Wer in diesen Tagen einen Parteitag abhält, wie am kommenden Wochenende die Grünen, sollte sich warm anziehen. Denn das Parteiensystem ist im Umbruch – man könnte mit ein wenig Freude an der Dramatik auch sagen: Es kollabiert. Die alles und alle in sich aufnehmende Ära Merkel geht erkennbar zu Ende, die CDU würde darum gern wieder ein bisschen mehr rechts sein, ohne genau zu wissen, wie das gehen soll; die FDP tastet sich, zögerlich noch, auf nationalliberales Terrain vor; die SPD ist dabei, ihren Status als Volkspartei vollends einzubüßen, und hat jedwede Richtungsgewissheit verloren; die Linkspartei ist zutiefst gespalten, manche wollen die Partei in eine imaginäre linke Sammlungsbewegung überführen; selbst die AfD verhält sich ganz anders als erwartet, denn statt sich nach ihrem Einzug in den Bundestag zu normalisieren, rückt sie auf etwas chaotische Weise noch weiter nach rechts.
Ganz offensichtlich hat das politische System viel von seiner jahrzehntelang beinahe perfekt funktionierenden Zentripetalkraft verloren, die Kräfte fliehen nicht mehr zum Zentrum, und immer öfter werden Wahlen nicht mehr in der mythischen Mitte gewonnen, sondern an den Rändern verloren. Damit büßt ein vormals mächtiger Mechanismus rapide an Wirksamkeit ein, der bislang noch immer – unter tatkräftiger Mithilfe der Öffentlichkeit – in allen Parteien die jeweiligen "gemäßigten" über die "radikalen" Kräfte obsiegen ließ. Stets waren die Medien fasziniert von den Fundis und den Radikalen, favorisiert haben sie zuverlässig die Gemäßigten. Tatsächlich erhöhte politische Mittigkeit in aller Regel auch die Chancen auf Machteroberung, eine Ur-Erfahrung, die keiner Partei so sehr eingeschrieben war wie der SPD. An ihr zerbricht diese Wahrheit nun auch, Mäßigung, Staatspflicht und Selbstverleugnung führen bei ihr vor aller Augen tiefer und tiefer in den Niedergang. (Wohin der Bruch mit dieser Logik führen würde, weiß indes noch niemand.)
Und die Grünen? Werden sie zur ewigen Oppositions- oder doch endlich zur Volkspartei? Eine Antwort darauf soll der in Hannover stattfindende Parteitag der Grünen geben, bei dem vordergründig ein neuer Bundesvorstand gewählt wird, zugleich aber eine strategische Entscheidung getroffen werden muss.
Auch für die Grünen hat sich in den Monaten seit der Bundestagswahl sehr viel geändert. Zum einen ist der Fluch der scheinbaren grünen Hegemonie von ihnen genommen. Jetzt, da die Ära Merkel zu Ende geht, ist umso besser zu erkennen, welche Verschattung diese Frau für die Grünen bedeutet hat. Weil Angela Merkel ökologisch und flüchtlingspolitisch relativ grüne Politik zu machen schien, konnten die Grünen gegen sie nur schwer opponieren.
Infolgedessen wurden sie als eine Mitregierungspartei wahrgenommen, ohne jedoch auf die Regierungspolitik Einfluss nehmen zu können. Und weil die Grünen nie mitregierten, hat Merkel nicht etwa eine abgeschwächte grüne Politik gemacht, sondern eine falsche. Ihre Energiewende aus Anlass von Fukushima war überraschend, disruptiv, schlecht erklärt und in der EU kaum vermittelt. Und warum? Weil Merkel und die mit ihr regierende FDP zunächst mal die von den Grünen in Gang gesetzte allmählichere, berechenbare Energiewende gestoppt hatten. Genauso verhielt es sich beim Thema Flüchtlinge: Hätten die Grünen tatsächlich mitregiert, dann hätte eine Bundesregierung das Thema kaum so lange ignoriert, um dann in der Stunde der Not eine 180-Grad-Wende zu vollziehen – wiederum überraschend, disruptiv und europäisch schlecht vermittelt. Diese Liste ließe sich fortsetzen, die Logik ist immer dieselbe: Die Grünen wurden für die schein- oder schlechtgrüne Politik einer Merkel-Regierung mit in Haftung genommen, während man ihnen unterstellte, sie wollten dasselbe wie Merkel, nur noch disruptiver und extremer. Die Grünen waren also im Verschiss für eine Politik, die sie nicht gemacht haben. Kein Wunder, dass viele glaubten, die Partei könnte bei der Bundestagswahl dafür bestraft werden und in der Nähe der Fünfprozenthürde landen.
Seither hat sich die grüne Lage drastisch verbessert. In den Jamaika-Sondierungen lag nicht mehr einfach der Schatten Merkels auf den Grünen, vielmehr traten sie ihr als Verhandler gegenüber und konnten so endlich die Differenz markieren. Sofort wurde klar: Die ökologische Lage des Landes war schlechter, als es schien, die klimapolitische Leistung der Merkel-Regierungen war ziemlich schwach, kurzum: Es macht einen gewaltigen materiellen Unterschied, ob die Grünen nur gefühlt mitregieren – oder real. Zugute kommt den Grünen derzeit auch, dass ökologische Themen wieder mehr ins Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit rücken.
Heißt von Kretschmann lernen siegen lernen? Robert Habeck sieht das etwas anders
Entsprechend liegt die Partei in den Umfragen momentan bei zwölf Prozent, drei Punkte höher als bei der Bundestagswahl. Und das muss noch lange nicht das Ende sein. Denn noch sitzt Angela Merkel ja im Kanzleramt, die Nach-Merkel-CDU ist noch nicht wirklich hervorgetreten, die grünen Leihstimmen an die Schwarzen konnten noch nicht samt und sonders zurückgeholt werden; junge, ökologisch geneigte Wählerinnen und Wähler, die wohl einen gewissen Ennui gegenüber den Grünen entwickelt hatten und sich bei Merkel besser aufgehoben fühlten, sind noch nicht gewonnen. Ein weiterer Faktor hat sich bisher kaum ausgewirkt: Der Niedergang der SPD scheint seinen Tiefpunkt noch nicht erreicht zu haben, doch tut die Partei einiges, um dorthin zu kommen. Deutlicher als je zuvor scheint darum nun auch im Bund als Möglichkeit auf, was bisher nur in Baden-Württemberg geschehen ist: der Platzwechsel zwischen SPD und Grünen, mithin die Verwandlung der Grünen in eine kleine Volkspartei.
Kommentare
"Heißt von Kretschmann lernen siegen lernen? "
Dem kann ich als Baden-Württemberger nur zustimmen! Herr Kretschmann wird in BaWü fast schon überparteilich als integrer und pragmatischer "Landesvater" geschätzt, der einen soliden schwäbischen Realitätssinn besitzt. Er wäre der Letzte, der aus ideologischer Glaubensinbrunst das Auto- und Technologieland Baden-Württemberg "um der reinen Lehre" willen demontieren würde, im Glauben, dass Wohlstand (und da geht es uns Schwaben "saugut") "nachhaltig" in einem deindustrialisierten Fahrradparadies auf Ökohöfen zu züchten wäre.
Ich glaube nicht, dass es ein Zufall ist: Der beinahe einzige unideologische Bundespolitiker der Grünen, Cem Özdemir, ist auch ein Schwabe.
Mit den grünen Schwaben wäre Jamaika gegangen, so gut und vorzeigbar, wie Grün-Schwarz im "Ländle" geht. Mit den Hofreiters, Trittins, Roths, ... wohl kaum.
Genau das aber ist das Problem der Grünen im Ländle. Hinter Kretschmann gibt`s kaum jemand, der im Stande wäre, ihn zu ersetzen. Cem Ö. bleibt in Berlin, Boris Palmer ist an der Grünen-Basis kaum zu vermitteln. Von einem Herrn Salomon (OB von Freiburg) sieht und hört man nichts mehr. VM Hermann ist allenfalls eine Lachnummer, taugt keinesfalls als MP. Und wie heißen nochmal die anderen Grünen-Minister der Landesregierung in Stuttgart? MaW: fällt Kretschmann weg, war es das mit den Grünen in BaWü. Deswegen muss Kretschmann beim nächsten Mal wieder antreten.
Erbracht die radikale ökologische Wende, die sich aus der Sache ergibt. Tatsächlich sollte man die überholten links-rechts-Spielchen in die Mottenkiste der Geschichte packen.
Wenn früher links war, als starker Staat die Schwachen zu stützen - mit dem Kollateralschaden einer überbordenden Bürokratie, so sollte künftig der Fokus auf kleinteiligere, autonome Einheiten im Kulturellen wert gelegt werden, die frei von Staat und Kirche genossenschaftlichen oder vereinsrechtlich organisiert dennoch sehr sozial aktiv sein können und müssten.
Der inzwischen sehr gebildete und selbständig gewordene Bürger braucht diese frieren Felder, da sich nur dort Kreativität entfalten kann. Der Staat setzt und kontrolliert die Rahmenbedingungen das reicht.
Die Grünen können und sollten Volkspartei werden, doch ihre Vorstellungen von Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben sollten konkreter werden und können ohne Abgrenzungen nicht funktionieren.
Boris Palmen statt Claudia Roth in der Flüchtlingspolitik wäre unerlässlich, um in der Realität anzukommen. Volkspartei wäre dann möglich.
https://www.welt.de/polit...
Korrektur, 1. Wörter: „Unerlässlich ist“ statt „erbracht“
Sich in Sachen Umweltpolitik gegen die Ansichten der Mehrheit zu stellen ist nicht radikal, sondern rational. Die sog. "Mitte" lebt und propagiert eine Umwelt-Ideologie, die nicht nur der Gipfel der Unvernunt ist, sondern in absehbarer Zeit zu globalen Katastrophen führen wird, welche auch das hiesige Soziagefüge in Stücke reißen werden. Aber das interessiert nicht, solange der Tank voll ist. Solange die Musik spielt, wird weiter auf dem Pulverfass getanzt.
Inwiefern wird "das hiesige Sozialgefüge" davon "in Stücke" gerissen?
das wird der springende Punkt sein. Diesen Teil der Bedrohung müssten die Leute auch verstehen, sonst wird daraus kein 20%-Projekt.
" An der Macht auch Schuld auf sich zu laden, davor scheut Kretschmann sich, anders als viele Linke in allen drei linken Parteien, keineswegs, im Gegenteil: Macht stellt für ihn nicht den Gegenpol zur Moral dar, sondern ihren Anwendungsfall"
Ich finde, dieser Satz widerspricht sich selbst. Gerade weil Kretschmann die Moral durch Pragmatismus ersetzt, ist er so erfolgreich und deshalb lädt er auch öfters Schuld (gemessen an der Moral) auf sich.
Das sieht der Autor genauso. Sie haben keinen Dissens. Wenn Sie den zitierten Satz um den eingeschobenen Nebensatz bereinigen, wird's klarer:
"An der Macht auch Schuld auf sich zu laden, davor scheut Kretschmann sich keineswegs, im Gegenteil:"