DIE ZEIT: Matin, Zahra, ihr kommt aus Billstedt, einem sozialen Brennpunkt im Hamburger Osten; Lando und Ricarda, ihr lebt in Blankenese, einem extrem wohlhabenden Viertel im Westen der Stadt. Wir wollen mit euch über Armut und Reichtum sprechen. Fühlt ihr euch arm oder reich?
Ricarda: Ich fühle mich wohlhabend, auf jeden Fall. Wir wohnen in einem Haus, ich habe mein eigenes Zimmer und auch viele andere Dinge, die meine Eltern mir ermöglichen. Mein Pferd zum Beispiel.
Matin: Pferde! Wie passend! Als wir uns überlegt haben, welche Vorurteile wir über Blankenese haben, waren Pferde ganz vorne. Die reiten doch da alle, dachten wir.
Lando: Bei Billstedt denke ich an viele Häuser mit vielen Wohnungen und einen hohen Migrationsanteil, obwohl ich dazu keine Statistiken parat habe. Ich war erst ein- oder zweimal dort, für ein Fußballspiel.
Matin: Ich war erst einmal in Blankenese, auch zum Fußballspielen. Ich erinnere mich an Villen, viel Grün und, im Gegensatz zu Billstedt, ein bisschen weniger Migration. Also nicht nur ein bisschen.
Zahra: Ich stell mir vor, dass in Blankenese größtenteils Deutsche leben. Euch beide haben wir uns mit Schuluniformen vorgestellt, Ricarda mit Rock und Lando mit Krawatte.
Ricarda: Euch haben wir uns in etwa so vorgestellt, wie ihr ausseht. Ihr habt doch beide Migrationshintergrund, oder? Nicht dass ich etwas Falsches sage.
Matin: Ja, haben wir. Meine Eltern kommen aus Afghanistan, aber ich bin in Deutschland geboren.
Zahra: Meine Eltern kommen aus dem Irak, ich bin auch hier aufgewachsen.
Ricarda: Ich unterscheide eigentlich nicht zwischen Migranten und anderen, sondern zwischen asig und nicht asig. Das hat etwas mit dem Auftreten zu tun, nicht mit dem Charakter oder der Herkunft. Auch in Blankenese gibt es viele, die sich abgrenzen wollen und Kraftausdrücke benutzen. In Billstedt stelle ich mir das noch krasser vor.
ZEIT: Du glaubst, dass es dort mehr "Asis" gibt?
Ricarda: Ja.
Zahra: Wahrscheinlich kommen die Menschen bei uns eher asig rüber.
Lando: Der Reichtum in Blankenese bekommt den Menschen oft auch nicht. In der Schule haben viele die neuesten Klamotten, bekommen mit 18 einen Kleinwagen geschenkt. Es ist schwer zu merken, wie arrogant man selbst rüberkommt, wenn das ganze Umfeld arrogant ist.
ZEIT: Bist du arrogant?
Lando: Ich glaube, dass mich manche Leute als arrogant einschätzen, wenn sie mich sehen. Wenn ich zum Beispiel am Hauptbahnhof rumlaufe, in einem teuren Mantel, dann runzelt der eine oder andere sicher die Stirn. Was würdet ihr denn denken, wenn ihr mich jetzt am Hauptbahnhof sehen würdet?
Matin: Nicht, dass du arrogant bist. Du kommst mir eher sympathisch rüber.
Zahra: Nur weil du einen teureren Mantel anhast als andere Leute, heißt das doch nicht, dass du arrogant bist. Sondern nur, dass du dir mehr leisten kannst.
Lando: Das ist spannend, wir gucken da irgendwie anders drauf. Bei uns in Blankenese hab ich manchmal das Gefühl, dass eine Canada-Goose-Jacke jemanden ausmacht. Das ist schade, aber so ist es halt. Und deswegen hätte ich jetzt erwartet, dass ihr sagt: "Wow, der hat eine teure Jacke, der muss reich sein, aber sicher ist er auch blöd."
ZEIT: Gibt es bei euch in Billstedt an der Schule Leute mit Canada-Goose-Jacken? Die sind im Hamburger Westen ein echtes Statussymbol, kosten zwischen 600 und 1.000 Euro.
Matin: Kann sein, ich weiß es nicht genau.
Ricarda: An unserer Schule sind es 50 Prozent.
Lando: Ich würde sagen 60 Prozent. Man sieht schon Fünftklässler damit.
Zahra: Ich interessiere mich nicht für Marken. Aber als ich dich gesehen habe, Lando, ist mir als Allererstes aufgefallen, dass deine Schuhe so ein bisschen...
Lando: ...dreckig sind?
Zahra: ...so ausgetreten und schmutzig.
Lando: Ich weiß, ich muss die mal wieder waschen.
Zahra: Ist mir eigentlich egal. Ich gucke eben mehr auf das Erscheinungsbild von jemandem. Aber gleichzeitig lassen schmutzige Schuhe ja nicht auf eine bestimmte Persönlichkeit schließen. Genauso wenig wie ein teurer Mantel. Wir Kinder können uns eh nicht aussuchen, aus welchem Elternhaus wir kommen, ob es da viel Geld gibt oder wenig.
Kommentare
Dieses Kopftuch-Ding ist mittlerweile echt nur noch nervend. Offensichtlich hat es nichts mit Glauben zu tun. Es ist ein Mittel der Abgrenzung.
Wenn ich un eine Apotheke oder eine Bäckerei oder zum Metzger gehe und alle Frauen dort - bis auf eine - kein Kopftuch tragen, dann betrachte ich diese eine - mit Kopftuch - auch gesondert. Sie zwingt mich quasi damit sie besonders wahrzunehmen, noch dazu, weil meist sehr aufdringliche Stoffe und Farben benutzt werden. Ich lehne nicht die Muslima ab, ich lehne die Abgrenzung ab. Darum lasse ich mich auch immer ganz bewußt und ggf. auch fordernd *nicht* von diesen Frauen bedienen. Ich bitte dann, falls mich eine Kopftuchträgerin anspricht höflich darum von einer Ihrer Kolleginnen bedient zu werden. Da Sie abgegrenzt werden will, erfülle ich ihr ihren Wunsch.
Um die Kids zu zitieren: Das finde ich ziemlich asig. Aber gut, Gesellschaftsspaltung beim Grippostadeinkauf--auch ne Aufgabe.
Ihr Verhalten klingt für mich nach Bestrafung eines eingebildeten Affronts. Man könnte es ja auch aus der Perspektive der anderen betrachten und sagen gut, da ist jemand so geprägt. Zahra erklärt zum Beispiel dass sie sich ihrer Mutter näher fühlen wollte--von Ablehnung der anderen steht da nichts, aber sich das herbei zureden rechtfertigt natürlich dann das eigene eingeschnappte Handeln.
Ich denke, Zahra wird es am schwersten haben. Sie ist zerrissen zwischen den Welten. Sie ist in Deutschland geboren aber scheint sich nicht so zu fühlen. Mit ihrer Kleidung grenzt sie sich bewusst aus und wird entsprechend abgelehnt, vulgo: ausgegrenzt. vielleicht ein Teufelskreis...
Erschreckend finde ich die Aussage, wie stark die Zunahme der Kopftuchträgerinnen in ihrem Umkreis ist. Ich lehne diese Entwicklung ab, kann da aber (natürlich) nichts machen, aber dadurch fühle ich mich mehr und mehr fremd im eigenen Land...!
Auch Angst vor den Canada Goose Jacken die scheinbar zu 60% durch reiche Eliteschulen geistern? Nein?
Spaß beiseite, dieses Interview zeigt doch in Zahra eine gereifte junge Frau, die sich über Nachfragen sehr freut und auch offensichtlich integrationswillige Eltern hat. Sofort wieder ein Überfremdungsfass daraus aufzumachen übergeht den Aspekt völlig. Angst essen Hirn auf.
Ein wirklich ganz, ganz tolles Interview, das ich mit Interesse gelesen habe. Die Antworten speziell von Lando finde ich sehr reflektiert, und alle vier scheinen sehr kritisch und individuell lebensklug zu sein. Ich stimme auch nicht mit dem vorausgehenden (und sehr voraussehbaren) Tenor einiger Kommentatoren überein dass sowieso alles beim Gleichen bleibt. Diskurs bringt uns weiter als Gesellschaft und schließt Lücken. Bei beiderseitigem Interesse könnte ZEIT ja langfristig mit den vieren in Kontakt bleiben und beobachten wie sich ihre Leben weiterentwickeln.
In jedem Fall danke für das Gespräch und bitte mehr davon!
Kann ich nur zustimmen. Erst dachte ich "Oh Gott, was kommt jetzt?" Da ich selber aus dem Hamburger Westen stamme und meine Freundin aus Billstedt kommt. Aber insbesondere die Antworten von Lando sind sehr interessant.Uebermaessiger Alkoholkonsum ist wirklich ein Problem und dem Druck dem "erfolgreichen" Vater nach zu eifern kenne ich nur zu gut. Sehr gutes Interview auch wenn der Titel vom "armen Billstedt" (gibt auch gutbuergerliche Gegenden) ein wenig irrefuehrend ist.
Wenn die kids nichts vom Leben der anderen wissen, warum reden sie dann nicht *darüber*? Ihr Leben besteht doch hoffentlich nicht nur aus "Markenklamotten, Kopftüchern und Versagensängsten"?!
Sondern aus Sport (immerhin spielen zwei der vier Fußball), Musik (mindestens passiv), Lieblingsfächern, Ätzlehrern, Nervgeschwistern, Gedanken über Umwelt, Veganismus (ob die Goose down Träger wohl vegan essen?) und was weiß ich woraus. Die Fragen im Interview bestimmen vielleicht eher das Leben der Schreiber und Leser hier?