Ein paar Jahre schon arbeitet Simon Reinders* als Assistenzarzt in der Notaufnahme, doch manchmal verschlägt es selbst ihm noch die Sprache. Da war dieser Patient mit einem Knubbel am Bein. Schon vor Wochen habe der die Unebenheit unter der Haut das erste Mal gespürt, ohne etwas zu unternehmen. Nun aber stand der Mann mitten in der Nacht vor Reinders in der Notfallambulanz einer Frankfurter Klinik und bat um Hilfe – er hatte einfach nicht bis zum nächsten Tag warten wollen. "Es herrscht ein Anspruchsdenken, das mich manchmal fassungslos macht", sagt Assistenzarzt Reinders. "Viele Patienten glauben, im Krankenhaus könne man auch nachts um drei Uhr noch eine umfassende Diagnostik machen."
Dabei lässt das Wort "Notaufnahme" eigentlich kaum Missverständnisse zu. Wer sich an die dortigen Ärzte wendet, sollte ein akutes medizinisches Problem haben, das sofort behandelt werden muss. Dies ist aber bei längst nicht allen "Not-Patienten" der Fall, wie eine Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf zeigt: Etwa die Hälfte der Patienten, die eine Notfallambulanz in einer Klinik besuchen, stufen die Behandlung selbst nicht als dringlich ein. 35 Prozent hatten ihre Symptome schon drei Tage oder länger. Sie hätten also in der Zwischenzeit gut zum Hausarzt gehen können.
Für die Notfallpraxen ist das ebenso ein Problem wie für viele Patienten. Die Praxen sind häufig überlaufen und können den Andrang nur schwer bewältigen; Patienten, die hier tatsächlich richtig sind, müssen länger warten, weil leichte Fälle die Zeit für die medizinisch wirklich dringenden Fälle rauben.
Dieses Missstands hat sich nun der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR) angenommen. Ferdinand Gerlach, Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin an der Uni Frankfurt und Vorsitzender des SVR, sieht das Grundproblem wie folgt: "Die niedergelassenen Ärzte und die Klinikmedizin leben im Grunde in zwei Welten. Das gilt für die Abrechnung, für die Abläufe, für die Verwaltung, für alles." Und eben auch für die Patienten. Am Dienstag hat der SVR nun sein Gutachten veröffentlicht. Die Lösung lautet folgerichtig: Die Trennung aufheben, die beiden Sektoren zusammenlegen.
Bereits heute gibt es Ansätze, die in diese Richtung gehen. Ein Beispiel sind die sogenannten Portalpraxen, bei denen die hausärztliche Bereitschaftspraxis im Krankenhaus oder in seiner unmittelbaren Nähe untergebracht ist. Das Modell wird schon an einigen Orten umgesetzt, die Erfahrungen sind bislang sehr positiv.
Doch dem neuen Gutachten geht das nicht weit genug. Das Problem beginnt früher: bei den Zuständigkeiten. Die sind heute zwar gut geregelt. Wer nicht warten will oder kann, bis die normalen Arztpraxen geöffnet haben, kann in eine hausärztliche Bereitschaftspraxis gehen – unter der Woche zwischen 18 und 22 Uhr, am Wochenende zwischen 8 und 22 Uhr. Wo man die nächste Notfallpraxis findet, verrät die bundesweite Hotline 116 117. Für die übrigen Zeiten steht die Ambulanz im Krankenhaus bereit – für Notfälle wohlgemerkt.
Die Patienten allerdings halten sich nicht an diese Vorgaben. Zum einen wissen viele nichts von der Telefon-Hotline und den Bereitschaftspraxen. Laut der Hamburger Studie ist das Konzept mehr als der Hälfte der Patienten unbekannt. Zum anderen gehen viele Kranke schlicht den einfachsten Weg – und dieser führt sie eben zum nächsten Krankenhaus.
Die fehlgeleiteten Patientenströme beeinträchtigen die im Prinzip gute Qualität der Versorgung. Mit 4,1 praktizierenden Ärzten je 1000 Einwohner belegt Deutschland international einen der Spitzenplätze. Auch 8,1 Krankenhausbetten pro 1000 Einwohner gibt es nur in wenigen Ländern der Welt. Patienten in Deutschland umgibt ein engmaschiges Netz gesundheitlicher Betreuung. Doch gerade hier liegt das Problem: Über die Jahrzehnte ist das System so kompliziert geworden, dass sich Patienten wie Ärzte nur noch schwer darin zurechtfinden. Deshalb empfiehlt das Gutachten des SVR, die beiden Nummern – 116 117 und den Notruf 112 – in einem ersten Schritt künftig in einer Leitstelle zu koordinieren.
In der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland (UPD) rufen ständig Patienten an, die wegen unklarer Verantwortlichkeiten nicht mehr weiterwissen. Johannes Schenkel, Ärztlicher Leiter der UPD, erinnert sich an einen Fall vom Vortag. Ein älterer Herr hatte vom Neurologen ein Medikament verschrieben bekommen. Vor der Einnahme sollte er jedoch noch mal seinen Hausarzt aufsuchen. Nur der kenne schließlich die anderen Medikamente, die der Patient einnehmen müsse, so die Aussage des Neurologen. "Der Hausarzt aber verwies den Mann zurück an den Facharzt", berichtet Schenkel. Begründung: Bei speziellen neurologischen Medikamenten müsse der Neurologe die Frage der Verträglichkeit mit anderen Arzneien klären. Der Patient war verwirrt. Dabei gibt es auch hier eine eindeutige Regelung: Wer ein Medikament verordnet, muss prüfen, welche anderen Arzneimittel der Patient einnimmt.
Kommentare
Wenn die Allgemeinärzte keine Patienten mehr aufnehmen und an die Notaufnahme verweisen, was soll der Patient dann tun?! Das Problem liegt nicht beim Patienten, sondern im System.
Nein. Das Problem liegt zu einem großen Teil auch im Anspruchsdenken der Patienten begründet. Wer meint, wegen jeder Nichtigkeit zum Arzt gehen zu können nur weil es ihn nichts kostet, verstopft die Kapazitäten für die wirklichen Ernstfälle.
weg von der einzelnen Praxis und zurück zur Polyklinik.
Es wäre tatsächlich sinnvoll, wenn der Staat einfach Ärzte anstellen würde anstatt jeden Hausarzt sein wirtschaftlich eigenes Süppchen (einschließlich eigener Bürokräfte, Toiletten usw.) kochen zu lassen.
Ein Arzt, der einfach einen Stundenlohn bekommt, hat auch keine wirtschaftlichen Anrzeize mehr im Hinterkopf sondern kann einfach das tun, womit er in gegebener Zeit am meisten hilft (insbesondere hat er kein Interesse, Patientenkontakte so zu steuern, dass der Patient möglichst in mehreren Quartalen hintereinander vorbeikommt anstatt zweimal im gleichen Quartal und dafür im nächsten nicht).
aus dem artikel:“Es herrscht ein Anspruchsdenken, das mich manchmal fassungslos macht“
eine mögliche lösung ist, dem anspruchsdenken der versicherten entsprechende leistungen ohne wenn und aber zu erbringen und diese dann direkt abzurechnen (wenn es sich nicht um einen echten notfall handelt), natürlich zu einem sehr hohen satz.
dann kostet die vier-wochen-beinbeule eben 300€.
Ganz sicher gibt es solche Fälle. Und wer dort arbeitet, und ein bis zwei solcher Fälle am Tag erlebt, verliert vermutlich den Glauben an die Menschheit.
Aber die anderen 10, die wirklich einen Arzt brauchen gibt es halt auch, und für die braucht es Lösungen.
"Die Lösung lautet folgerichtig: Die Trennung aufheben, die beiden Sektoren zusammenlegen. "
->richtig, die einzig logische Konsequnez kann deher nur lauten.
"Wir empfehlen integrierte Notfallzentren, die auch in der Klinik untergebracht sind, aber bei denen es keine Trennung mehr gibt zwischen niedergelassenen Ärzten und Klinikärzten. Sie sollen eng zusammenarbeiten und Geräte, Personal sowie Honorare gemeinsam verwalten."
->eben. das, wäre die einzig sinnvolle Lösung für das im Artikel behandelte Problem.
Viel Glück, Standhaftigkeit und dickes Fell dem, der es versuchen sollte, dieses umzusetzen.
Sie/er wird es brauchen!
Da könnte Spahn sich mal beweisen! Wenn er das schafft, dann wäre ich sogar bereit seine Wahl zum BK zu unterstützen.
...
Ok, vielleicht nicht unterstützen. Aber zumindest bliebe ich neutral...