Der Weg in die Filmgeschichte führt hinaus in die Wüste. Etwa 50 Meilen nördlich von Los Angeles erreichen wir die Soledad Canyon Road. Lautlos öffnet sich das elektrische Tor. "Willkommen im Shambala-Reservat!", ruft Tippi Hedren. Der zierliche Hitchcock-Star trägt hochgestecktes Haar und hat goldene Fingernägel. Sofort versteht man, weshalb Alfred Hitchcock von ihr fasziniert war und sie – genau wie Grace Kelly – als unnahbare Blondine einsetzte. Immer noch verströmt Hedren diese Coolness, in die sich alle Phantasmen hineinprojizieren lassen. Hinter dem einstöckigen einfachen Haus erstreckt sich das Lebenswerk der 87-Jährigen: ein weitläufiges, mit Käfigen überbautes Areal. Tippi Hedren lebt mit rund 50 Löwen, Panthern, Tigern und Geparden zusammen, die von Zoos oder privaten Eigentümern verstoßen wurden. Ihre mexikanische Haushälterin Rosa kocht Kaffee, und wir nehmen in bequemen Ledersesseln Platz. An den Wänden hängen Fotos von Hedrens Tochter, der Schauspielerin Melanie Griffith. Daneben Kinderzeichnungen ihrer Enkelin Dakota Johnson, bekannt durch die "Fifty Shades of Grey"-Verfilmungen. (Das Gespräch mit Tippi Hedren wurde vor einigen Monaten begonnen und in diesen Tagen zu Ende geführt.)
DIE ZEIT: Mrs. Hedren, was empfinden Sie, wenn Sie den Namen Alfred Hitchcock hören?
Tippi Hedren: Dankbarkeit und Abscheu. Respekt und Fassungslosigkeit.
ZEIT: Dankbarkeit wofür?
Hedren: Nachdem Hitchcock mich 1961 in einem Werbespot gesehen hatte, beschloss er, mir die Hauptrolle in seinem Film Die Vögel zu geben. Ich war damals ein erfolgreiches Model, aber keine Schauspielerin. Gerade geschieden, war ich allein mit meiner Tochter Melanie von New York nach Los Angeles gezogen. Die Nachricht, dass ein so berühmter Regisseur mit mir arbeiten wollte, war ein Schock. Hitchcock und seine Frau Alma begleiteten mich durch die Probeaufnahmen, sie arbeiteten mit mir an der Rolle, unterstützten mich.
ZEIT: Während der Dreharbeiten zu Die Vögel begann Hitchcock, Ihnen sexuelle Avancen zu machen.
Hedren: Das ist sehr fein ausgedrückt.
ZEIT: Wie würden Sie es sagen?
Hedren: Er belästigte mich rücksichtslos.
ZEIT: Haben Sie irgendjemandem auf dem Set davon erzählt?
Hedren: Das brauchte ich nicht, es war jedem klar. Ich wollte auch gar nicht verbergen, dass ich mich Hitchcocks Annäherungen entziehen musste.
ZEIT: Wusste Hitchcocks Frau Alma davon?
Hedren: Sie sprach mich sogar darauf an. Sie sagte: "Es tut mir so leid, dass Sie das durchmachen müssen." Ich blickte sie fassungslos an und sagte: "Sie könnten ihn davon abhalten." Aber alles drehte sich um ihn, den Meister. Man ließ ihm alles durchgehen.
ZEIT: Immerhin wiesen Sie ihn ab.
Hedren: Dafür musste ich einen hohen Preis zahlen. Nachdem ich mich immer wieder gegen Hitchcock gewehrt hatte, drehten wir die Szene, in der ich von den Vögeln angegriffen werde – über fünf Tage hinweg. Eigentlich sollten mechanische Vögel verwendet werden, aber dann entschloss sich Hitchcock, mit echten Tieren zu arbeiten. Am Ende der Szene liege ich auf dem Boden vor der Tür, und die Vögel attackieren mich. Sie waren mit Kunststofffäden an mir festgebunden und reagierten panisch. Ein Vogel hackte wild auf mein Gesicht ein und verletzte mich. Er verfehlte nur knapp mein Auge. Im fertigen Film hat die Szene eine große Wucht. Aber ich spürte genau, dass es hier nicht nur um Kunst ging, sondern um Hitchcocks Rache. Er wollte mich bestrafen, terrorisieren und nahm dafür auch meine Verletzung in Kauf.
Kommentare
Zitat der Interviewerin: In Deutschland soll ein Regisseur jahrzehntelang Frauen missbraucht haben, sozusagen vor den Augen seiner Mitarbeiter.
Anmerkung: Wer war das? Der Link auf D. Wedel kann ja nicht stimmen. Es geht ja um Missbrauch von Frauen vor den Augen der Mitarbeiter des Regisseurs.
Zweite Anmerkung: Auch Journalisten haben beim Fragestellen eine Sorgfaltspflicht.
„François Truffaut wollte mich für Fahrenheit 451. Hitchcock sagte ihm, ich sei nicht verfügbar. Aber das erfuhr ich erst viel später.“
Das ist eine zusätzliche Schweinerei. Und es macht deutlich, warum Opfer von damals manchmal sehr lange brauchen, ihr Schweigen zu brechen.
Das hat mich auch sehr wütend gemacht beim Lesen eben. Das ist die gleiche Mentalität wie ein Straßenköter, der den Knochen nicht haben darf, und darauf pinkelt, damit ihn kein anderer will.
Es wird Zeit, dass solch widerliches Verhalten als das geächtet wird, was es ist - widerliches Verhalten.
Ein Genie darf gerne exzentrisch sein, den Tee nur aus einer bestimmten Tasse trinken und rechtsdrehenden Joghurt auf besonderem linksdrehenden Brot verlangen und Avocados aus Südamerika und gebügelte Unterhosen und was weiß ich für kleine Spleens haben. Aber Machtmissbrauch, Erniedrigung, Demütigung, sexuelle und andere Gewalt - NEIN. Es reicht.
Hut ab vor Tippi Hedren: "Der Film zeigt, was passiert, wenn eine traumatische Erfahrung nicht behandelt wird. Damals gab es in der amerikanischen Öffentlichkeit noch kein Bewusstsein dafür, dass ein schreckliches Erlebnis das gesamte Leben beeinträchtigen kann. Marnie war ein Durchbruch, geradezu visionär."
Dem bliebe nur hinzuzufügen, dass es heute in der breiten Öffentlichkeit immer noch fast kein Bewusstsein für die sich über Generationen hinweg erstreckenden Spätfolgen von Kriegen (und damit die in Marnie thematisierten komplexen posttraumatischen Persönlichkeitsstörungen) gibt, die von Eltern an ihre Kinder weitergereicht werden und gegen die sich die Kinder in den entscheidenden Kinderjahren überhaupt nicht wehren können. Kriege können das Selbstwertgefühl ganzer Nationen über Generationen hinweg zerstören. In dem Sinne finde ich es immer wieder faszinierend, wie viele posttraumatische Störungen, Vermeidungstechniken (der Traumatisierten und des Umfelds) Hitchcock in "Marnie" untergebracht hat. Zuletzt fiel mir eine sarkastische Bemerkung von Lil auf, die sarkastisch so etwas äußerte, wie: "Ich mag Lügner". Ein genialer Seitenhieb auf das Symptom des pathologischen Lügens bei PTBS/PTSD (Posttraumatische Belastungsstörung).