Yimas ist eine Sprache in Papua-Neuguinea. Sie wird noch von etwa 300 Personen in einem Seitental des Karawari gesprochen. Die Gemeinschaft der Yimas-Sprechenden hat irgendwann beschlossen, ihren Kindern nicht mehr ihre Sprache weiterzugeben, sondern sie von Anfang an das melanesische Pidgin zu lehren, eine reduzierte Behelfssprache, in der die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen mit den umgebenden Völkern abgewickelt werden. Ihre Sprecher lassen die Sprache bewusst sterben, weil sie – vermutlich zu Recht – davon ausgehen, dass sie dadurch die Chancen der nachfolgenden Generation im ökonomischen Wettbewerb erhöhen.
An einem Novembertag letzten Jahres hörte ich zufällig auf Deutschlandfunk Kultur, dass die deutsche Sprache in zweihundert bis dreihundert Jahren aussterben werde. Ich erinnere mich gut an diesen Morgen. Danach saß ich vor dem Schreibtisch und versuchte vergeblich, mich auf die Arbeit zu konzentrieren. Plötzlich hatte ich das Gefühl, ich schriebe einen Text, der schon im Entstehen obsolet ist. Eine Totgeburt. Büchner wurde vor zweihundertvier Jahren geboren. Goethe schrieb seinen Werther vor zweihundertvierundvierzig Jahren. Sollte es tatsächlich wahr sein? Sollte die deutsche Literatur in noch einmal zweihundertvierundvierzig Jahren lichtgeschützt im Keller eines Instituts stehen und, wie die Sprache der Yimas, nur noch für Experten entzifferbar sein?
Ich versuchte, mich zum Schreiben zu motivieren, indem ich mir sagte, dass ja bisher alle meine Romane ins Englische übersetzt wurden, sodass auch der, an dem ich gerade schrieb, den Tod des Deutschen zumindest als Übersetzung überdauern würde. Aber anstatt weiterzuarbeiten, ertappte ich mich dabei, wie ich probehalber ein paar besonders schöne Wörter und Wendungen aus meinem Text in das deutsch-englische Online-Wörterbuch eingab. Die Ergebnisse waren niederschmetternd. Nein, ich will die deutsche Sprache vor keine andere stellen. Und gewiss würden kluge Übersetzer bessere Lösungen finden als jedes Online-Wörterbuch. Und doch weiß ich aus Erfahrung, dass der Reichtum jeder Sprache gerade in ihren Absonderlichkeiten, ihren Abweichungen, ihren unnachahmlichen Konstruktionen und Wendungen besteht; gerade in dem also, was sich schwer, mitunter nicht übersetzen lässt.
Ich dachte an die Kinderlieder und Sprachspiele, die Mütter und Väter von ihren Müttern und Vätern lernen, um sie an ihre Kinder weiterzugeben. Ich dachte an die Abzählreime, die – jedenfalls war das noch bis vor wenigen Jahren so – ohne Zutun Erwachsener von Jahrgang zu Jahrgang weitervererbt werden:
Eins, zwei, drei, vier Eckstein,
alles muss versteckt sein.
Und dann der wunderbare Grammatikfehler, der, wie ich irgendwann voller Rührung feststellte, wortgetreu mitvererbt worden war:
Hinter mir und vorder mir
gilt es nicht. Ich komme!
Nachdem ich mich an diesem Morgen eine Weile vergeblich mit dem Schreiben abgemüht hatte, suchte ich die Website des Deutschlandfunks auf und fand ein Gespräch mit dem Sprachwissenschaftler Wolfgang Klein, Vizepräsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, ehemals Direktor des Max-Planck-Instituts für Psycholinguistik. Und wenn Wolfgang Klein die deutsche Sprache auch nicht für unmittelbar bedroht hielt, so hielt er es tatsächlich für möglich, dass sie in, sagen wir mal, zwei-, dreihundert Jahren ausgestorben sein könnte.
Nun war ich gerade, buchstäblich am Vortag, eingeladen worden, eine der sogenannten Dresdner Reden im Sächsischen Staatstheater zu halten. Eigentlich war ich geneigt gewesen, die Einladung abzulehnen, wenn nicht aus gutem Grund, so aus schlechtem: Mir missfällt zunehmend die Art, wie wir unsere Meinungsverschiedenheiten austragen. Unsere Gesellschaft ist polarisiert, in Lager aufgespalten, die sich jeweils selbst bejubeln und bestärken; es wird zur Kenntnis genommen, was ins Bild passt, alles andere wird ausgeblendet oder verfemt – und das gilt leider nicht nur für jene Zurückgelassenen oder Ausgegrenzten, die die historisch fatale Neigung haben, immer den Falschen zu wählen, sondern auch für das kulturelle Milieu, in dem ich mich bewege. Zu schnell wird man, sobald man gegen den Strom schwimmt, angefeindet oder in die Nähe von Leuten gerückt, mit denen man nichts zu tun haben möchte.
An deutschen Universitäten finden Vorlesungen auf Englisch statt
Aber sollte jemand, dessen Medium die deutsche Sprache ist, nicht berechtigt sein, seine Sorgen um diese Sprache zu artikulieren, ohne in den Verdacht zu geraten, dass er die "verlorenen Ostgebiete" zurückhaben will? Ich begann also ernsthaft, mich mit der These vom bevorstehenden Aussterben der deutschen Sprache zu beschäftigen. Ich recherchierte zunächst im Internet, wo man bekanntlich zu allem etwas findet, natürlich auch etwas zum Aussterben der Sprache. Nicht alles möchte man lesen. Von aussterbenden Wörtern ist oft die Rede. Es gibt angeblich sogar einen Bestseller, der davor warnt, dass "gutes Deutsch" aussterben könnte. Und natürlich gibt es jede Menge Beschwerden über die Anglizismen.
Kommentare
Meine beide Brüder haben in der Oberstufe unserer amerikanischen High School Deutsch gelernt, weil sie als Musiker von der deutschen Kultur geträumt haben. Ich fand die deutsche Aussprache hart und in den amerikanischen Filmen der 1950-60er Jahre haben Deutsche meist Nazis dargestellt. Nein, ich wollte Französisch lernen.
Ausgerechnet ich kam mit 28 Jahren nach Deutschland zu studieren. Naiv wie ich war, habe ich zu wenig überlegt, dass alles auf Deutsch unterrichtet wird. Die ersten Jahre in Deutschland waren in diesem naiven und unvorbereiteten Zustand mit meinen damals stümperhaften Deutschkenntnissen selbstverständlich sehr schwer.
Aber mir wurden während dieser Zeit Sprach-Erlebnisse zuteil, die ich nicht missen möchte. Ideen von sprachbegabten Professoren standen anschaulich als Bild im Raum! Die ewiglangen Wortzusammenstellungen, die ich anfangs so mühsam zu verstehen fand, wurden in riesige Ideenbilder transformiert. Umso mehr ich verstand desto mehr dachte ich sehen zu können, dass "die Deutschen" sich mit ihren Wörtern anders, körperlicher, verbinden, als ich es im Englischen gewöhnt war, und sie Richtung und Verlauf ihrer Ideen tief beschäftigt haben. Die eigene Körpersprache und der räumliche Ausdruck des eigenen Körpers steht – anders als im englischen Sprachraum - nicht im Vordergrund.
Nun heißt es, die Sprache formt unser Denken. Aus meiner Sicht haben die Innenbeschäftigung und -schau, die ich damals manchmal "gesehen" habe, mit der deutschen Sprache
mit der deutschen Sprache zu tun. Das Ringen um das Verstehen von Ideen scheint mir in diese Sprache gelegt zu sein. Die Wirtschaft als englischen Sprachraum mag Sinn machen, ...aber Kommunikation insgesamt auf Englisch zu führen, würde die Möglichkeiten, sich in der Ideenwelt bewegen zu können, auf jeden Fall einschränken. Die reiche Kultur der Künste und Ideen (deutsche Idealismus!) haben in der deutschen Sprache eine wichtige Heimat gefunden.
Statt zu überlegen, ob die deutsche Sprache in 200 Jahren ausgestorben sein wird, sollte Muttersprachler aus meiner Sicht ihre Sprache schätzen, weiterentwickeln und Ideen formulieren so, dass sie den Wellen aus dem kapitalistischen Raum standhalten kann.
Es ist des öfteren zu hören und lesen, daß neue Wörter aus anderen Sprachen das Deutsche bereichern und es weiterentwickeln. Doch das stimmt nicht:
1.) die neuen Wörter aus"anderen Sprachen" sind zu 99 % nur englische;
2.) mit der Infiltration des Deutschen durch das Englische wird der deutsche Wortschatz nicht erweitert, vielmehr werden deutsche Wörter einfach durch englische ersetzt.
Die extrem wachsende Dominanz des Englischen innerhalb des Deutschen - bzw. daß man sie zuläßt und sogar noch bewußt befördert - hat ganz hauptsächlich mit dem Nationalsozialismus zu tun: wer sich gegen solcherlei Sprachveränderung wehrt, wird sofort und reflexartig in die rechte Ecke gestellt und abgekanzelt. Doch was kann jemand, der sich für den Erhalt und die Vielfalt der deutschen Sprache stark macht, dafür, daß die Nazis mit ihrem verbrecherischen Tun eine solch verheerende Nachwirkung hinsichtlich alles Deutschen hatten?
Wenn wir dahin kommen, daß alle rechte Gewalt und alles rechte Denken im Rahmen der Erinnerungskultur geächtet bleiben, wir aber dennoch das spezifisch Deutsche und die deutsche Sprache achten und wertschätzen (wertschätzen heißt nicht: chauvinistisch überhöhen!), wird die deutsche Sprache überleben.
Ein politisch-weltanschaulicher Spagat, der aber von den Damen und Herren, die unser Land regieren, mutig versucht und vorgelebt werden muß - anstatt ihn unbewußt der AfD zu überlassen (die das, rein programmatisch gesehen, gar nicht kann und auch gar nicht will).