konventionelle") fuer harmlos gehalten werden darf. Neulich las ich diesen Artikel: http://www.zeit.de/wissen...
der auf seine Art genauso zu denken gibt. Demnach wird hierzulande schon laenger Ibuprofen fast als Allheilmittel angepriesen und diese Kampagne hatte wohl auch eine entsprechende Wirkung. Und das halte ich auch fuer den Kernpunkt des Artikels: Nicht Medikamente auf Opioidbasis sin Teufelszeug, sondern die Werbekampagnen, die den Konsum auf eine Stufe mit dem morgendlichen Kaffee stellen: ein kleiner Boost, damit man besser ueber den Tag kommt, aber sonst nicht der Rede wert. Das ist bei jedem Schmerzmittel verantwortungslos.
Ich nutze IBU schon länger aber nur wenn ich auch starke schmerzen habe. Der gesamte Umgang mit Schmerzmitteln ist zu kritisieren, Schmerz gehört zum Leben dazu, das sollte man auch als Patient einsehen. Wenn etwas nicht in Ordnung ist dann muss man etwas ändern, meist meldet sich der Körper früh genug wenn etwas nicht stimmt, wird zu häufig ignoriert und es wird weitergemacht wie bisher bis die Schmerzen immer stärker werden - ich denke hier liegt der größte Fehler und wenn es soweit ist zeigt die Werbung die wunderbar einfache Lösung... Egal ob Aspirin oder sonstwas. Werbung trifft einen nur wenn Sie einen auch anspricht.
Bei ihren Konsum würde ich mir ehrlich gesagt schon Gedanken machen ob es zu viel ist - kommt natürlich auch auf das Alter drauf an. Hab in den letzten 15 Jahren insgesamt 1 Packung Ibuprofen gegessen und bin jetzt 29. Ich hoffe das es so bleibt.
"die USA betäuben sich zu Tode"....sind wir hier bei Bild.de?
nicht jeder der mal Schmerzmittel nimmt stirbt daran.
Das behauptet weder die Überschrift, noch die 7 darauf folgenden Seiten. Das sie die Überschrift zitiert haben, vermute ich, dass sie zumindest dieses gelesen haben. Wenn sie den Rest gelesen haben, würden sie vielleicht sogar die Überschrift für treffend halten -- auch oder weil auch dort ihre unterstellte Aussage "jeder der mal Schmerzmittel nimmt stirbt daran." nicht und nichtmal im Ansatz erkennbar ist.